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E-Book

Helmut Kohl

Der Charakter der Macht

AutorPatrick Bahners
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl314 Seiten
ISBN9783406708879
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Kein anderer deutscher Politiker ist so notorisch unterschätzt worden wie Helmut Kohl. Seine rhetorischen Fähigkeiten waren begrenzt, als Intellektueller ist er nicht auffällig geworden, und sein Provinzlertum berührte viele Deutsche eher peinlich, als der 'Oggersheimer' 1982 in aufgeräumter Stimmung die Weltbühne betrat. Doch während Kohl anfangs noch Spott und Häme auf sich zog, belehrte er seine Gegner rasch eines Besseren und gewann vier Bundestagswahlen hintereinander. Kein anderer Kanzler der Bundesrepublik hat länger regiert als er, und als 'Kanzler der Einheit' und großer Europäer ist ihm auch in den Geschichtsbüchern sein Platz sicher.
Was aber war das Geheimnis Kohls, dem sich so viele überlegen fühlten, die ihm dann unterlagen? Scharfsinnig und luzide, zugleich unbestechlich in der kritischen Analyse geht Patrick Bahners dem Phänomen Kohl auf den Grund und findet einen ebenso begnadeten wie unerbittlichen Machtmenschen, der alles um sich herum verschlingt und die Interessen seiner Partei distanzlos mit dem eigenen Machterhalt gleichsetzt. In funkelnder Prosa seziert Bahners den 'Charakter der Macht' und zeigt einen Meister der Anpassung und Steuerung in Aktion, der am Ende in der Geschichte ankommt, weil er sich ihr ganz veräußert.

Patrick Bahners ist verantwortlicher Redakteur für Geisteswissenschaften in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", deren Feuilleton er von 2001 bis 2011 geleitet hat

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Leseprobe

1.

Größe


In den Jahren der ersten deutschen Einigung, zwischen 1868 und 1873, hielt Jacob Burckhardt dreimal eine Vorlesung über das Studium der Geschichte, die sein Neffe 1905 unter dem Titel «Weltgeschichtliche Betrachtungen» drucken ließ. Den Schluss des Manuskripts bildet eine Untersuchung des Begriffs der historischen Größe. Burckhardts Definition ist eine negative. «Größe ist, was wir nicht sind.» Der große Mann ist ein Fremder unter den Normalsterblichen. Sein Lebensentwurf ist von anderen Dimensionen als die Hoffnungen und Pläne der Bürger. Es fällt ins Auge, dass sein Charakter sich den Konventionen des zivilisierten Lebens nicht fügt. Ein Evidenzerlebnis stiftet die Autorität des großen Mannes: An ihm kommt niemand vorbei. Sein Anspruch auf Dominanz muss sich nicht weiter ausweisen. Er will absolut gelten, losgelöst von jeder Begründungspflicht. Bei objektiver Betrachtung entpuppt sich die Größe freilich als relativer Wert. Schlechthin überlegen erscheint der Riese nur den Zwergen. «Dem Käfer im Grase kann schon eine Haselnussstaude (falls er davon Notiz nimmt) sehr groß erscheinen, weil er eben nur ein Käfer ist.» Größe ist, was wir nicht sind, und bleibt eben deshalb an unsere Maßstäbe gebunden. Anhänger und Opfer findet der Große nur unter den Kleinen. Die Haselnussstaude muss sich schon zum Käfer hinunterbeugen, wenn er von ihr Notiz nehmen soll, muss ihm Nahrung, Aufstiegschancen oder das Glück im Schatten gewähren. Der Traum vom Helden ist eine Unterwerfungsphantasie, in der sich das Geltungsbedürfnis des Träumers verbirgt: Wir sind «unwiderstehlich dahin getrieben, diejenigen in der Vergangenheit und Gegenwart für groß zu halten, durch deren Tun unser spezielles Dasein beherrscht ist und ohne deren Dazwischenkunft wir uns überhaupt nicht als existierend vorstellen können». Es macht dem eigenen Dasein Ehre, dass fremdes Tun es beherrscht; der Held hat gearbeitet, damit wir es uns gut gehen lassen. So gilt auch für die welthistorische Machtverteilung die Dialektik von Herr und Knecht: Der Anführer lebt von der Anerkennung seiner Gefolgschaft.

Es ergibt sich noch eine zweite, wiederum negative Definition: Größe ist das, ohne das wir nicht wären. Die Frage nach der Größe verlangt ein gleichsam transzendentales Gedankenexperiment, sie zielt auf die Bedingungen der Möglichkeit der gegenwärtigen Weltlage. Wer ist beim besten Willen aus der Geschichte nicht wegzudenken? Bundestagspräsident Norbert Lammert zitierte Burckhardt am 22. Juni 2017, als das deutsche Parlament Abschied nahm von Helmut Kohl, der sechs Tage vorher im Alter von 87 Jahren gestorben war: «Kein Mensch ist unersetzlich – aber die wenigen, die es eben doch sind, sind groß.» Durfte man auf den ersten Blick glauben, das große Individuum stehe über dem historischen Prozess, sei frei, wo jeder andere durch Zeit und Raum gebunden ist, so erweist es sich nun als «wesentlich verflochten in den großen Hauptstrom der Ursachen und Wirkungen». Auch diesen Gedanken Burckhardts zitierte Lammert in seiner Gedenkrede auf Kohl, der dem Bundestag von 1976 bis 2002 angehört hatte. Der Held ist kein Gesandter einer besseren Welt, der ein höheres Gesetz verkündet; der Schwanenritter taugte nicht zum Herzog. Das Einmalige, sieht man es nur nüchtern an, lässt sich immer wegdenken; der Zauber der genialen Begabung oder der bezwingenden Erscheinung liegt darin, dass der Himmel dieses Geschenk ebenso gut hätte für sich behalten können. Wirklich unersetzlich ist, was nicht aus dem Rahmen fällt, die beharrliche Arbeit an der Stabilisierung der Verhältnisse. Gerne würde man im großen Handelnden einen Ausnahmemenschen verehren. Aber er steht ein für die Normalität. Auf Schritt und Tritt begegnet man seinen Einrichtungen; dauerhaft und gleichförmig, nehmen sie sich zwangsläufig langweilig aus. Die Alternativlosigkeit der bestehenden Ordnung kränkt den Verstand, der seinen Ehrgeiz daransetzt, nichts als gegeben hinnehmen zu müssen und alles wegdenken zu können.

Burckhardts Definition der historischen Größe ist formal. Er legt in dieses Prädikat kein Werturteil. Dass jemand unersetzlich ist, heißt nicht, dass es nicht wünschenswert wäre, ihn zu ersetzen. Größe ist bei Burckhardt tatsächlich eine quantitative und keine qualitative Einheit. Gemessen wird sozusagen die Zahl der Berührungen eines Individuums mit dem Weltgeschehen, die Dichte seiner Beziehungen zum historischen Prozess. Groß ist, wer sich mit dem Gang der Dinge so eng verbündet hat, dass seine Absichten von den geschichtlichen Tendenzen nicht mehr zu unterscheiden sind. Die Regeln des Spiels begünstigen den Teilnehmer, der es lange betreibt. Die «momentane Größe» ist ein Sonderfall; wer dauerhaft seinen Platz auf der historischen Bühne behauptet, hat den Verdacht der Größe für sich. Die Allgegenwart des Unersetzlichen bedingt, dass er keine einnehmende Erscheinung sein wird. Er hat es nicht mehr nötig, um Sympathie zu werben. Trotzdem erlebt man ihn als aufdringlich, denn es ist gar nicht möglich, ihm aus dem Weg zu gehen.

Burckhardt ist sein eigener Begriff nicht geheuer. Wenn wir einen Handelnden daran messen, wie viele Wirkungen er ausgelöst hat, riskieren wir, «Macht für Größe zu nehmen». Im Reich des Politischen ist diese Gleichsetzung fast unvermeidlich, da die «politische Größe egoistisch sein muss und alle Vorteile ausbeuten will». Unproblematisch erscheint die Verehrung der großen Künstler und Philosophen. Sie kann man aber genau deshalb «gelten lassen», weil man «nichts von ihnen zu wissen» braucht: Dem Werk sieht man die Gewalt nicht an, der es seine Entstehung verdankt. Die Qualitäten eines Staatsmanns oder Feldherrn zeigen sich dagegen nicht in dem Erbe, das er seinen Nachfolgern hinterlässt, sondern in seinem Handeln. Die «großen Männer der historischen Weltbewegung» sind interessante Individuen, gerade weil sie im Zwielicht operieren. Die politische Tätigkeit verleitet zur Haltlosigkeit. Während der Künstler die Zeit anhält und der Philosoph die Zeit überwindet, geht der Politiker mit der Zeit. Es gibt die Sache nicht, an der er sich orientieren könnte. Man mag glauben, dass Schönheit und Wahrheit sich immer gleichbleiben. Die Macht ist kein solches Ideal jenseits von Wettbewerb und Streit; sie wird im politischen Prozess gewonnen und verloren. Der Politiker ist auf sich selbst angewiesen; andere Ressourcen hat er zunächst und zuletzt nicht. Die Ethik verpflichtet zur Selbstlosigkeit; zur Selbstbezüglichkeit nötigt die Politik. «Die historische Größe betrachtet als erste Aufgabe, sich zu behaupten und zu steigern; und Macht bessert den Menschen überhaupt nicht.»

Weshalb aber legt Burckhardt der nackten Macht überhaupt den Umhang der Größe um? Was hat Napoleon, dieser «mangelhaft ausgestattete Mensch», in der Gesellschaft des göttlichen Raffael zu suchen? Wie in den großen Werken der Kunst einer darstellt, was alle fühlen, oder in den Sternstunden der Philosophie einer beweist, was alle denken, so geschieht es auch in der Politik, dass einer tut, was alle wollen. Es mag sogar sein, dass er tut, was niemand selbst getan hätte, aber jeder getan sehen möchte. «Die Bestimmung der Größe scheint zu sein, dass sie einen Willen vollzieht, der über das Individuelle hinausgeht und der je nach dem Ausgangspunkt als Wille Gottes, als Wille einer Gesamtheit, als Wille eines Zeitalters bezeichnet wird. Hierzu bedarf es eines Menschen, in welchem Kraft und Fähigkeit von unendlich vielen konzentriert ist.» Als Beispiele nennt Burckhardt die Eroberung Persiens durch Alexander und die Einigung Deutschlands durch Bismarck.

Die Willensstärke des großen Staatsmanns ist «abnorm»; sie zerbricht jede Vorstellung vom Maß und Gleichgewicht des gesitteten Verhaltens. Diese ins Übermenschliche gesteigerte Kraft bewährt sich auf Dauer nur in der Arbeit an Zielen, die jenseits des Horizonts eines bürgerlichen Einzellebens liegen. Wer reich werden will oder dem Namen seiner Familie Respekt verschaffen möchte, gehe besser nicht in die Politik. Die unsichtbare Hand der welthistorischen Ökonomie hat es so gefügt, dass derjenige seinen Willen durchsetzen wird, der mit der Entwicklung paktiert. «Es zeigt sich, scheint es, eine geheimnisvolle Koinzidenz des Egoismus des Individuums mit dem, was man den gemeinen Nutzen oder die Größe, den Ruhm der Gesamtheit nennt.» Dem Politiker wird seine Selbstsucht nachgesehen; ihn schützt «die merkwürdige Dispensation von dem gewöhnlichen Sittengesetz», eine Immunität gegen moralische Zensuren. Der Begriff der historischen Größe bezeichnet für Burckhardt weniger ein metaphysisches als ein moralisches Rätsel. Ob das Individuum oder die Gattung als letzte Ursache der historischen Bewegung anzusehen ist, möchte er nicht entscheiden. Ihn fasziniert,...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Zum Buch314
Über den Autor314
Impressum4
Widmung5
Motto7
Inhalt9
1. Größe11
2. Aufstieg21
3. Opposition51
4. Regierung95
5. Einheit115
6. Europa153
7. Sturz189
8. Überleben259
Nachwort309

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