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Die natürliche Erziehung in Jean-Jacques Rousseaus 'Émile' zwischen Natur und Kultur

AutorEva Bräutigam
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl68 Seiten
ISBN9783656819875
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Pädagogik - Allgemein, Note: 1,0, Universität Koblenz-Landau (Erziehungswissenschaft), Sprache: Deutsch, Abstract: Jean-Jaques Rousseau entwirft in seinem Roman 'Émile ou de l'Éducation' von 1762 das Programm einer natürlichen Erziehung. Im Anschluss an seine beiden kulturkritischen Discourse baut sich auch der Émile vor der für Rousseau grundlegenden Antinomie von guter idealisierter Natur und depravierter Kultur auf. In der Analyse des Programms einer Erziehung gemäß der Natur zeigt sich dieses Spannungsverhältnis, und es tritt deutlich eine kulturkritische Perspektive hervor. Jedoch klingt bei genauerer Betrachtung des pädagogischen Konzepts eine zweite, etwas subtilere Bedeutungsebene an: die systematische Vorbereitung auf ein kulturelles Leben verbunden mit einer sich stetig entwickelnden Hinwendung zu Kultur und Gesellschaft. Somit belässt es Rousseau nicht bei einem unüberwindbaren Gegensatz, vielmehr wird über den Weg der Erziehung eine Vermittlung von Natur und Kultur angestrebt und eine Entwicklung aufgezeigt, an deren Ende der natürliche Mensch stehen soll.

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2. Kapitel:  Die Grundzüge einer natürlichen Erziehung


 

Schon zu Beginn des ersten Buches lässt Rousseau keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Mensch einer Erziehung bedarf: „Was uns bei der Geburt fehlt und was wir als Erwachsene brauchen, das gibt uns die Erziehung.“ (Rousseau 1998: 10) Die natürliche Erziehung muss aber eine Erziehung gemäß der Natur sein, bei der die Natur die Lehrmeisterin des Kindes ist. Im Folgenden sollen wesentliche Elemente dieser natürlichen Erziehung dargestellt werden.  

 

2.1 Die negative Erziehung


 

Der Begriff der negativen Erziehung stellt einen Zentralbegriff der Rousseauschen Pädagogik dar. Seine Vielschichtigkeit und Undeutlichkeit wurde Anlass zu zahlreichen Diskussionen (siehe Röhrs 1957: 174). Daher sollen zunächst einzelne Bedeutungsschichten des Begriffes herausgearbeitet werden. Danach erfolgt eine Einordnung des Begriffes in das Konzept der natürlichen Erziehung. An den wenigen Stellen, in welchen Rousseau im Émile das Wesen seiner natürlichen Erziehung näher beschreibt, betont er immer wieder deren scheinbar passiven Charakter. So führt er bereits zu Beginn des ersten Buches, bei der Frage, was man für die Erziehung eines natürlichen Menschen tun müsse, aus: „Zweifellos viel: nämlich verhindern, dass etwas getan wird.“ (Rousseau 1998: 14) Insbesondere die erste Erziehung in der eigentlichen Kindheitsphase solle von negativer Natur sein: „Die erste Erziehung muß also rein negativ sein. Sie darf das Kind nicht in der Tugend und in der Wahrheit unterweisen, sondern sie muß das Herz vor Laster und den Verstand vor Irrtümern bewahren. […] Ihr habt mit Nichtstun begonnen und endet mit einem Erziehungswunder.“ (ebd.: 72–73) Aber besteht die natürliche Erziehung tatsächlich in einem pädagogischen Nichtstun? Teilweise wurde der Begriff der negativen Erziehung so interpretiert und von der sogenannten Antipädagogik in ein Konzept einer freien Entwicklung des Kindes ohne jegliche pädagogische Einwirkung umgedeutet. Hierbei wurde Rousseau insoweit missverstanden, da er nicht beabsichtigte, auf pädagogische Maßnahmen zu verzichten. Es ging ihm erst einmal darum, ein anderes Verständnis von pädagogischer Einwirkung zu fordern (siehe Schäfer 2002: 92–93).

 

    In dem Begriff der negativen Erziehung tritt demnach zunächst Rousseaus kulturkritische Sichtweise hervor. Die geforderte Negativität beinhaltet zuerst einmal das Ziel, alle Einflüsse der verderbten Kultur und Gesellschaft vom Kind fernzuhalten, sodass es sich in ländlicher Abgeschiedenheit gemäß der Natur entwickeln kann (vgl. Forschner 1977: 185–186). Die Bewahrung der natürlichen Güte des Kindes, auf welche die natürliche Erziehung ausgerichtet ist, erfordert daher einen Rückzug in die natürliche Umgebung, um das Kind vor den schädlichen Einflüssen der entarteten Kultur und Gesellschaft zu schützen (siehe Jimack 1983: 47).     

 

    Des Weiteren verbirgt sich hinter dem Begriff der negativen Erziehung Rousseaus heftige Ablehnung der traditionellen, mithin auf direkte Einwirkungen abzielenden, positiven Erziehung. Er kann folglich auch sozusagen als konzipierter Gegenbegriff zur konventionellen Erziehung gesehen werden. So übersteigert Rousseau seine Ablehnung dieser Erziehung mit den Worten: „Tut das Gegenteil vom Üblichen und ihr werdet fast immer das Richtige tun.“ (Rousseau 1998: 73)

 

    Demgemäß darf sich die natürliche Erziehung um keinen Preis an der kulturellen und gesellschaftlichen Praxis der üblichen Erziehung orientieren. Rousseau wendet sich gegen diese traditionellen Erziehungsvorstellungen, da sie bereits von klar formulierten gesellschaftlichen Zielvorstellungen ausgehen und die Kinder zu früh darauf verpflichten (vgl. Kraft 1997: 92). Ebenfalls kritisiert er die gängigen Erziehungsmethoden wie direkte Lenkung, Belehrung, Beschämung und Bestrafung (vgl. v. Hentig 2003: 45).

 

    Die Ablehnung der positiven traditionellen Erziehung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mensch für Rousseau durchaus einer Erziehung bedarf. Seine natürliche Erziehung stellt insoweit nur einen Gegenentwurf zur klassischen Erziehung dar. In der natürlichen Erziehung soll nun der Zögling gemäß der Natur und nur durch die Natur als Lehrmeisterin erzogen werden (vgl. Rousseau 1998: 104). Alle pädagogischen Maßnahmen haben sich an diesem Prinzip zu orientieren. Dies erfordert vom Erzieher hohe Anstrengungen und ein diffiziles und bedachtes Vorgehen, Rousseau weist folglich ausdrücklich auf die Schwierigkeiten dieser Erziehung hin: „Ich predige dir, mein junger Erzieher, eine schwere Kunst: Kinder ohne Vorschriften zu leiten und durch Nichtstun alles zu tun.“ (ebd.: 104)

 

    Die schwere Kunst besteht nun darin, dass die Erziehung dem Kind in allen Bereichen in der Gestalt der Natur erscheinen muss. Demnach darf es sozusagen überhaupt nicht merken, dass eine Erziehung durch einen Erzieher stattfindet (vgl. Schäfer 2002: 94). Dies bedarf einiger Vorkehrungen, sodass zunächst die Gegenstände der Erziehung geordnet werden müssen. Zu Beginn des ersten Buches nennt Rousseau die drei Erzieher des Menschen: „Die Natur oder die Menschen oder die Dinge erziehen uns. Die Natur entwickelt unsere Fähigkeiten und unsere Kräfte; die Menschen lehren uns den Gebrauch dieser Fähigkeiten und Kräfte. Die Dinge aber erziehen uns durch die Erfahrung, die wir mit ihnen machen, und durch die Anschauung.“ (Rousseau 1998: 10) Zwar weist Rousseau ausdrücklich darauf hin, dass nur das Zusammenwirken dieser drei Elemente zu einer gelungenen Erziehung führt, jedoch erfordert die naturgemäße Erziehung, dass dem Zögling bis zum Eintritt in das Jünglingsalter lediglich die Natur und Dinge als Erzieher erscheinen (vgl. Rang 1959: 339).

 

    Émiles Lehrer ist daher ausschließlich die Natur, denn die Dinge verkörpern für Rousseau das Prinzip der Natürlichkeit und erscheinen auch dem Kind als Ausdruck der Natur (vgl. Röhrs 1957: 177). Der Erzieher verschwindet quasi hinter dieser Naturkulisse (vgl. Rang 1959: 339). Die geforderte Natürlichkeit der Erziehung bestimmt auch die Art der pädagogischen Einwirkungen. Sie müssen dem Kind ebenfalls natürlich erscheinen, d.h. nicht durch den Erzieher sichtbar intendiert. Dies kann nur durch eine indirekte Lenkung und Steuerung erfolgen, so bezeichnet Rousseau seine Erziehung auch als „inaktive Erziehung“ (Rousseau 1998: 101). Die Aufgabe des Erziehers besteht dann darin, dem Kind geeignete natürliche Erfahrungssituationen zu arrangieren und vorzubereiten, in welchen das Kind vordergründig in, durch und mit der Natur lernt. Die positive Wirkung dieser Erziehung richtet sich demnach auf das gesteuerte situierte Auslösen kindlicher Selbsttätigkeit, welches zu Lernprozessen führt. Dabei spürt das Kind den Erziehungscharakter nicht, denn die Situationen erscheinen ihm durchweg natürlich (vgl. Forschner 1977: 188; Röhrs 1957: 178).

 

    Nach Rousseau wird der Gang der Natur durch diese Erziehung nicht gestört, sondern erst zur Entfaltung gebracht. Es handelt sich zwar um ein künstliches Hervorbringen, aber nicht in dem Sinne eines positiv gesetzten Machens. Die Regelung der Natur besteht darin, dass der Erzieher optimale Bedingungen schafft, unter denen sich die Natur selbst regeln kann (siehe Broecken 1974: 151). Dabei darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, in der natürlichen Erziehung sei es dem Kind frei überlassen, welche Dinge es lernen möchte, und Rousseau betont explizit, dass der Erzieher stets Herr des Geschehens bleibt: „Aber es darf nur das wollen, was ihr wünscht, daß es tue. Es darf keinen Schritt tun, den ihr nicht vorausbedacht hättet; es darf nicht den Mund öffnen, ohne daß ihr wüßtet, was es sagen wird.“ (Rousseau 1998: 105)

 

    Das Kind lebt also in einem Zustand der „wohlgeordneten Freiheit“ (ebd.: 71), denn obwohl es keine direkten Belehrungen erfährt, sind seine natürlichen Erfahrungen durchaus gelenkt und gesteuert.

 

    Das künstliche Arrangieren von natürlichen Situationen, sowie die gut inszenierte Freiheit des Kindes in Rousseaus Konzeption der natürlichen Erziehung, wurden stark kritisiert und in Frage gestellt. So sei darin ein kompliziertes System von Täuschungen und sorgfältig berechnenden pädagogischen Kunstgriffen zu sehen (siehe Cassirer 1975: 67). Die natürliche Erziehung habe durch die zwar indirekte, aber dennoch vollständige Steuerung sogar den Charakter einer totalitären Erziehung, da sie versuche, alle Sicht- und Handlungsweisen des Kindes zu determinieren (vgl. Schäfer 2002: 95). Auch könne man an die Auffassungsgabe des Zöglings nicht allzu große Anforderungen stellen, wenn er diese Scheinfreiheit und die für ihn inszenierte komödienartige Naturkulisse nicht durchschaue (siehe Klemperer 1966: 144). Abschließend lässt sich sagen, dass Rousseau mit der Idee einer negativen oder inaktiven Erziehung eine Erziehungsform aufzudecken versucht, die es erlaubt, das Kind gemäß der Natur zu erziehen und auf diesem Weg seine natürliche Güte zu bewahren. Die natürliche Erziehung hat daher primär einen bewahrenden Charakter. Rousseau ging davon aus, dass man dafür die Natur nicht einfach walten...

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