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Hitchcock - Angstgelächter in der Zelle

AutorIngo Kammerer
VerlagMühlbeyer Filmbuchverlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl194 Seiten
ISBN9783945378588
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
'Dealing with Hitchcock is like dealing with Bach. He thought up practically every cinematic idea that has been used and probably ever will be used in this form.' (Brian de Palma) Alfred Hitchcock zählt zu den großen Regisseuren der Filmgeschichte. Das Werk des 'Master of Suspense' ist ohne Zweifel ein besonderes und prägt das filmische Erzählen bis in unsere Tage. Gerade seine drängende Erzählweise bei mancher Abstraktion und die spezielle Rolle des Zuschauers als wesentlicher Teil des Überwältigungsspiels zeichnen Hitchcocks Filme nach wie vor aus und ermöglichen ein 'Angstgelächter in der Zelle', das ungebrochen Wirkung erzielt. In 'Hitchcock - Angstgelächter in der Zelle' flaniert Ingo Kammerer durch Alfred Hitchcocks ?uvre - konzentriert und kurzweilig, detailfreudig, und freigeistig assoziativ. Ein essayistischer Streifzug durch die Kunst dieses für die Geschichte des Films wegweisenden Werks.

Ingo Kammerer studierte Deutsch, Geschichte und Sport auf Lehramt und war danach als Lehrer an einigen Schulen im württembergischen Raum tätig. Im Anschluss an seine Promotion zu Genrefilmen im Deutschunterricht zog es ihn nach Augsburg, wo er bis heute lebt und an der dortigen Universität arbeitet.

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Leseprobe

Pure cinema – Kameraerzählungen


Hitchcock ist ein Stummfilmregisseur. Zum einen schon alleine deswegen, da seine Karriere in der Endphase dieses Filmbeginns ins Rollen kam. Zum anderen aber auch, weil er noch in klingenden Kinozeiten den Grundlagen der, wie manche behaupten, einzigen Ära wahrer Filmkunst eng verbunden blieb. Natürlich gibt es da Ton in seinem Werk und weiß er mit diesem gekonnt umzugehen, aber das Fundament des Films, so Hitchcock, sei nun mal das Bild. Damit ist die Geschichte zu erzählen und das Publikum zu ködern. Durch Bilder wird die Illusion kurzzeitig zur ›Realität‹, der Spielrahmen gesteckt und so letztlich auch über Erfolg und Misserfolg der Produktion entschieden. Jene Bilderfolge lag dann auch – da sind alle, die den Briten noch in Aktion erlebten, einer Meinung – lange vor Produktionsbeginn im Kopf des Regisseurs vor.

Der Dreh selbst? Es gab wohl Schöneres. Dreharbeiten bedeuteten immer Abstriche von der perfekten Vorstellung, Toleranz gegenüber einem Beinahe-so-gut-wie-Gewollt, gruselige Abhängigkeit von der Technik oder, noch schlimmer, von den Launen der Natur, und das mag Hitchcock wohl schwergefallen sein. Somit war diesen Unvorhersehbarkeiten zu begegnen und das visuelle Konzept im Vorfeld zu fixieren, weshalb er als einer der ersten Regisseure Szenen, Sequenzen und gelegentlich auch den kompletten Film von Storyboard-Zeichnern skizzieren ließ. Seine Aufmerksamkeit galt der Kontrolle des Bildes, was dann in der Szene noch geredet wurde, war zweit-, möglicherweise auch drittrangig. Als ein Scriptgirl ihn einmal darauf hinwies, dass James Stewart etwas ganz anderes gesagt hätte, als im Drehbuch stehe, meinte Hitchcock lapidar: »Grammatisch war es völlig in Ordnung!« Seine Treue gegenüber den Drehbuchautoren kannte Grenzen. Diese hatten grobe Sprachmuster für seine Bildvisionen zu liefern, waren gut bezahlte Ausbeutungsobjekte, und nicht jeder der Autoren – man denke z.B. an die schwierige Zusammenarbeit mit Raymond Chandler für STRANGERS ON A TRAIN – war damit einverstanden. Indes: Star war der Regisseur. Und der wollte Bilder, keine Spracherläuterungen.

»Ich bin ein Lieber von dem echtes Kinema«, formuliert Hitchcock ein wenig schief, als er 1966 in Deutschland weilt, um seinen aktuellen Film TORN CURTAIN zu bewerben. In einer kuriosen TV-Runde namens »Frankfurter Stammtisch« erläutert er den lauschenden Statisten seine Ästhetik, kramt dafür das in den 20er Jahren gelernte Deutsch hervor und lässt sich bei einem Glas Rheinwein feiern. »Echtes Kinema«, auch real, true, pure cinema ist ein Platzhalter für die rein von der Kamera und dem Schnitt erzählte Geschichte. Im Grunde also für stummes Kino. Für diese Reinheit des filmischen Erzählens gibt es ausreichend Wirkungsgründe, interessanterweise aber auch eine nicht zu übersehende deutsche Spur. Denn Hitchcock beginnt unmittelbar mit seinem ersten Auftreten eine Liaison mit dem deutschen Film der 20er Jahre und hält diese bis zu seinem Tod aufrecht.

Das Kino der jungen Weimarer Republik und dessen visuelles Vermitteln von (Erzähl-)Ideen haben ihn, er betonte das stets, stark beeindruckt und geprägt. Man sollte also den deutschen Einfluss auf seine Texte neben manchem amerikanischen und russischen nicht übersehen und dabei insbesondere Fritz Lang eine Schlüsselposition zusprechen. Hitchcock liebte z.B. DER MÜDE TOD (1921), erwähnte ihn auch, wann immer es ging, und kannte zweifellos die thrilleresken Filme Langs, deren Inhalte, dramaturgische Machart er im eigenen Werk aufgriff und verfeinerte. Langs MABUSE-Filme (1921/22, 1933) und sicherlich SPIONE (1927/28) kann man durchaus als so etwas wie den Grundstock manchen Hitchcock-Ausbaus betrachten. Eine Beziehung ist nicht zu leugnen und Lang hat das später, als Hitchcock ihn längst in Sachen Budget, Honorar und Ruhm weit hinter sich gelassen hatte, auch übel genommen. Im kleinen Kreis sprach er wohl, wie Thomas Elsaesser festhält, verbittert vom schamlosen Kopisten, den die Kritik und das Publikum nun mehr liebe als das Original, sonst aber kam ihm innerhalb seiner öffentlichen Äußerungen über das Kino (und das sind einige!) der Name Hitchcock nicht über die Lippen. Auch eine Reaktion. Und: Ja, Lang war ein wichtiger Wegbereiter Hitchcocks. Jedoch sind da auch andere Akteure und Filme relevant, z.B. Murnaus DER LETZTE MANN (1924). Dieser Film, bei dessen Herstellung Hitchcock nach eigener Aussage vor Ort war, muss für den nach Godard »deutschesten aller Regisseure jenseits des Atlantiks« so etwas wie eine Offenbarung gewesen sein, denn Murnau wagte einen Stummfilm ohne Zwischentitel und somit ohne distanzierenden Text. Das, könnte der Brite sich gedacht haben, kommt dem perfekten, reinen Film schon beängstigend nahe. Hier kann man ansetzen.

Wie sieht es aber aus, das Pure, das Idealkino Hitchcocks? Schauen wir doch zunächst auf die nie verwirklichten, jedoch von ihm erzählten Ideen für einen Film, eine Filmszene. Er plauderte gerne über seine Vorstellungen. Und wenn da auch einiges der guten Pointe und Reaktion des Gegenübers geschuldet war, kommt dabei immer sein Erzählideal zum Vorschein. So z.B. in der Truffaut geschilderten Wunschverfilmung von »24 Stunden aus dem Leben einer Stadt« – dachte er vielleicht an Ruttmanns Berlin-Film von 1927? –, in der er u.a. den Weg der Nahrung verdeutlichen wollte. »Wie sie in der Stadt ankommt, ihre Verteilung, der Kauf, der Verkauf, die Küche, der Verzehr.« Der Umgang mit Nahrungsmitteln in verschiedenen sozialen Kontexten bis hin zur Entsorgung: »Das ist ein geschlossener Zyklus, angefangen bei den noch taufrischen grünen Gemüsen bis zum Ende des Tages, wenn der Dreck aus der Kanalisation kommt.« So ein Zusammenhang braucht keine sprachliche Erläuterung, ist an sich Sprache oder Aussage genug. Hitchcock und das Dokumentarische. Ein interessanter Blickwinkel, der in Bezug auf das pure cinema gezogen werden und außerdem manche Thrillwirkung in seinen Spielfilmen erklären könnte. Reiner Film besitzt ohne Zweifel dokumentarisches Potential, eine Art Ursprünglichkeit und Berücksichtigung von realistischer Wahrnehmung, um freilich den Zuschauer emotional zu verstricken und zu unterhalten.

Wie z.B. in der kleinen Szene, die ursprünglich für das temporeiche NORTH BY NORTHWEST geplant war. Cary Grant alias Roger Thornhill, so die Idee, steht in Detroit mit einem Fließbandarbeiter der Fordwerke in irgendeiner Beziehung und trifft ihn dort. Während die beiden miteinander reden, wird im Hintergrund Stück für Stück ein Auto zusammengesetzt, aufgetankt und am Ende des Dialogs Thornhill zur Verfügung gestellt. Als dieser die Wagentür öffnet, fällt eine Leiche direkt vor seine Füße. Truffaut, dem Hitchcock diese Geschichte erzählt, ist unmittelbar elektrisiert und ruft »irre Idee«. Zu Recht. Denn die erstaunliche Pointe – wie ist die Leiche da rein gekommen? – ist schon eine besonders eindringliche Absurdität. Die Szene hätte also gut in gerade diesen Film gepasst. Reines Kino wird aber erst deutlich, wenn man sich belanglose Worthülsen, Unwichtiges im Gespräch zwischen Thornhill und dem Arbeiter vergegenwärtigt, da nur so die einzige Entwicklung in der Szene dem werdenden Auto zukommt. Dieses Wirkungsprinzip hatte Hitchcock schon früh formuliert: »What appeals to the ear is local, what appeals to the eye is universal.« Ab einer gewissen Registrierungszeit blickt der Zuschauer nur noch auf das wirklich Wichtige, das eventuell, man sitzt ja in einem Hitchcockfilm, eine überraschende Bedeutung erlangen könnte. Also bietet die Kamera das Kuchenstück, die Sprache allenfalls trocken Brot. »Gleichgültig in welche Richtung sich die Handlung entwickelt, das Visuelle muss das Publikum in Atem halten.« Filme sind Blicklektionen des Zeigens und Verbergens, der Offenbarung und des Betrugs.

Zwei Techniken sind dabei entscheidend, Kameraarbeit und Montage. Die daraus entwickelten Erzählformen eines Hitchcockfilms sind nach wie vor Paradebeispiele zur Erläuterung von reinem, zeichenhaftem Kino: Kamerabericht und Blickmontage. Wenn Jean-Luc Godard feststellt, dass das Publikum Hitchcockfilme bereits an der ersten Einstellung identifizieren könne, dann ist das auch im Bezug zum pure cinema zu lesen, das Hitchcock schon gerne in seinen Einführungen zelebrierte. Der Kamerabericht beginnt mit dem ersten Schuss, der oft genug bewegt ist, und endet mit einem bildlich eingeführten und an den Folgeschüssen interessierten Zuschauer. Z. B. zu Beginn von REAR WINDOW, an dessen Ende der Betrachter nicht nur den Handlungsraum und einige Nebenfiguren, sondern auch den eigenen Stellvertreter kennengelernt hat und noch dazu weiß, warum dieser (wie er selbst) zum bewegungseingeschränkten Zuschauen verdammt ist. Die doppelte Kinosituation dieses Werks wird in einer Exposition von gerademal 2 ½ Minuten begründet und so das Bedingungsfeld der reduzierten Wahrnehmung mit einer Kamerafahrt erzählt. Schnell gelangt man vor Ort, wird in den Konfliktraum eingeführt, und der organisierte Minimalismus, mit dem dies geschieht, wirkt noch heute.

Weitere reinliche Expositionen können angeführt werden,1 denn immer wieder erzählt Hitchcock diese Ausgangspunkte visuell und verweist das gesprochene Wort auf seinen Platz. Aber nicht nur in den Anfängen. Auch sonst übernimmt die Kamera die Aufgabe, komplexe Zusammenhänge zu berichten, Wesentliches auszustellen, Bedingungen zu erläutern – ohne ein ergänzendes Wort. Reines Kino ist, so gesehen, Angelegenheit des Film-Auges, eben jener Maschine, die, frei nach Dziga Vertov, die...

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