Im Folgenden werden zunächst evolutionäre Theorien und molekulare Mechanismen der Alterung vorgestellt. Damit wird die Grundlage geschaffen, um im weiteren Verlauf zu veranschaulichen, welche Zusammenhänge zwischen primären zellulären Alterungsmechanismen und alterungs- und ernährungsbedingten Krank-heiten bestehen. Abschließend wird eine Überleitung zu den gegenwärtigen Gesundheitsproblemen der einkommensstarken Länder vorgenommen.
Das biologische Phänomen der Alterung ist ein nach wie vor nicht vollständig verstandenes Problem der biologischen Wissenschaften. Schon 1957 deutete Georg C. Williams auf ein scheinbares Paradox hin: „Es ist wirklich verwunderlich, dass – nachdem das Wunderwerk der Embryogenese vollbracht ist – ein komplexes Metazoon an der viel simpler erscheinenden Aufgabe scheitert, einfach das zu erhalten, was schon geschaffen ist.“ (Williams 1957). Für den Menschen bedeutet dies, dass im ersten Schritt aus der Zusammenkunft einer Ei- und Samenzelle ein funktionsfähiger Körper mit der riesigen Anzahl von ca. 3,72x1013 Zellen entsteht (Bianconi et al. 2013), welche Organe, verschiedene Gewebetypen, viele verschiedene Proteine und selbst eine große Anzahl an Schutz-, Instandhaltungs-, und Reparaturmechanismen bilden, der Organismus diesen erst so aufwendig aufgebauten Körper im zweiten Schritt dann aber einfach nicht mehr instand halten kann. Aus Sicht der Physik besteht die Entwicklung von Organismen darin, Ordnung zu erhalten, indem sie Energie durch Nahrung aufnehmen und somit Entropie „exportieren“[1]. Warum die unterschiedlichen Spezies verschieden lange Lebens-spannen besitzen, könnte man dann mit deren unterschiedlichen Fähigkeit „Ordnung zu halten“ erklären.
Tatsächlich unterliegen bis auf wenige Ausnahmen alle Organismen Alterungsprozessen und sterben nach einer für sie biologisch mehr oder weniger festgelegten Zeit[2].
Um den Vorgang der Alterung zu erklären, existieren Schadenstheorien wie z. B. die Rate-of-living-Theory (Pearl 1928), die Theorie der freien Radikale (Harman 1956) und die Telomer-Hypothese (Hayflick, Moorhead 1961) sowie einige Theorien, die den Vorgang in einen evolutionären Zusammenhang stellen (Rensing, Rippe 2014, S. 17). Infolge Raymond Pearls Rate-of-Living-Theory (1928) wurde z. B. noch lange ein Zusammenhang zwischen einem niedrigen Stoffwechsel und der lebens-verlängernden Wirkung einer geringeren Nahrungsaufnahme vermutet. Die Metabolismusrate einer ad libitum gefütterten Maus ist zwar tatsächlich höher als die einer hungernden Maus, doch konnte McCarter et al. (1985) nachweisen, dass der Umsatz pro Gramm Körpergewicht sich bei Tieren mit reduzierter Kalorienaufnahme nicht reduzierte, sondern sich sogar häufig erhöhte (Kirkwood, 2000, S. 208). Brzek et al. (2012) haben schließlich ermitteln können, dass die initiale Metabolismusrate für die späteren Auswirkungen auf eine Nahrungs-restriktion entscheidend ist. So reagierten z. B. Mäuse stärker auf eine Nahrungsrestriktion, wenn ihre Umsatzrate bei Beginn der Fastenphase höher lag. Des Weiteren fanden sie keinen Zusammenhang zwischen der Höhe der Metabolismusrate und der Anfälligkeit oder dem Schutz vor oxidativem Stress. Nach Kirkwood ist nicht der Grundumsatz, sondern der Anteil der für Wartung und Instandhaltung des Körpers aufgewendete Energiebetrag maßgeblich, denn kleine Vögel hätten zwar einen höheren Umsatz wie manche kleine Säuger, würden aber in der Regel länger leben als diese (Kirkwood 2000, S. 207).
Evolutionäre Theorien der Alterung versuchen Entwicklungs- und Alterungsprozesse sowie die speziesspezifische Verteilung der Alterungsraten im Zusammenspiel mit Prozessen der Mutation und Selektion zu erklären (Ljubuncic, Reznick 2009). Eine der ersten biologischen Theorien, die den Vorgang des Alterns erklärte, wurde von August Weismann aufgestellt. Ihm zufolge sollte das Älterwerden von Organismen eine altruistische evolutionäre Anpassung darstellen, um zu verhindern, dass die Nachkommen mit ihren Eltern um knappe Ressourcen konkurrieren (Weismann 1892). Der von Weismann implizierte Mechanismus der Gruppenselektion war jedoch durch den von Williams entstandenen und Dawkins weiter verbreiteten Gedanken des Gen-Egoismus nicht mehr haltbar. Von Peter B. Medawar und William D. Hamilton wurde deshalb angenommen, dass die mit fortschreitendem Alter einsetzende Seneszenz aus der postreproduktiven Abnahme darwin’scher Selektionskräfte resultiere. Medawars Idee, dass es mit zunehmendem Alter zu einer Akkumulation von Mutationen kommt, welche durch die natürliche Selektion nicht zu verhindern ist (weil postreproduktiv), entwickelte Hamilton weiter zu seiner Theorie der antagonistischen Pleiotropie. Diese besagt, dass sich Gene in der Population ausbreiten, wenn sie sich in präreproduktiven Phasen noch positiv auf Wachstum und Reproduktion auswirken, aber erst in fortgeschrittenem Alter nachteilige Effekte auf die Lebensdauer haben. Und da nur wenige Individuen ein hohes Alter erreichen und sich in höherem Alter seltener fortpflanzen, können Gene, die erst in höherem Alter schädlich sind, nicht ausselektiert werden und akkumulieren schließlich in der Population[3] (Fabian, Flatt 2011).
Speziesspezifische intrinsische Alterungsprozesse spiegeln deshalb direkt ihre extrinsische Mortalität wieder. Die intrinsischen Prozesse sind aber das Ergebnis einer Anpassung an spezifische extrinsische Faktoren wie Nahrungsverfügung, Fressfeinde, Prädatoren, Krankheiten etc., welche durch eine Optimierung der Verteilung begrenzter Ressourcen vorgenommen wird. Auf diesen Vorstellungen aufbauend entwickelte Kirkwood die Disposable-Soma-Theory. Diese besagt, dass Zellen prinzipiell zwar beliebig exakt arbeiten können (Bsp.: Hydra, Keimbahn), aufgrund von begrenzten Ressourcen aber eine Aufteilung der vorhandenen Energie in Keim- oder Somabahn vorgenommen wird. Da der einzige biologische Imperativ das Überleben der Gene ist, lohnt es nicht in die Erhaltung des Körpers zu investieren, wenn dieser sowieso früher oder später durch Unfälle, Krankheiten oder Predatoren getötet werden kann (Kirkwood 1977). Kirkwood und Holliday griffen dann auf die Mutations-Akkumulations-Theorie und die Theorie der antagonistisch pleiotropen Gene zurück und zeigten, dass die Energieverteilung dazu führt, dass in der Keimbahn aufgrund mehr Energieressourcen wiederum mehr Energie für Reparatur- und Instand-haltungsmechanismen verwendet wird und es so zu einer geringeren Ansammlung von Schäden gegenüber der Somabahn kommt. Dadurch beschränkt sich der größte Teil der angesammelten Schäden auf die Körperzellen der Eltern, während die Nachkommen mit relativ fehlerfreiem Genmaterial aufwachsen (Kirkwood, Holliday 1979). Damit verbindet die Disposable-Soma-Theory mechanistische und evolutionäre Theorien der Alterung und legt dar, dass Alterung nicht programmiert, sondern ein „…genetisches Pseudo-Programm, ein Schatten des Entwicklungs-Wachstums“ ist (Blagosklonny 2013). Der mit der Entstehung der Metazoa evolvierte Mechanismus der Ressourcenverteilung in Keim- und Somabahn ist ein während der Evolution festgelegtes Programm, das innerhalb eines Individuallebens nicht verändert werden kann. Damit Individuen aber flexibler auf sich ändernde Umweltbedingungen reagieren können, existieren viele weitere Mechanismen, welche z. B. die Anzahl an Nachkommen und die Langlebigkeit auf die zur Verfügung stehende Nahrungsenergie abstimmen. Die Entstehung, Bedeutung und molekularen Mechanismen der Ressourcenverteilung sind für die vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung und werden in Kapitel 4 und Kapitel 5 ausführlicher behandelt.
Seitens der Biogerontologie wird die Alterung heute definiert als eine mit dem Alter fortschreitende Degeneration der intrinsischen physiologischen Funktionen, die zu einer Erhöhung der altersspezifischen Mortalitätsrate und einer Abnahme der altersspezifischen Reproduktionsrate führen (Flatt 2012). Unter Seneszenz kann spezifisch die Abnahme der physiologischen Funktionalität und unter Senilität der Komplex der pathologischen Entwicklungsprozesse von altersbedingten Krankheiten verstanden werden (Monaco, Silveira 2009). Im Zusammenhang mit dem Zellzyklus spricht man zusätzlich von Zell-Seneszenz, wenn man Zellen bezeichnet, die sich in einem Zellzyklus-Arrest befinden (Campisi et al. 2007).
Der menschliche Körper besteht aus 3,72 x 1013 Zellen (Bianconi et al. 2013) und durchläuft während seines Lebens ca. 1016 Zellteilungen (Alberts et al. 1994). Multipliziert man die Gesamtzahl der Körperzellen mit der Anzahl der durch-schnittlich in einer Zelle enthaltenen Proteine[4], Lipide und Mitochondrien[5], liegt die Vermutung nahe, dass Prozesse zur Erhaltung der DNA und anderer Zellbestandteile von hoher Relevanz für die Erhaltung der Zellen und letztlich des gesamten Organismus sind. Dementsprechend werden als wichtigste zentrale Ursachen der Alterung die oxidative Schädigung von DNA, Proteinen, Lipiden und Mitochondrien, die Telomerverkürzung sowie Gendefekte an DNA-Reparaturmechanismen an-gesehen (Rensing, Rippe 2014, S. 47).
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