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Die Grenze

Eine Reise rund um Russland, durch Nordkorea, China, die Mongolei, Kasachstan, Aserbaidschan, Georgien, die Ukraine, Weißrussland, Litauen, Polen, Lettland, Estland, Finnland, Norwegen sowie die Nordostpassage

AutorErika Fatland
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl600 Seiten
ISBN9783518761649
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR

Die Journalistin Erika Fatland reist entlang der schier endlosen Grenze Russlands. Von Nordkorea über den Kaukasus, das Kaspische und das Schwarze Meer. Durch die Ukraine und die Staaten Osteuropas geht es bis zur russisch-norwegischen Grenze - nach 14 Staaten und über 20 000 Kilometern stößt sie auf die Arktis. Doch hier endet die Reise nicht etwa.
Von der tschuktschischen Hauptstadt Anadyr aus macht sich Erika Fatland im »Arktischen Sommer« auf die Reise entlang der Nordostpassage, vorbei an Franz-Josef-Land und Sewernaja Semlja bis nach Kirkenes - und hat damit das flächenmäßig größte Land der Welt einmal umrundet.

Erika Fatland, Autorin des Bestsellers Sowjetistan, reist über 20 000 Kilometer entlang der russischen Grenze durch 14 Länder und begegnet dort den unterschiedlichsten Menschen - Taxifahrern, Geschichtsprofessoren, Rentierhirten und anderen. Sie hört zu, stellt Fragen, sammelt Geschichten. So entstehen schillernde Porträts dieser eigenwilligen Menschen und Länder. Aber auch ein Porträt des weltpolitischen Giganten - aus der Sicht seiner Nachbarn.



<p>Erika Fatland, 1983 geboren, studierte Sozialanthropologie und spricht acht Sprachen. Ihre von Kritik und Lesern hochgelobten Bücher sind in über 15 Sprachen erschienen und wurden u. a. mit dem Norwegischen Buchhandelspreis und dem Buchbloggerpreis ausgezeichnet. Erika Fatland lebt mit ihrem Mann in Oslo.</p>

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Leseprobe

Die Kunst, sich zu verbeugen, ohne sich zu verbiegen


Von der Aussichtsplattform hatten wir freie Sicht auf China und Russland. Auf der russischen Seite gab es nichts. Nicht einen Zaun, nicht einen Wachturm, keine Häuser oder bestellte Äcker, nur eine rostige Eisenbahnbrücke und eine flache, diesige Landschaft. Der Tumen, der Fluss, der die Grenze zwischen Nordkorea und Russland bildet, ist weder sonderlich tief noch breit. Es sah aus, als sei es möglich, auf die andere Seite zu waten.

Nordkoreas Grenze zu Russland ist die kürzeste von allen, knapp neunzehn Kilometer lang, dennoch gibt es wenige Länder, auf die Russland in der jüngeren Geschichte größeren Einfluss hatte als ausgerechnet auf Nordkorea. Kim Jong-un wäre heute nicht Diktator, wenn es Stalin nicht gegeben hätte. Bis zum Zweiten Weltkrieg unterstand Korea der Oberherrschaft Japans. 1945 wurde die Halbinsel zwischen den Siegermächten USA und Sowjetunion geteilt. Stalin brauchte einen loyalen lokalen Herrscher in dem neuen Vasallenstaat, die Wahl fiel auf Kim Il-sung, der die Kriegsjahre in einem sowjetischen Militärlager verbracht hatte. Kim Il-sung erwies sich jedoch keineswegs als gehorsame Marionette, die alles abnickte, was Moskau vorgab. Statt der Politik der Sowjetunion zu folgen, gingen Kim Il-sung und seine Nachfolger eigene Wege. Die Familie Kim entwickelte sich zu einer Dynastie brutaler Alleinherrscher, die einen Personenkult betreiben, der mit nichts anderem in der heutigen Zeit vergleichbar ist. Die Kims sind die Gottkönige dieser merkwürdigen, isolierten Blase, zu dem dieses rückwärtsgewandte Land sich entwickelt hat.

Der Busfahrer fuhr in Richtung chinesischer Grenze, die zweiwöchige Gruppenreise in der schlimmsten Diktatur der Welt näherte sich ihrem Ende. Ich war als Touristin getarnt eingereist, als Beruf hatte ich Empfangsdame in der Familienschlachterei angegeben. Ein Journalistenvisum für Nordkorea zu bekommen, ist ein zeitaufwendiger und umständlicher Prozess, außerdem dürfen Journalisten in der Regel nur Pjöngjang besuchen. Ich wollte aber so viel wie möglich sehen.

Dank des dichten und durchchoreographierten Tagesprogramms der Korean Tourist Company, der staatlichen nordkoreanischen Touristenagentur, bekam ich tatsächlich viel zu sehen. Ich war im Süden und im Norden, ich besuchte Revolutionsmuseen, Riesenstatuen und unzählige Schulvorstellungen, aber auch Orte und Städte, die erst seit kurzem dem Tourismus offenstehen. Obwohl alles, was wir zu sehen bekamen, einer exakten Regie unterworfen war und die Guides nie mehr als wenige Meter von uns entfernt standen, war die Regie an sich hin und wieder entlarvend. Und manchmal zeigte sie sogar Risse. Und je weiter wir uns von Pjöngjang entfernten, desto größer wurden diese Risse.

Nun mussten wir nur noch unsere Pässe zurückbekommen, die Miss Ri zwei Wochen zuvor eingesammelt hatte, um die Blase wieder zu verlassen.

»Lassen Sie mich Sie zu allererst in Korea herzlich willkommen heißen!«, sagte die junge Frau, die sich ganz vorn in den Bus gestellt hatte. »Mein Name ist Miss Ri, und ich bin Ihre Führerin in Pjöngjang. Mein Kollege, Mister Kim«, sie nickte einem ernst aussehenden Mann mittleren Alters zu, »und ich arbeiten zusammen. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, können Sie mich oder Mister Kim fragen.«

Ohne dass sie einen Moment aufhörte zu lächeln, zählte Miss Ri alles auf, was wir nicht tun dürften:

»Sie dürfen niemals Menschen fotografieren, ohne vorher gefragt zu haben, und Sie dürfen niemals, unter keinen Umständen, Soldaten fotografieren. Wenn Sie Fotos der Statuen von Kim Il-sung oder Kim Jong-il machen wollen, müssen Sie darauf achten, dass Sie die ganze Statue auf das Bild bekommen, nicht nur Teile davon. Wenn wir sagen, dass keine Fotos gemacht werden dürfen, dann dürfen Sie keine Fotos machen, haben Sie verstanden? Zur Sicherheit ist es immer am besten, wenn Sie uns zuerst fragen. Mister Kim und ich werden stets in der Nähe sein. Bitte nehmen Sie freundlicherweise Ihre Pässe zur Hand, ich werde gleich durch den Bus gehen, um sie einzusammeln.«

Sie lachte herzlich, als sie die Mienen einzelner Touristen sah, obwohl sie diese Reaktion schon hundert Mal gesehen haben musste.

»Nur die Ruhe, Sie werden Ihre Pässe bei der Abreise zurückbekommen! Aber solange Sie in Korea sind, ist es am besten, wenn ich darauf aufpasse. Sie könnten sie ja verlieren, und dann hätten wir alle große Probleme.«

Einige Touristen protestierten vage, aber Miss Ri überhörte sie und schnappte sich lächelnd die Pässe. Die Straßen, durch die wir vom Flugplatz nach Pjöngjang fuhren, waren dunkel und leer. Regelmäßig kamen wir an üppig beleuchteten gigantischen Porträts von Kim Il-sung und seinem Sohn Kim Jong-il vorbei, Nordkoreas ersten Führern. Die beiden Despoten erleuchteten im wahrsten Sinne des Wortes die Nacht. Ansonsten war es vollkommen schwarz, aber nicht so entvölkert, wie ich zunächst gedacht hatte. Die Leute fuhren Fahrrad oder liefen durch die Dunkelheit, ausgerüstet mit Taschenlampen, die einen schwachen Lichtkegel auf die Fußwege warfen. Wenn man genau hinsah, waren überall Menschen.

»Sie dürfen nicht allein hinausgehen«, ermahnte uns Miss Ri weiter. »Die Koreaner sind Ausländer nicht gewohnt, und sie sprechen kein Englisch; wenn Sie also allein herumgehen, könnten Sie Probleme bekommen. Wenn Sie nach dem Tagesprogramm noch ein bisschen frische Luft schnappen wollen, können Sie auf dem Parkplatz vor dem Hotel spazieren gehen. Seien Sie unbesorgt, Sie werden sich nicht langweilen, das Hotel bietet viele Aktivitäten!«

Aufgrund der breiten Boulevards und der hohen Wohnblöcke, in keinem brannte Licht in den Fenstern, vermutete ich, dass wir bereits im Zentrum sein mussten. Rechts von uns lag ein großer offener Platz. Auf der Erde saßen dicht an dicht Kinder in langen, geraden Reihen, es mussten Tausende sein. Alle trugen weiße Blusen und dunkelblaue Hosen oder Röcke, und alle saßen ganz still in der Dunkelheit.

»Sie üben für den Parteitag am 10. Oktober«, erklärte Miss Ri.

»Dürfen wir fotografieren?«, erkundigte sich Heinrich, einer der Deutschen in der Gruppe.

Miss Ri nickte. Eifrig klickten Kameras und Mobiltelefone.

»Sie müssen übrigens Ihre Uhren umstellen«, erinnerte uns Miss Ri. »Im August, vor wenigen Wochen erst, haben wir unsere eigene Zeit bekommen; wir sind jetzt nicht länger in derselben Zeitzone wie die japanischen Imperialisten. Es ist jetzt 20:55 Uhr koreanischer Zeit, eine halbe Stunde vor China.«

Das Hotel, in dem wir wohnen sollten, lag praktischerweise auf einer Halbinsel, mitten im Fluss Taedong, der Pjöngjang in zwei Hälften teilt. Wenn jemand auf die Idee käme, die Regeln zu brechen und sich auf eigene Faust in die Stadt zu begeben, musste er es erst einmal schaffen, sich unbemerkt über die breite, aber wenig befahrene Brücke zu stehlen, die ins Zentrum führt.

»Das Hotel hat vier Sterne, siebenundvierzig Etagen und tausend Zimmer, und auf dem Dach gibt es ein Restaurant, das sich unablässig dreht«, informierte uns Miss Ri begeistert, als wir auf den Parkplatz bogen, der voller Touristenbusse stand.

Wir wurden zur Rezeption geleitet und dann in einen enormen Speisesaal geschleust, wo Fisch, lauwarmer Reis und nordkoreanisches Bier serviert wurde. Ich aß ein paar Happen, bevor ich zum Aufzug wankte, bettreif nach einer fast achtundvierzigstündigen Reise.

Das Hotelzimmer war in verschiedenen Nuancen der Farbe braun gestrichen und roch heftig nach Schimmel und feuchtem Beton. Nur eine der Lampen funktionierte, eine wacklige Stehlampe mit schiefem Schirm. Unter der Decke surrte ein kleines Bataillon Mücken und Motten. Ich blickte einen Moment auf die Stadt. Abgesehen von dem einen oder anderen erleuchteten Monument war die Millionenstadt vollkommen finster. Ich hatte das Gefühl, in einer Kriegszone mit Verdunkelungsbefehl gelandet zu sein. Aus alter Gewohnheit checkte ich...

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