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Gebrauchsanweisung für das Engadin

2. aktualisierte Auflage 2017

AutorAngelika Overath
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492975308
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Tiefblaue Seen, sonnenbestrahlte Schneegipfel - mit seiner extremen Landschaft und dem einzigartigen Licht gehört das Engadin zu den spektakulärsten Ferienzielen der Alpen. Angelika Overath stellt die bedeutendsten Orte und schönsten Landschaften vor, von Scuol bis Sils, vom Corvatsch bis ins Münstertal, und gibt spannende Geheimtipps. Sie erklärt, warum die Alpenpässe Eisenbahnfans begeistern und Autofahrern den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Wieso sich Engadiner Spezialitäten nicht zum Abnehmen eignen und wie die uralte romanische Sprache, in der es »Bun di« und »Chau« heißt, in dieser Kulturregion weiterlebt. Vom mondänen Oberengadin bis hinunter zum schroffen, noch bäuerlichen Unterengadin ermöglicht sie faszinierende Einblicke in eines der schönsten Täler der Schweiz.

Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin und wurde u.a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis und dem Ernst-Willner-Preis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann seit neun Jahren in Sent, Graubünden; die beiden haben drei Kinder. 2010 erschien ihr hochgelobtes Senter Tagebuch: »Alle Farben des Schnees«.

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Leseprobe

Alpenpässe


Es war also kurz vor Weihnachten 1992, als wir uns mit dem Auto von Tübingen aufmachten, um zum ersten Mal ins Engadin zu fahren. Auf der Rückbank sassen Silvia, fünf Jahre, Andreas, drei, und Florence, zwölf, das Kind von Pariser Freunden, das mit uns kam. Manfred hatte kurz auf die Landkarte geschaut und sich für den direktesten Weg entschieden: am Bodensee entlang, das Rheintal hinauf, durchs Prättigau bis Klosters, dann Richtung Davos und über den Flüelapass hinunter ins Engadin! Wir hatten – noch von Griechenland kommend – die Sonne im Herzen und Sommerreifen am alten Golf. Und wer im Schatten des Götterbergs Olymp gelebt hat, der interessiert sich für so banale Grössen wie Passhöhen nicht.

Wir fuhren durch graue und grüne Fluren. Es war ein schneearmer Winter. Schon auf der ersten Etappe des Flüelapasses wunderte sich Manfred, dass wir offensichtlich die Einzigen waren, die hier fuhren. Na, immerhin kein Stau! Die Kinder waren bester Laune, im Kassettenrekorder des Autos liefen die Prinzen. Es gab leichte Schneeverwehungen. Beim Gasthof Tschuggen sahen wir kurz ein Auto vor uns, Bündner Kennzeichen, das wir aber bei der nächsten Kehre aus den Augen verloren hatten. Die Schneeverwehungen nahmen zu. Manfred drehte die Musik leiser. Die Kinder protestierten. »Seid doch still«, sagte er, seltsam unfreundlich.

Wir erreichten die Passhöhe von 2383 Metern. Die Strasse war weiss bedeckt, Schneeanhäufungen am Rand. Rechts und links lagen Seen unter Schnee. Die grauen Flanken der hohen Berge zeigten ein geschecktes Katzenfell. Dann begann die Abfahrt. Manfred schaltete die Musik aus. Von der Rückbank kam Rascheln, dann der Geruch von zerkauten Gummibärchen. In der Ferne sahen wir das Bündner Auto noch einmal, das aber nach einer Kehre wiederum verschwunden war. Über die Strasse zog sich jetzt ein Streifenmuster aus Weiss, Grau und Schwarz. Ab und an ein dunkler Glanz. Manfred bremste auf ungewöhnliche Weise und fuhr schlingernde Bögen. Auf meine Frage (ich fahre nicht Auto), was los sei, antwortete er nur: »Schnee.« Dann, nach einer Pause: »Und Eis.« Das hatte ich schon gesehen, aber jetzt erst verstand ich.

In das Abbremsen und ausweichende Fahren kam nun regelmässig die leise Stimme von Florence, die fragte, wie lang es noch sei. Nicht mehr lange, log ich und drehte mich mit mütterlichstem Lächeln zur Rückbank. Das Kind hielt einen kleinen Weihnachtsbaum aus grünem Plastik auf dem Schoss, den wir noch in Saloniki gekauft hatten (schliesslich wollten wir im Hotel Quellenhof Weihnachten feiern!). Ich sah die Mädchenhände, die das struppige Grün bang an seinem hölzernen Sockel hielten. Silvia und Andreas fochten derweil einen Kampf mit zwei aufblasbaren Nikoläusen; sie waren Fahrten über Schlaglöcher durch das thessalische Pilion-Gebirge und über Schotterpisten im mazedonischen Hinterland gewohnt. Manfred versuchte, sehr, sehr langsam zu fahren und den unfreiwilligen Schwung, den eine Schneepassage ihm gab, auf dem nächsten, vertrauenerweckend schwarzen Asphaltstück wieder aufzufangen. Er war blass. Die Strasse schien ein haarnadelkurviges, schmales Band über sich in immer neuen Schrecken zeigenden Schluchten. Endlich begann der Wald, und Manfred schaltete wieder hoch.

Kurz vor Susch, dem ersten Dorf im Engadin, fragte Florence ein letztes Mal: »Wie lang noch?« Dann maunzte sie, sie wolle aussteigen. Dann kotzte sie. Wir waren froh, den Pass heil hinter uns gebracht zu haben, und reinigten notdürftig Mädchen und Bäumchen mit Kleenex. Im Quellenhof duschte unser Pariser Ferienkind in einer alten, frei stehenden Badewanne auf goldfarbenen Löwenpranken, und ich spülte am Waschbecken unter dem Hahn mit den alten Messingbeschlägen die griechische Plastiktanne im Wasserstrahl aus. So begann unsere Liebe zum Engadin.

Dabei hätten wir, von Tübingen kommend, uns leicht über Österreich dem Unterengadin nähern können. Der Weg hätte uns bequem nach Landeck und Pfunds gebracht, beim Grenzort Martina wären wir, immer leicht ansteigend, in das Hochtal hineingefahren. Von diesem Zugang bei Martina allerdings abgesehen (man biegt von der Reschenpassstrasse, die über Nauders ins Südtiroler Vinschgau führt, rechts Richtung St. Moritz ab), ist das Engadin allein über Pässe zu erreichen.

Es sei denn, man reist durch den Berg hindurch. Im November 1999, pünktlich zum Beginn der Wintersaison, wurde der Vereinatunnel für den Bahnverkehr mit Autoverladung eröffnet. Der mit mehr als neunzehn Kilometern weltweit längste Schmalspurtunnel (Spurbreite ein Meter) verbindet zwei- bis dreimal in der Stunde Klosters im Prättigau (Verladebahnhof Selfranga) mit Sagliains im Engadin. Seit die Bahn durch den Berg fährt, ist der Flüelapass im Winter gesperrt. Aber auch nach seiner Öffnung zur Sommersaison, je nach Witterung meist im Mai, kann es sein, dass man auf der Passhöhe von einem Schneesturm überrascht wird; immer wieder muss die Strasse unter dem Jahr gesperrt werden. Eines der Sprichwörter im Tal besagt: »Kein Monat ohne Schnee.« Und ich erinnere mich an einen Feriensommer in Guarda (1650 m), in dem wir den Kindern Wollsocken als Handschuhe anzogen und eine Wanderung ins Tuoi-Tal abbrechen mussten, weil wir im schliesslich kniehohen Schnee stecken blieben.

Der Vereinatunnel hat das Leben im Engadin verändert. Nun ist das Unterengadin einen Tagesausflug nah an Zürich herangerückt. Bevor es den Tunnel gab, folgte der alte Weg der Rhätischen Bahn von Scuol aus (Endstation und östlichster Bahnhof der Schweiz) der Richtung ins Oberengadin, bog bei Bever nach Norden ab und führte durch die Albula-Alpen hinauf nach Spinas (1816 m) und durch spektakuläre Kehrtunnel und über schwindelhohe Brücken hinunter nach Thusis im Hinterrheintal (697 m) und weiter bis nach Chur (593 m), der Hauptstadt des Kantons Graubünden. Diese Strecke gehört heute zum UNESCO-Weltkulturerbe. Eisenbahnbegeisterte aus der ganzen Welt kommen hierher, nur um diese Strecke zu fahren. Und das Bahnmuseum Albula in Bergün wird auch Reisende erfreuen, die sich nicht für Eisenbahnen interessieren. Von Chur endlich fuhr man durch das Rheintal, dann am Walensee und am Zürichsee entlang bis nach Zürich.

Für die Strecke Scuol–Zürich brauchte die Bahn damals knapp fünf Stunden. Mit dem Vereinatunnel sind es heute nur etwas mehr als zweieinhalb. Zunehmend wird das abgelegene Unterengadin für den Fremdenverkehr interessant. Viele Reisende kommen am Vormittag mit dem Ausflugszug »Aqualino«, um einen Tag im Scuoler »Bogn Engiadina«, dem Mineralwasserbad, einer der Hauptattraktionen des Engadins, zu verbringen (→ Mineralquellen). Für mich ist das »Bogn Engiadina« vor allem wegen seiner weitläufigen Sauna-Anlage mit dem marmornen Kaltwasserschwimmbecken die schönste Bäderlandschaft, die ich kenne.

Winterreisende sollten wissen, dass es um Weihnachten und Silvester wie auch in der Zeit der Faschingsferien bei der Autoverladung am Vereina zu Wartezeiten von mehreren Stunden kommen kann. Stammgäste kennen das und vermeiden, an Samstagen anzureisen. Oder sie stellen sich auf ein vorfreudiges Warten ein, haben heissen Tee und Proviant dabei, stricken, schauen auf ihren Tablets Filme, spielen Jass, Skat. Oder nutzen die Zeit, um mit dem Hund spazieren zu gehen. Schnell ergeben sich Gespräche mit anderen Wartenden, die sich die Beine vertreten. Seltsamerweise ist die Stimmung bei Selfranga, an der Tunnelpforte zum Engadin, immer gut.

Bevor es den Vereinatunnel gab, waren im Winter der Schienenweg über den Albula und die Passstrasse über den Julier die einzigen (meist, aber durchaus nicht immer) freien Zugänge von der deutschsprachigen Schweiz hinein ins Engadin. Die Beschwernisse an den Pässen ändern sich, sind aber auch im 21. Jahrhundert nicht zu vermeiden. Der Tod begleitet die Geschichte der Überquerung der Alpen. In diesen Tagen sterben Motorradfahrer in den Kehren, Autos rutschen über den Strassenrand, Radfahrer verunglücken. In vergangenen Zeiten kippten Kutschen, erfroren Reisende und Ruttner, jene Männer, die mithilfe von Ochsen, Pferden und kleinen Schlitten die Pässe offen halten mussten. Mit Schaufeln wurde der Schnee gebrochen (»ruot« ist der Bruch), dann bahnten sich die dampfenden Tierleiber den Weg. Oft versanken Mann und Pferd bis zu den Schultern im Schnee und mussten schweissgebadet nach wenigen Minuten den nachfolgenden Mann mit Ochse oder Pferd vorlassen. Eine kaum vorstellbar anstrengende und gefährliche Arbeit.

Ruttner erzählten Geschichten von Tod und Rettung. In seinem Buch »Graubünden. Land der Pass-Strassen« zeichnet Paul Caminada ein kleines Medaillon: Im Winter 1862 (noch vor dem Bau der Flüelapassstrasse) fand ein Ruttner auf dem 2606 Meter hohen Scalettapass, dem alten Säumerpfad südwestlich des Flüela, »eine Mutter mit zwei Mädchen« im Schnee liegend. »Eines der Mädchen und die Mutter waren tot. Das kleinere Mädchen lag noch an die Brust der toten Mutter gedrückt. Es lebte und konnte vom Ruttner gerettet werden. Am Auge der Mutter glitzerte eine zu Eis erstarrte Träne.«

Aber auch ohne Schnee war die Alpenüberquerung prekär. Caminada zitiert einen Brief, den der badische Schriftsteller Josef Victor von Scheffel am 6. September 1862 seiner Mutter schrieb, nachdem er das Unterengadin erreicht und in Tarasp Logis genommen hatte:

Dann am 4. September über den 8067 Fuss hohen Scalettapass ins Unterengadin. Dies war kein Spass. Ein einsamer, wilder Steig über Felstrümmer und tote, nur vom Flug des Schneehuhns belebte Natur, zur Rechten und Linken von eiskalt herabwehenden Gletscherfeldern...

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