Im Gegensatz zu Medizinen auf der Basis historischer fernöstlicher Philosophien ohne praktischen Gegenwartsnutzen, bestehen die Indische und die Traditionelle Tibetische Medizin (TTM) als einzige weiterhin innerhalb unverändert gültiger Philosophien und Religionen definierter Kulturmorphologien. Unterschiedliche Bewertung erfährt in diesen vor allem das Individuum, das traditionell erklärte Ziel jeglicher Medizin.
In der westlichen Philosophie ist die Stellung des Ich als Träger der seelisch geistigen Vorgänge und als Persönlichkeitskern des Menschen unter christlich-abendländischer Realdefinition fixiert.
Im Hinduismus entspricht der Wesenskern des menschlichen Individuums der Weltseele.
Im Buddhismus besteht eine hiervon abweichende Wertung des Ich als eine aus und für sich existierende Einheit ohne Bezug zur restlichen Welt und somit als eine Illusion.
Im Folgenden wird eine signifikante Auswahl von Begrifflichkeiten zum Verständnis des Buddhismus schlechthin vorgestellt. Dies gilt ebenso für den Vairayana, der als esoterischer Buddhismus von der inneren Entwicklung des Buddhismus abweicht und mit seiner Betonung magischer Praktiken und des Yoga als Bezugsgefüge der Tibetischen Medizin gilt.
Für den besseren Überblick wurde nicht, wie sonst üblich, im konsekutiven Sinngehalt als Fließtext geschrieben. Die aufgeführten Begriffe und Definitionen stehen in ausschließlich alphabetischer Reihenfolge am Innenrand und lassen sich somit als Stichwörter zum schnelleren Auffinden nutzen.
1.1
Anatman Der Anatman (Nicht-Selbst) ist die Lehre vom Nicht-Vorhandensein
eines permanenten, autarken Selbst. Sie steht in Beziehung zu der vom
bedingten Entstehen (s. 1.27 Leere), wonach sich jedes Sein in
Konditionalabhängigkeit von einem anderen Sein befindet. Daher kann
kein unabhängiger Wesenskern bestehen und es deshalb auch kein Atman
(Selbst) als permanente Ich-Einheit geben. Diese Erkenntnis ist jedoch
dem Menschen als Ausdruck seiner grundeigenen Unwissenheit verstellt;
hieraus resultiert seine zentrische Positionierung des Ichs mit der sich
daraus ableitenden Perspektive der Wirklichkeit (s.1.41 Realität,
buddhistische) und unterhält den Dualismus (s. 1.19 Dualismus) eines
dauerhaften Ich und eines dauerhaften Seins. Daher konzentrieren sich
die Methoden zur Erlangung der Befreiung (s. 1.25 Karma) darauf, den
Glauben an ein Ich als das wesentliche Hindernis für die Verwirklichung
des Nirwana (s. 1.39 Nirwana) auszuräumen.
Der Anatman ist im Hinayana (s. 1.22 Hinayana-Buddhismus, s. 1.16
Dharma) verankert, in der Ablehnung des Vorhandenseins einer
permanenten Wesenhaftigkeit gehört er zusammen mit dem Karma (s.
1.25 Karma), der Wiedergeburt (s. 1.42 Reinkarnation) sowie dem
Nirwana (s. 1.39 Nirwana) zum Grundverständnis der buddhistischen
Lehre.
Der Begriff Anatman wendet sich gegen die hinduistische Auffassung,
wonach der Atman als Einzelseele das Prinzip des Lebens darstellt und
als das einzig wahre Wesen aller Dinge mit dem Brahman, der Weltseele
korrespondiert. Atman gilt im Hinduismus als unvergängliche Substanz,
die in den Wiedergeburten durch die Körper wandert.
Im Mahayana (s. 1.29 Mahayana-Buddhismus) ist Anatman ausgetauscht
gegen Asvabhavata (Nicht-Eigensein), in Negation der Existenz
eines ewig einheitlichen Selbst als autarker Wesenskern zugunsten der
Nichtsubstanzialität des Ich. Die Wesenheit des Menschen stellt eine
vergängliche und veränderliche, daher leidhafte empirische
Persönlichkeit dar, da er lediglich aus einer unbeständigen, ständig
wechselnden Kombination mehrerer Faktoren besteht (s. 1.17 Leere).
Diese entsprechen als 5 Ansammlungen (s. 1.2 5 Ansammlungen) den
Wirklichkeitsbereichen, deren Zusammenwirken alle anderen Ebenen
koordiniert und hierüber den Menschen bestimmt:
1. phys. Körper 2. Gefühl 3. Wahrnehmung
4. Geistesregung 5. Bewusstseinskraft
Das Prinzip des Anatman in seiner Prägung durch diese 5 Skandhas
artikuliert sich in der Lehre vom Konditionalnexus (sktr.:
pratityasamutpada) (s. 1.27 Leere) durch die 12-gliedrigen Kette des
Entstehens, in der jedes Glied die Informationen aller anderen Glieder in
sich trägt und somit den Kreislauf der Wiedergeburten prägt (s. 1.38
Nidana, s. 1.42 Reinkarnation).
Demnach ist der Mensch eine Kombination aus fluktuierenden sich
ständig erneuernden Elementen und prozessualen Abläufen, das sich
darstellende Selbst ist daher instabil und nicht real. In seiner Verbindung
aus physischen und geistigen Energien ist er nur empirisch, jedoch nicht
metaphysisch bestimmbar (s. 1.35 Mensch, buddhistischer, s. 1.41
Realität, buddhistische).
Das Nicht-Selbst ist in seiner Unpersönlichkeit eines der 3 Merkmale
alles Seienden (skrt.: trilakshana) (s. 1.21 Erleuchtung), neben der
Vergänglichkeit und der Leidhaftigkeit.
Die Vorstellung der Wesenslosigkeit bleibt im Hinayana (s. 1.22
Hinayana-Buddhismus) auf die Persönlichkeit beschränkt, während sie
im Mahayana (s. 1.29 Mahayana-Buddhismus) alle anderen
Lebensumstände mit einbezieht. Dieses Fehlen einer Selbstnatur (skrt.:
svabhava) wird hier mit leer (skrt.: shunya) bezeichnet (s. 1.27 Leere).
Historisch galt die Lehre vom Nicht-Selbst eher als eine
heilpädagogische Maßnahme, denn als eine philosophische Doktrin,
zumal sich Buddha Shakyamuni (s. 1.12 Buddha Shakyamuni) niemals
eindeutig hierzu geäußert hatte (s. 1.27 Leere). Das Selbst, das er durch
seine Bodhi-Erfahrung (s. 1.7 Buddha, s. 1.21 Erleuchtung) erfahren
hatte, ist kein empirisches Ich, sondern wird im Nicht-Ich erlebt. Dadurch
entzieht es sich jedem Eigenbezug und hat eine Größe, die weder
erfassbar noch mit Worten artikulierbar ist (s. 1.27 Leere, s. 1.37
Nagarjuna). Mit seinem Schweigen wollte Buddha Shakyamuni
ursprünglich die Menschen auf die Grenzen ihres Denkens hinweisen,
jedoch nicht auf die Negierung des Selbst.
Zu seinen...