3.1 Devereux
Die Arbeiten und die Konzeption des Ethnologen und Psychoanalytikers Georges Devereux, in denen er eine Verbindung zwischen Psychoanalyse und Ethnologie schaffte, verdienen die erste Titulierung als ethnopsychoanalytische Arbeiten. Er ist als derjenige zu betrachten, der den Begriff und das Verständnis der Ethnopsychoanalyse in den 60er Jahren prägte. S eine Theorien und Konzeptionen beeinflussen bis heute die Ethnopsychoanalyse und die ethnopsychoanalytische Forschung. Sie haben einen entscheidenden Schritt zur Übertragung der psychoanalytischen Methode in die Sozialwissenschaften geleistet, in deren Untersuchungen die Erkenntnis unbewusster Vorgänge im Wechselspiel zwischen Individuum und Kultur stehen (vgl. Reichmayr 1995, S. 10).
Devereux versucht einer Überbetonung bzw. einer zu starken Vernachlässigung der kulturellen/gesellschaftlichen Dimension für die Entwicklung der individuellen Psyche entgegenzuwirken: „Ich habe [...] sowohl den psychologischen als auch den kulturellen (sozialen) Reduktionismus vermieden, indem ich nämlich gefordert habe, daß jedes menschliche Phänomen nach einer psychologischen und einer soziokulturellen Erklärung verlangt, und daß diese erklärenden Diskurse in einer komplementären Beziehung zueinander stehen; die beiden Diskurse können weder vermischt noch gleichzeitig gehalten werden“ (Devereux zitiert nach Adler 1993, S. 76f.). Anhand des Komplementaritätsprinzips (vgl. Devereux 1978, S. 11-26) verdeutlicht Devereux seine Kritik an jeglichem Reduktionismus und lässt damit eine adäquate Betrachtung und Analyse des Zusammenhangs zwischen Kultur und Psyche zu, denn die damit implizierte Forderung nach einer zweispurigen Betrachtung macht es möglich, „einerseits Verhalten und Motivation von Individuen auf der makrosozialen Ebene und
damit aus einer soziologischen Perspektive sowie andererseits der korrespondierenden mikrosozialen, individuellen Prozesse einschließlich der unbewussten Beweggründe“ (Adler 1993, S. 78) zu erhellen.
Devereux ist der erste, der das ethnopsychoanalytische Vorgehen in den Sozial- und Kulturwissenschaften systematisch betrachtet und bearbeitet hat. Zentral in dieser Beschäftigung - dies besonders in seinem Werk „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ (1967) - stehen für ihn die nicht selten vorzufindenden Verzerrungen von Daten in den Verhaltenswissenschaften und die Frage nach ihren Quellen.
Zentrale Begriffe bzw. Phänomene, derer er sich bedient, um Beobachtungssituationen zu beschreiben, sind „Übertragung“, „Gegenübertragung“ und „Angst“ und seine grundlegende These besteht in der Annahme: „Nicht die Untersuchung des Objekts, sondern die des Beobachters eröffnet uns einen Zugang zum Wesen der Beobachtungssituation“ (Devereux 1967, S. 20).
Entscheidend ist für Devereux in diesem Sinne in der Situation zwischen Beobachter und Beobachtetem das Phänomen der Gegenübertragung. Dieses Phänomen bestimmt er als „die Summe aller Verzerrungen, die im Wahrnehmungsbild des Psychoanalytikers von seinem Patienten und in seiner Reaktion auf ihn auftreten. Sie führen dazu, daß er [...] sich in der analytischen Situation verhält, wie es seinen eigenen [...] unbewußten Bedürfnissen, Wünschen und Phantasien entspricht“ (Devereux 1967, S. 64). Demnach wird „die Wahrnehmung einer Situation [...] von der Persönlichkeit des Wahrnehmenden grundlegend beeinflusst. Aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur, seine starken, teils unbewußten Bedürfnisse und Konflikte zieht er von der Wirklichkeit oft etwas ab, fügt etwas hinzu oder arrangiert sie auf irgendeine andere Weise um“ (Reichmayr 1995, S. 187). Devereux’ Ausführungen und Annahmen führen zu einer gewissen Umkehrung der Forscher-Objekt-Konstellation: Demnach bietet der Beobachter mit seinem subjektiven Hintergrund wesentlich mehr zur wissenschaftlichen Auswertung als das Untersuchungsobjekt, denn „jede Forschung ist auf der Ebene des Unbewussten Selbstbezogen, gleichgültig, wie weit ihr Gegenstandsbereich auf der manifesten Ebene vom manifesten Selbst entfernt sein mag“ (Devereux 1967, S. 178). Ausgehend von diesen Prämissen ist so jeder Einfluss des Beobachters im Erkenntnis-und Forschungsprozess mitzuberücksichtigen. Die Einbeziehung der Subjektivität und ihrer Anerkennung als einzige Zugangsmöglichkeit stellen für Devereux den Königsweg dar.
Weiter führt Devereux in diesem Sinne seine Überlegungen zur Angst des Forschers aus: Jede Begegnung mit dem Fremden - und dies betrifft in jeder Konstellation den Forscher und sein Gegenüber - rufen Angst, Verwirrung und in der Folge nicht selten Aggressivität
hervor (vgl. Devereux 1967, S. 64-109; vgl. Adler 1993, S. 80f.). In jeder Kultur sind bestimmte, je für sie typische und etablierte Arten der Bearbeitung psychischen Materials vorzufinden. Während eine Kultur ein bestimmtes Material unterdrückt, kann eine andere es begünstigen. So wird der Forscher in der fremden Kultur nicht selten auf Material treffen, das er selbst verdrängt und genau diese Erfahrung ist eine Quelle der Angst 14 . Diese Angst hat tiefgreifende Verzerrungen zur Folge. Als Schutzmechanismus wird der Forscher nicht selten in der Auseinandersetzung mit diesem Material Teile dessen deformieren, a uslassen oder gänzlich ignorieren (vgl. Devereux 1967, S. 67). Nach Devereux sind klassische Erscheinungen in der Forschungssituation bzw. Datensammlung und -analyse wie die Entsubjektivierung/Entmenschlichung der Angehörigen der fremden Kultur, die Exotisierung der fremden Kultur, jegliche universalisierenden oder klassifizierenden Tendenzen oder selektive Wahrnehmungen nichts anderes als Abwehrmechanismen gegen die aufkommende Angst (vgl. Devereux 1967, S. 155-363; vgl., Adler 1993, S 86f).
Die Angst des Forschers übt folglich enormen Einfluss auf die theoretische Annäherung und die Wahrnehmung der Situation aus und als Hindernis in jedem Forschungsprozess zeigt sich „der Forscher selbst, der sich nicht einbezieht, d.h. der von der Illusion ausgeht, eine K ultur und eine Personengruppe etc. seien beobachtbar, als ob kein Beobachter vorhanden wäre“ (Reichmayr 1995, S. 193; vgl. Devereux 1967, S. 19ff.). So bleibt nach Devereux nur eine Konsequenz: Analog zur Psychoanalyse sollten auch die Ethnologie bzw. die ethnologisch Tätigen, die Reflexion und Bearbeitung der Angst und der damit einhergehenden Gefühle im Sinne der Übertragungs-und Gegenübertragungsprozesse zu konstitutiven Element werden lassen, um eine Bewusstwerdung der Mechanismen zu erlangen. „Nur so könnten Deformierungen vermieden, verklärende und übertrieben relativistische ebenso wie einseitig abwertende Darstellungen von einer authentischeren Ethnologie überwunden werden“ (Adler 1993, S. 87).
Devereux’ Forderung nach der Einbeziehung der Subjektivität des Forschers trifft den Kern seiner Kritik an den Verhaltenswissenschaften: Sie ignorieren diese Subjektivität und sehen sie als Hindernis zu einer adäquat fundierten Forschungsarbeit, zu einer Erfassung objektiver Daten. Devereux formuliert die unterschiedliche Thematisierung der Subjektivität zwischen Verhaltenswissenschaften und Psychoanalyse treffend folgendermaßen: „Es ist offensichtlich, daß ,das Subjektive’ von den meisten Verhaltenswissenschaftlern als Quelle
systematischer Fehler behandelt wird, während der Psychoanalytiker es als hauptsächliche Informationsquelle behandelt“ (Devereux 1967, S. 336).
Die auf diesem Weg angestrebte Objektivität durch das empirische Vorgehen in den Sozialwissenschaften, stellt nach Devereux nichts anderes als Abwehrstrategien angesichts aufkeimender Angst dar. „,Objektivität’ in der ethnologischen Situation ist für Devereux in besten Fall Illusion, die schon gar nicht über einen zwanghaft das Subjektive unterdrückenden Weg (,Methodik’) realisiert werden kann. Entsprechend besteht einzig in der Aufwertung und Miteinbeziehung der [...] inneren Reaktionen (auf Seiten des Beobachters) die Chance, zu einer ,realistischen’ Einschätzung von Verhalten ebenso wie der inneren Strukturen (des Fremden) zu gelangen“ (Adler 1993, S. 81). Die Psychoanalyse kann somit als geeignetes Instrumentarium auftreten, seine Forderung umzusetzen. „Die Psychoanalyse ist mit diesen Fragen und Problemen von ihrer Entwicklung her innig verbunden, und die Thematisierung des Beobachters sowie die Angst sind als elementare Daten für sie selbstverständliche Voraussetzungen“ (Reichmayr 1995, S. 190, vgl. Devereux 1967, S. 336f.).
Angstauslösende Faktoren haben ihre Wirksamkeit aber nicht nur in fremden Kulturen, sondern auch in der eigenen, wenn es etwa um die Untersuchung von Gesellschaftsmitgliedern aus anderen Schichten oder Rassen geht sowie um jene, die dem anderen Geschlecht angehören. Deshalb lautet Devereux’ Forderung, auch in der Beobachtungssituation in der eigenen Kultur, diese Angst zur Kenntnis zu nehmen und aufzunehmen, um den Umgang mit ihr zu erlernen 15 (vgl. Reichmayr 1995, S. 191f.).
Weiter gilt es, dem Persönlichkeitsmodell von Devereux Aufmerksamkeit zu schenken. Dieses ist geprägt von dem Persönlichkeitsmodell Freuds, der mit der Postulierung der psychischen Instanzen, Über-lch, Ich und Es den Blick auf die konflikthaften psychischen Prozesse im Inneren des Menschen lenkt. Mit besonderer Konzentration auf das Unbewusste unterteilt Devereux es in das ethnische und...