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Handlungsmöglichkeiten der Kindertagesstätte bei Vernachlässigung

Prävention, Erkennung, Intervention

AutorKerstin Zimmermann
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl81 Seiten
ISBN9783656336488
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 2,0, Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (Angewandte Sozialwissenschaften), Veranstaltung: Soziale Arbeit, Sozialarbeit, Soziapädagogik, Pädagogik, Erziehungswissenschaften, Sprache: Deutsch, Abstract: In Deutschland hat jedes Kind ab dem vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt Anspruch auf den Besuch einer Kindertagesstätte. Das Angebot an Plätzen in Kindertageseinrichtungen für Kinder unter drei Jahren und nach Schuleintritt ist bedarfsgerecht zu gestalten. Kindern unter drei Jahren ist ein Platz in der Kindertageseinrichtung vorzuhalten, wenn die Erziehungsberechtigten erwerbstätig sind oder sich in Ausbildung befinden (vgl. § 24 Abs. 1,2,3 SGB VIII). Die Aufgaben der Kindertagesstätte fasst der Gesetzgeber in § 22 SGB VIII zusammen. Danach sollen Tageseinrichtungen die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit fördern, die Erziehung und Bildung in der Familie ergänzen und unterstützen sowie die Eltern bei der Vereinbarung von Familie und Beruf unterstützen. Der Förderauftrag der Kindertagesstätte bezieht sich dabei auf die Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes auf sozialer, emotionaler, körperlicher und geistiger Ebene (vgl. § 22 Abs. 2,3 SGB VIII). Damit ist der Bildung-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag der Kindertagesstätten grundlegend festgelegt. Spezifiziert wird er in den Bildungsplänen der Länder, welche sich mit den Mitteln und Methoden der Umsetzung befassen. Was aber, wenn die Erzieherin bei der Umsetzung dieser Aufgaben das Gefühl hat, dass es einem Kind an Nahrung oder Zuwendung mangelt, dass hygienische Grundlagen nicht beachtet, Interessen des Kindes missachtet werden? Wie definiert sich die Grenze, die das Einschreiten der Erzieherin in die grundsätzlichen Rechte der Eltern auf Erziehung und Betreuung ihres Kindes rechtfertigt? Die Kindertagesstätte ist eine familienergänzende Einrichtung, muss sich den Erziehungsvorstellungen, Werten und Normen der Eltern also unterordnen. Ist die Kindertagesstätte trotzdem in der Verantwortung, die Situation des Kindes zu verbessern? Und welche Möglichkeiten gibt es? Welchen Stellenwert haben Datenschutz und Schweigepflicht in diesem Verfahren? Welche Konsequenzen gibt es, wenn die Erzieherin die Situation des Kindes falsch einschätzt? Zwar hat das Jugendamt in Zusammenarbeit mit Trägern von Einrichtungen und Diensten sicherzustellen, dass die Fachkräfte der Einrichtungen den Schutzauftrag wahrnehmen und notwendige Schritte ergreifen (vgl. § 8a Abs. 2 SGB VIII). [...]

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Leseprobe

2 Gefährdung des Kindeswohls durch Vernachlässigung

 

2.1 Kindeswohl

 

2.1.1 Begriff „Kindeswohl“

 

Auf der Suche nach einer Definition des Begriffs Kindeswohl wird deutlich, dass dieser Begriff nicht konkret definierbar ist. Obwohl der Begriff Kindeswohl einerseits als ein zentraler Begriff und ein Entscheidungsmaßstab im Rahmen des Familienrechts des Bürgerlichen Gesetzbuches, insbesondere bei der Entscheidung unter dem Titel der ‚Elterlichen Sorge’ und von Sorgerechtsmaßnahmen steht, ist Kindeswohl andererseits für Eltern, andere nahe Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen und für Professionelle der Jugendhilfe, die mit unterschiedlichem Auftrag um das Wohl von Kindern bemüht sind, ein unbestimmter Begriff, der ausgehend vom Einzelfall stets konkretisiert werden muss. Er ist komplex und vom Begriffsverständnis her nicht eindeutig (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin e.V., 2009, S. 20-21). Auch der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. merkt an, dass der Begriff Kindeswohl praktisch beliebige Deutungsmöglichkeiten zulässt, im Wesentlichen abstrakt bleibt und dem Richter oder dem sonstigen Rechtsanwender keine fassbaren oder wenigstens vorgeprägten Entscheidungshilfen an die Hand gibt. Kindeswohl ist ein kontext-abhängiger Begriff, der sich im historischen, kulturellen, milieu- und schicht-spezifischen Kontext verändert. In ihm spiegeln sich Vorstellungen und Bilder der Gesellschaft über die Bedürfnisse von Menschen, über den Sinn des Lebens und die Bestimmung des Menschen in kosmischen und religiösen Vorstellungswelten (vgl. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., 2007, S. 558-559).

 

Die Verwendung als unbestimmter Rechtsbegriff ist unvermeidlich. Der Gesetzgeber kann und will Gesetze nicht so bestimmt fassen, damit eine Anpassung des abstrakten Gesetzes an die konkreten Situationen im Sinne der Gerechtigkeit möglich bleibt. Der Nachteil dieser Konstruktion ist ein hoher Auslegungsspielraum im Bereich der Interpretationsbedürftigkeit, durch den Einzelfallentscheidungen gegebenenfalls als ungerecht und nicht hinreichend vorhersehbar erscheinen (vgl. Wiesner, 2005, S. 289).

 

Sucht man im Rahmen professioneller Arbeit nach dem Begriff Kindeswohl als einen Ausgangspunkt sozialpädagogischen Handelns, gehört zu dem Definitions- und Verständigungsprozess die Orientierung an jenen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen, die sich als Grundbedürfnisse klassifizieren lassen und deshalb nicht unterschritten werden dürfen, aber auch die Auswertung der Besonderheiten des Einzelfalls (vgl. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., 2007, S. 558-559). Auch Schone bemerkt, dass eine Deklaration der Ansprüche eines Kindes zunächst einmal eine Definition der Grundbedürfnisse voraussetzt, die für die Entwicklung einer menschlichen Persönlichkeit wichtig und ausschlaggebend sind (vgl. Schone, 1997, S. 23).

 

2.1.2 Grundbedürfnisse des Kindes

 

2.1.2.1 … nach Abraham H. Maslow

 

Maslow geht von fünf grundlegenden Bedürfnisebenen aus. Erst wenn diese Basisbedürfnisse bis zu einem Mindestmaß befriedigt sind, kann sich auf der nächsten Bedürfnisstufe überhaupt Interesse entwickeln und die Befriedigung der nächsten Bedürfnisstufe angestrebt werden (Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, 2007, S.15-16). Die mächtigsten Bedürfnisse unter allen sind laut Maslow die physiologischen. Er geht davon aus, dass ein menschliches Wesen, dem es an Nahrung, Sicherheit, Liebe und Wertschätzung mangelt, wahrscheinlich nach Nahrung mehr als nach etwas anderem hungern würde. Die physiologischen Bedürfnisse würden also vor allen anderen die Hauptmotivation darstellen (vgl. Maslow, 2008, S. 63). Sobald die physiologischen Bedürfnisse relativ gut befriedigt sind, taucht ein neues Bedürfnisensemble auf, welches Maslow als Sicherheitsbedürfnis katalogisiert. Dieses umfasst das Bedürfnis nach Stabilität, Geborgenheit, Schutz und Ordnung. Bei Kindern erkennt Maslow dies an der kindlichen Vorliebe für Routine und Vorhersagbarkeit (vgl. Maslow, 2008, S. 66). Sind die physiologischen und die Sicherheitsbedürfnisse zufrieden gestellt, tauchen die Bedürfnisse nach Liebe, Zuneigung und Zugehörigkeit auf. Der bereits beschriebene Zyklus wiederholt sich rund um diesen neuen Mittelpunkt. Man sucht nun nach einem Platz in der Gruppe oder Familie, und man wird sich sehr intensiv bemühen, dieses Ziel zu erreichen (Maslow, 2008, S. 70-71). Nun folgt das Bedürfnis nach einer hohen Wertschätzung der Person und nach der Achtung anderer. Die Befriedigung des Bedürfnisses führt zu Gefühlen des Selbstvertrauens und der Stärke, dem Gefühl, nützlich zu sein (Maslow, 2008, S. 72-73). Maslow geht davon aus, dass, auch wenn alle diese Bedürfnisse befriedigt sind, neue Unzufriedenheit und Unruhe entstehen wird, wenn der Einzelne nicht das tut, wofür er, als Individuum, geeignet ist. Er muss seiner eigenen Natur treu bleiben. Dieses Bedürfnis bezeichnet Maslow als Selbstverwirklichung (Maslow, 2008, S. 73-74).

 

Die Frage nach den Grundbedürfnissen des Kindes beantwortet Maslow also durch die Aufstellung fünf grundlegender, aufeinander aufbauender Bedürfnisebenen. Kinder haben laut Maslow ein Bedürfnis nach Nahrung, Sicherheit, Zuneigung, Wertschätzung und Selbstverwirklichung. Erst durch die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse kann das Kind weitere Entwicklungsschritte vollziehen.

 

2.1.2.2 … nach John Bowlby und Mary Ainsworth

 

Bowlby hat erkannt, dass die Art der elterlichen Zuwendung, die ein Kind in seinen ersten Lebensjahren erfährt, von entscheidender Bedeutung für dessen späteren geistigen Gesundheitszustand ist. Unerlässliche Voraussetzung für die positive Entwicklung des Kindes ist, dass es in einer herzlichen, innigen und dauerhaften Beziehung zu seiner Mutter beziehungsweise zu einer ständigen Mutterersatzperson aufwachsen kann (vgl. Bowlby, 1973, S. 15). Muss das Kind diese sichere Beziehung entbehren, spricht Bowlby von materneller Deprivation. Damit meint er den Entzug der mütterlichen Zuwendung. Das Kind leidet unter materneller Deprivation, wenn die Mutter nicht in der Lage ist, dem Kind das nötige Maß an liebevoller Zuwendung zu geben. Auch begegnet man Deprivation in Heimen und Krankenhäusern, wo das Kind oft keinen Menschen hat, der sich in individueller Weise um sein Wohlergehen bemüht und bei dem es sich geborgen fühlen kann. Deprivation führt zur Störung des seelischen Gleichgewichts und kann eine Vielzahl von Reaktionen, wie akute Angst, übertriebenes Liebesverlangen, ausgeprägte Rachegefühle und Depressionen zur Folge haben. Unter Umständen kann sie dazu führen, dass jegliche Kontaktfähigkeit verkümmert (vgl. Bowlby, 1973, S. 16-17). Durch den Aufbau einer positiven Beziehung werden die Eltern für das Kind also zu einer verlässlichen Basis, von der aus das Kind seine Umgebung entdecken und zu der es auch jederzeit wieder zurückkehren kann, in der Gewissheit, willkommen zu sein, verstanden, getröstet und beruhigt zu werden. Je älter es wird, umso öfter und weiter entfernt sich das Kind von der elterlichen Basis. Dies geschieht allerdings nur, wenn es um deren Verlässlichkeit weiß (vgl. Bowlby, 1995, S. 23).

 

Mary Ainsworth untersuchte die Bindungsqualität, indem sie die Reaktion des Kindes während einer kurzen Trennungssituation von der Bezugsperson und während der darauf folgenden Wiedervereinigung beobachtete und auswertete. Aus den Ergebnissen der Untersuchungen kristallisierten sich verschiedene Bindungsstile heraus, die sich aus der vom Kind erlebten Bindungsqualität entwickelten. Danach entwickelten die Kinder

 

eine sichere Bindung, wenn die Bezugsperson auf die Bedürfnisse des Kindes stets angemessen und feinfühlig reagierte. Als Folge suchte das Kind in Stresssituationen den Kontakt zur Bezugsperson und lies sich von dieser schnell beruhigen.

 

eine unsicher-vermeidende Bindung, wenn die Bezugsperson die Bedürfnisse des Kindes nach Zuneigung und Nähe dauerhaft ablehnte. Bei diesem Bindungsstil zeigten die Kinder bei der Trennung wenig offensichtliche Zeichen des Kummers und sie ignorierten ihre Mutter, wenn diese wieder ins Zimmer kam. Im Anschluss behielten sie die Mutter im Auge und waren in ihrem Spiel gehemmt.

 

eine unsicher-ambivalente Bindung, wenn sich die Bezugsperson einerseits an das Kind klammerte, es andererseits aber immer dann, wenn das Kind Entdeckungsverhalten zeigte, ablehnte. Die Kinder zeigten großen Kummer bei der Trennung und konnten auch bei der Wiedervereinigung nur schwer beruhigt werden. Sie suchten Kontakt, leisteten aber gleichzeitig Widerstand, indem sie traten, sich abwandten und dargebotenes Spielzeug wegschleuderten. Sie wechselten ständig zwischen Zorn auf die Mutter und Anklammern an sie und waren in ihrem Spiel gehemmt.

 

eine unsicher-desorganisierte Bindung, wenn die Aufmerksamkeit der Bezugsperson für das Kind aufgrund eigener traumatischer Belastung dauerhaft gestört war. Die Gruppe der Kinder mit diesem Bindungsverhalten wurde erst später herausdifferenziert. Die Kinder zeigten eine vielseitige Bandbreite an verwirrtem Verhalten, zu dem ein ‚Einfrieren’ oder stereotype Bewegungen gehören, wenn sie mit ihrer Mutter wieder vereint wurden. (vgl. Holmes, 2002, S. 129; Faller/Leißner, 2007, S. 14)

 

Die innige, stabile, herzliche Beziehung der Bezugsperson zum...

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