Der Begriff „Hochsensibilität“ existiert in seiner ursprünglichen Form „high sensory-processing sensitivity“ von Aron & Aron (1997) in unterschiedlichen Facetten, was eine konkrete Abgrenzung mitunter schwierig erscheinen lässt. Neben „Hochsensibilität“ kann der Terminus zudem mit „hoher sensorischer Verarbeitungssensitivität“ (Trappmann-Korr 2010, S.27) oder „Sensitivität für sensorische Verarbeitungsprozesse“ (Trappmann-Korr 2010, S.27) übersetzt werden. Für die vorliegende Arbeit wurde neben dem Begriff „Hochsensibilität“ die Bezeichnung „Wahrnehmungsverarbeitungssensibilität“ verwendet, da diese zum einen auf die Art der Reizverarbeitung aufmerksam macht und zum anderen nicht explizit eine hohe Sensibilität postuliert, wodurch sich bei Leserinnen und Lesern möglicherweise zunächst ein negatives Bild der quantitativen Studie abzeichnen würde. Hochsensibilität als vergleichsweise wenig erforschtes Konstrukt bezeichnet ein latentes, nicht direkt beobachtbares Temperamentsmerkmal einer Person und impliziert auf den ersten Blick eine in unserer Gesellschaft als Schwäche klassifizierte Charaktereigenschaft, was dem eigentlichen Verständnis des Begriffs nicht gerecht wird. Die Vielschichtigkeit des Begriffs wird innerhalb der vorliegenden Arbeit in Anbetracht der beiden Komponenten Beruf und Stresserleben entsprechend abgegrenzt und untersucht.
Das mehrdimensionale Konstrukt Hochsensibilität erlangte erstmals im Jahre 1997 öffentliche Aufmerksamkeit. Der Begriff wurde, wie in Kapitel 2.1 bereits dargelegt, durch die US-amerikanische Psychologin Dr. Elaine Aron in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung im „Journal of personality and social psychology“ maßgeblich geprägt (Jack 2013, S.11). In dieser Forschungsarbeit wurde das Persönlichkeitskonstrukt von der Autorin unter Bezugnahme auf frühere Forschungsarbeiten hergeleitet. Aron (1997) beruft sich unter anderem auf eine Studie, nach der 15–20 % aller Individuen einer Gesamtpopulation „auf die Konfrontation mit Reizen anders reagieren als die übrigen Populationsmitglieder“ (Jack 2011, S.2). Gemäß der Theorie von Aron & Aron (1997) zeichnen sich Personen mit Ausprägung des Persönlichkeitsmerkmals durch eine höhere sensorische Verarbeitungsempfindlichkeit, ein tieferes Reflexionsvermögen und eine stärkere physiologische Erregbarkeit aus (Aron & Aron 1997, S.362). Zum Thema Hochsensibilität existiert mitunter eine Vielzahl populärwissenschaftlicher Literatur, die jedoch nicht ausnahmslos unter wissenschaftlichen und fachlich seriösen Gesichtspunkten betrachtet werden kann. An dieser Stelle sei auf den Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität (IFHS) verwiesen, der neben aktuellen Studien auch ein wissenschaftliches Netzwerk zur Verbreitung des Wissens über Hochsensibilität bietet.
Hochsensibilität korreliert unterschiedlich stark mit den Dimensionen des Fünf-Faktoren-Modells (BIG FIVE) der Persönlichkeitseigenschaften. Die fünf großen Faktoren der Persönlichkeit bezeichnen die Eigenschaften „Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Neurotizismus, Offenheit für Erfahrung und Extraversion“ (McCrae & Costa 1986, S.1001 ff.). Von Hochsensibilität betroffene Menschen tendieren dazu, insbesondere den negativen Seiten ihrer hohen Sensibilität einen weitaus größeren Stellenwert zuzuschreiben als den damit verbundenen positiven Eigenschaften, was sicher auch zu einem nicht unerheblichen Teil auf das westlich geprägte kulturelle Leitbild zurückzuführen ist. Hochsensibilität sollte jedoch unabhängig von sozialer Introversion und Neurotizismus als eigenständiger, unverwechselbarer Persönlichkeitsbestandteil betrachtet werden (Aron & Aron 1997, S.362 ff.). Nichtsdestotrotz lassen sich gewisse Gemeinsamkeiten mit den genannten Eigenschaften des Fünf-Faktoren-Modells feststellen, die im Folgenden kurz erläutert werden.
Neurotizismus korreliert negativ mit der Einstellung gegenüber gesundheitsförderlichem Verhalten, was ebenso auf Hochsensibilität zutrifft (Courneya et al. 1999, S.317 ff.). Als gesundheitsschädlich kann in diesem Zusammenhang auch der Umgang mit physischen beziehungsweise psychischen Belastungen angesehen werden, worauf in Kapitel 2.2 näher eingegangen wird. „Eine besondere Empfänglichkeit für Schmerzen und Signale des Körpers ist für Menschen mit ausgeprägten Persönlichkeitsmerkmalen wie Neurotizismus und negativer Affektivität durch Studien belegt“ (Myrtek 1998). Auch hier ist ein Zusammenhang mit Hochsensibilität feststellbar. Das Fünf-Faktoren-Modell bezeichnet ein „umfassendes deskriptives Persönlichkeits-System, das die Beziehungen zwischen allgemeinen Traits, theoretischen Konzepten und Persönlichkeitsmerkmalen darstellt“ (Zimbardo & Gerrig 2004, S.607) Aron (2010) geht im Rahmen ihrer Studie davon aus, dass Hochsensibilität nicht vollständig in dem Fünf-Faktoren-Modell abgebildet wird, da 71 % der Gesamtvarianz nicht durch die Hauptdimensionen „Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Neurotizismus, Offenheit für Erfahrung und Extraversion“ aufgeklärt werden können (Aron 2010, S.225).
Weitere Untersuchungen deuten auf einen Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und Gelotophobie sowie einer Borderline-Persönlichkeitsstörung hin (Rawlings et al. 2010, S.163; Meyer et al. 2005, S.641). Dennoch handelt es sich bei dem Persönlichkeitskonstrukt Hochsensibilität um ein neurologisches Phänomen und nicht um eine psychische Störung im Sinne von DSM-IV[1], die es abzugrenzen gilt und die einer primären Behandlung bedarf (Trappmann-Korr 2010, S.264).
Mittels funktioneller Magnetresonanztomografie konnte bei hochsensiblen Personengruppen eine erhöhte „Gehirnaktivität in Regionen der visuellen Verarbeitung von Stimuli“ beobachtet werden, wodurch das Konstrukt von einer klinisch-diagnostischen Störung abgegrenzt werden kann (Jagiellowicz et al. 2010, S.1).
Im Rahmen dieser Arbeit soll der Zusammenhang von Hochsensibilität und der Entstehung beruflicher Gratifikationskrisen untersucht werden. Das Modell der beruflichen Gratifikationskrise wurde von dem Medizinsoziologen Johannes Siegrist entwickelt (Gretz 2012, S.18). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird die nachfolgend von Siegrist (1996) verwendete Definition von Stress angenommen und der Analyse zugrunde gelegt: „Stress bezeichnet die Reaktion des Organismus auf einen spezifischen Reiz (Stressor), welcher, aufgrund eines herrschenden Ungleichgewichts von Anforderungen und Ressourcen, eine Bedrohung für das körperliche und seelische Wohlbefinden darstellt. Diese Reaktion hängt neben der Art und Dauer des Stressors, auch von der individuellen und subjektiven Wahrnehmung der Situation ab und ist als ein sich stetig entwickelnder Prozess zu verstehen“ (Siegrist 1996, S.36 f.).
Die Arbeitspsychologie verwendet sowohl reiz- als auch situationsorientierte Modelle zur Erklärung von Arbeitsstress (Brinkmann 2014, S.195). Arbeitsbezogener Stress bezeichnet die „Gesamtheit emotionaler, kognitiver, verhaltensmäßiger und physiologischer Reaktionen auf schädliche Faktoren des Arbeitsinhaltes, der Arbeitsorganisation und der Arbeitsumgebung“ (Europäische Kommission 2002). Es wird in diesem Kontext von einem Ursache-Wirkungs- und somit einem Kausalzusammenhang zwischen einem Stimulus und der Reaktion auf eben diesen ausgegangen, ohne die komplexen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt miteinzubeziehen (Brinkmann 2014, S.196). Das „Belastungs-Beanspruchungs-Modell der Arbeitspsychologie“ von Rohmert & Rutenfranz (1975) geht ebenfalls davon aus, dass Stressoren, die psychische Arbeitsbelastungen zur Folge haben, insbesondere innerhalb der beruflichen Tätigkeit ihren Ursprung haben (Brinkmann 2014, S.197). Hierbei finden vor allem Tätigkeitsmerkmale Beachtung, die den Arbeitsinhalt, die Arbeitszeit und die generelle Beschäftigungssituation betreffen.
Das Belastungs-Beanspruchungs-Modell ist für die Beantwortung der spezifischen Fragestellung im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur eingeschränkt brauchbar, da der Fokus innerhalb des Modells auf externe Faktoren und somit ausschließlich auf Tätigkeitsmerkmale gelegt wird. Interpersonale Merkmale wie Persönlichkeitseigenschaften finden zur Erklärung des Arbeitsstresslevels keine Berücksichtigung.
In Zeiten der Industrialisierung und des stetigen technologischen Fortschritts haben sich Neuerungen in den Arbeitsprozessen und Arbeitsorganisationen ergeben, sodass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in stärkerem Ausmaß „mit psychosozialen und mentalen Arbeitsbelastungen konfrontiert sehen“ (Siegrist & Theorell 2008, S.101). Im Gegensatz zum „Belastung-Beanspruchungs-Modell“ von Rohmert & Rutenfranz (1975) kann die „Kognitiv-transaktionale Stresstheorie“ nach Lazarus (1966) einen wertvollen Erklärungsbeitrag leisten. Gemäß der Theorie von Lazarus (1966) unterscheiden sich Personen hinsichtlich ihres kognitiven Bewertungsschemas einer Situation oder Anforderung und inwiefern diese bewältigt werden kann (Brinkmann 2014, S.206 f.). Auf den betrieblichen Kontext übertragen, wirkt eine...