„Als junge Familie sollte man in Frankreich, als Rentner in der Bundesrepublik leben“ (SCHULTHEIS 1988, 21). In dieser und in anderen Aussagen werden, wie so oft im Alltag, relevante gesellschaftliche Erfahrungen und Wissensbestände mit einer augenzwinkernden Leichtigkeit und Treffsicherheit so sehr auf den Punkt gebracht, dass eine wissenschaftliche Erläuterung des Sachverhalts oft kaum von Nöten scheint. Überall kann man es in Deutschland in der Zeitung lesen: Der Spiegel ängstigt mit seiner Titelgeschichte „Der letzte Deutsche“ (vgl. BÖLSCHE, 5.1.2004), die Zeit ruft zehn Tage später die „Geburtenkrise“ aus – „Geburtenrate bei nur mehr 1,29“ (GASCHKE 15.1.2004, 3). Der Rheinische Merkur fordert seit jeher eine neue Bevölkerungspolitik (31.7.2001) und die FAZ widmete der „Demographischen Zeitbombe“ schon 2003 eine vierteilige Serie. Tatsächlich bildet die Bundesrepublik mit einer durchschnittlichen Geburtenrate von 1,29 Kindern pro Frau zusammen mit Italien, Spanien, Österreich und Griechenland das Schlusslicht in Europa. Das Familienministerium geht davon aus, dass von den 1965 geborenen Frauen im Westen Deutschlands voraussichtlich 31 Prozent und im Osten Deutschlands 26 Prozent der Frauen kinderlos bleiben werden. Bei den Akademikerinnen liegt die Anzahl der Kinderlosen mit 40 Prozent noch höher (vgl. BMFSFJ 2003b, 10 ff).
Dieser Bericht soll untersuchen, inwiefern familienpolitische Instrumente und Ziele, sozial- und arbeitsmarktpolitische Regelungen sowie die Ausgestaltung der Kinderbetreuungseinrichtungen und des Schulsystems in der Bundesrepublik Deutschland geeignet sind, vor allem die Frauen bei dem Wunsch zu unterstützen, das Großziehen von Kindern und die eigene berufliche Aktivität unter einen Hut zu bringen. In diesem Zusammenhang wird ein direkter Vergleich mit dem Nachbarland Frankreich erbracht, denn Frankreich wird nicht zu Unrecht – und wie im Folgenden aufgezeigt werden soll – als „Pionier in der Familienpolitik“ betitelt. Frankreich ist Deutschlands engster Verbündeter in Europa. Dies ist das Ergebnis eines beispiellosen Prozesses jahrzehntelanger Annäherung, vorangetrieben auch durch die beiden Staatsmänner Mitterand und Kohl in den 90er Jahren. Diese wechselseitige Annäherung in den nunmehr 60 Jahren, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen sind, mündet in einer gemeinsamen Europapolitik. Die „Erbfeindschaft“, die daraus bestand, dass jede Nation sich seit dem Krieg von 1870/1871 weitgehend nur als Negation der anderen zu begreifen vermochte (vgl. ZIEBURA 1997, 16), gehört der Vergangenheit an und beide Länder versuchen durch Austausch von Erfahrungen und Fortschritten einander zu unterstützen und zu helfen. Regelmäßige Konsultationen und Arbeitstreffen auf politischer Ebene sind längst zur Realität geworden. Austausch- und Sprachprogramme für Jugendliche im Rahmen des Deutsch-Französischen Jugendwerkes sowie Städtepartnerschaften und Kooperationen im grenznahen Bereich sorgen dafür, dass die Bürger beider Länder miteinander Kontakt aufnehmen und Freundschaften pflegen können. Diesseits und jenseits der Grenze gibt es sowohl Unterschiede, als auch Gemeinsamkeiten, Probleme und Problemlösungen. Ähnliche Problemfelder beider Länder betreffen beispielsweise die wirtschaftliche Verschuldung des öffentlichen Sektors, die Arbeitslosenrate, aber auch strukturelle Probleme im Renten- und Gesundheitssektor, welche noch einer Lösung bedürfen (vgl. christian-wille.de, 19.9.2005) Unterschiede der beiden Staaten und Grundlage dieser Arbeit liegen im Besonderen in der Familienunterstützung und daraus resultierend in der Geburtenrate beider Länder. Frankreich gehört mit einer Geburtenrate von 1,9 Kindern pro Frau zur Spitze der westlichen Industrieländer (vgl. BMFSFJ 2003b, 10) und wird demnach als das leuchtende Beispiel in Europa angeführt, wenn es um die Höhe der Geburtenrate geht. Während in vielen anderen Ländern Europas die Geburtenraten offenbar unaufhaltsam sinken und die Bevölkerungszahlen schrumpfen, steigt die Geburtenrate in Frankreich, nachdem sie Mitte der 90er Jahre auf einem Tiefpunkt angelangt war, wieder an. Franz Schultheis vom Institut für Bevölkerungsforschung in Bielefeld drückt dies so aus: „Hinsichtlich der Geburtenrate steht die Bundesrepublik heute im Weltvergleich dort, wo Frankreich zwischen 1800 bis 1940 stand, nämlich an letzter Stelle“ (Kaufmann 1987, 15).
Wie es dazu kommen konnte und welche demografischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen daraus entstanden sind, dies soll diese Arbeit verdeutlichen. Des Weiteren stellt der Bericht die aktuellen Instrumente und Ziele beider familienpolitischer Ansätze gegenüber und vergleicht ihr Wirken im positiven, als auch im negativen Sinne. Die genaue Fragestellung soll im nächsten Abschnitt erläutert werden.
Im europäischem Vergleich erscheint vor allem die Polarisierung zwischen der deutschen und der französischen Familie zu interessieren, da beide Länder in einigen Punkten erstaunliche Konvergenzen aber auch auffällige Divergenzen aufzeigen. Zu den länderübergreifenden Trends zählt vor allem der Wandel der Familie, der mit großen Umbrüchen der familialen Struktur einhergeht: Niedrige Geburtenraten sowie hohe Scheidungen verbunden mit niedrigen Heiratsziffern prägen das familiale Bild in beiden Ländern. In gleicher Weise ist die Durchsetzung alternativer Familienformen für beide Länder charakteristisch. Alleinlebende, nichteheliche Lebensgemeinschaften sowie Einelternfamilien haben in beiden Ländern in der Art zugenommen, dass nicht einmal mal mehr ein Drittel der Haushalte als klassische Familienhaushalte bezeichnet werden können. Ein Blick in die Statistik beweist aber auch die Divergenzen zwischen beiden Nationen. Diese manifestieren sich insbesondere in der hohen Anzahl der Mehrkindfamilien und der Vollzeiterwerbstätigkeit der französischen Mütter (vgl. Kapitel III. und V.5.1 dieser Arbeit). Diese Arbeit soll sich also einem Vergleich beider Nationen widmen. Die beiden konträren Modelle der Familienpolitik sollen miteinander in Beziehung gebracht werden. Auf der einen Seite steht das konservative Modell, welches Privatheit von Kindheit und Familie in Deutschland, mit Halbtagskindergarten, Halbtagsschule und Teilzeitarbeit von Müttern pflegt. Auf der anderen Seite steht ein modernes Frauenbild, welches in Frankreich durch Staatlichkeit von Erziehung, Ganztagskinderbetreuung auch für unter Dreijährige, Ganztagsschule und selbstverständlicher Vollzeitbeschäftigung von Müttern gehegt wird. Die Abhandlung soll auch deutlich machen, dass Familienpolitik in Frankreich mehr ist als nur ein Familienlastenausgleich. Frankreich symbolisiert eine „selbstverständliche öffentliche Anerkennung der Familie als konstitutives Moment der französischen Gesellschaft“ (KAUFMANN 1987, 15). Kinderbetreuungskulturen und auch die Rolle der Frau in ihrer Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben sich in den beiden Kulturen sehr divergent entwickelt und zeigen heutzutage in der sinkenden Geburtenrate erst die wahren Konsequenzen.
Die Tatsache, dass Deutschland und Frankreich solche Divergenzen aufweisen, ist dagegen erstaunlich, da sich beide Länder seit dem Zweiten Weltkrieg auf gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiet stark angenähert haben (vgl. KAELBLE 1991, 235 f). Ein Vergleich der Familienpolitik in beiden Ländern zeigt, wie unterschiedlich in Deutschland und Frankreich auf familiale Probleme eingegangen wird. Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit lautet dementsprechend: Wo finden sich nationale Unterschiede und wo zeigen sich europäische Gemeinsamkeiten der deutschen und französischen Familienpolitik auf? Des Weiteren soll von Interesse sein: Ob Fertilität in beiden Ländern an gesellschaftlichen Schichten ablesbar ist, d.h. wer bekommt heutzutage noch Kinder und was kosten Kinder? Wie begünstigen beide Länder die Frauenrolle und ihre Vereinbarkeit mit dem Beruf und der Familie? Um dieser Arbeit eine Basis zu geben, empfiehlt es sich, zuerst grundlegende Begriffe zu definieren und abzugrenzen.
Um den Kontext der Familienpolitik beider Staaten so transparent wie möglich bearbeiten zu können, soll auch diese eine erste Definition erhalten. Lüscher bezeichnete die Familienpolitik 1988 als „öffentliche Aktivitäten, Maßnahmen und Einrichtungen, um zu versuchen, familiale Leistungen, die explizit oder implizit erbracht werden sollen, anzuerkennen, zu fördern, zu ergänzen, somit zu beeinflussen oder durchzusetzen, wobei – unter Bezug auf gesellschaftspolitische Ordnungsvorstellungen – gleichzeitig umschrieben wird, welche Sozialformen als Familie gelten sollen“ (LÜSCHER 1988, 28). So definiert, ist Familienpolitik ein Instrumentarium zur Erzeugung eines Familienleitbildes. In historischer Perspektive kann man Familienpolitik aber auch als ein Teil der Gesellschaftspolitik verstehen, mit der gerade die westeuropäischen Länder auf weit reichende soziale Veränderungen infolge zweier Modernisierungswellen, der Industrialisierung und der Tertiärisierung, reagierten. Die erste Welle, der Übergang zur Industriegesellschaft, war mit der Auflösung der sozial-ökonomischen Einheit des ganzen Hauses und dem Aufstieg der Kernfamilie zur beinahe universellen Lebensform verbunden. Die zweite Welle, der heute noch anhaltende Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft, ist dagegen durch eine Differenzierung der...