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E-Book

Interkulturelle Psychologie

Verstehen und Handeln in internationalen Kontexten

AutorAlexander Thomas
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl310 Seiten
ISBN9783844426601
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis28,99 EUR
Internationale Projekte, berufliche Auslandsaufenthalte, Betreuung und Beratung von Migranten: In vielen Bereichen ist es wichtig, angemessen mit Menschen aus einem anderen Kulturkreis umzugehen. Um diese Herausforderung erfolgreich zu meistern, sind interkulturelles Verständnis und interkulturelle Handlungskompetenz erforderlich. Die Interkulturelle Psychologie liefert hierfür grundlegendes Wissen, auf dessen Basis Handlungsstrategien abgeleitet werden können. Dieses Buch beleuchtet auf der Grundlage von psychologischen Theorien und Forschungsergebnissen die psychischen Prozesse, die beim Aufeinandertreffen von Menschen aus verschiedenen Kulturen beteiligt sind: Wie entstehen Selbst- und Fremdbild? Wie entwickeln sich Fremdverstehen und interkulturelles Lernen? Welche Aspekte der interpersonalen Interaktion, wie soziale Vergleiche, Gerechtigkeit, Macht und soziale Netzwerke beeinflussen das Verhalten? Anhand von Fallbeispielen werden typische interkulturelle Begegnungssituationen geschildert und analysiert. Weitere Kapitel thematisieren, wie interkulturelle Handlungskompetenz entsteht, und zeigen Möglichkeiten auf, diese anhand von interkulturellen Trainings zu fördern.

Prof. em. Dr. Alexander Thomas, geb. 1938. Studium der Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaft an den Universitäten Köln, Bonn und Münster. 1979-2005 Professor für Sozialpsychologie und Organisationspsychologie an der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: internationales Management, Ausbildung und Förderung von Auslandspersonal (interkulturelles Training und Beratung), Teamarbeit und Teamentwicklung.

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Leseprobe

|11|1 Einführung: Kultur und interkulturelle Interaktion


1.1 Zwei Beispiele


Bevor allgemein und eher abstrakt auf die zentralen Themenkomplexe interkulturellen Verstehens und interkulturellen Handelns einzugehen ist, wird an zwei Beispielen sogenannter kulturell bedingter kritischer Interaktionssituationen illustriert, wie kulturspezifische Einflüsse menschliches Erleben und Verhalten im Kontext interpersonaler Interaktion und Kommunikation beeinflussen und determinieren.

Fallbeispiel 1: Erstbegegnungen zwischen Deutschen und US-Amerikanern

Nach einem mehrjährigen Studienaufenthalt in Deutschland wird eine US-amerikanische Studentin gebeten, ihre wichtigsten und nachhaltigsten Eindrücke in der Begegnung mit Deutschen zu schildern. Mary berichtet:

„In Deutschland ist mir aufgefallen, dass man sich nicht miteinander unterhält, auch dann nicht, wenn man zusammen am Tisch sitzt, wenn es nichts Wichtiges zu besprechen gibt. Die Deutschen scheinen auch keinen Druck zu verspüren, wenn sie schweigend zusammensitzen. In den USA dagegen ist man immer gezwungen, offen zu sein, Gespräche zu beginnen. Tut man das nicht, so fühlt man sich irgendwie unter Druck. Es ist zwar manchmal ganz nett mit vielen Menschen so in eine Unterhaltung zu kommen, aber es ist auch stressig.

Es ist schwer für mich, Deutsche kennenzulernen. Meist muss ich jemanden direkt ansprechen, dann sind die Leute auch ganz bereitwillig, sich mit mir zu unterhalten. Man kommt mit Deutschen nur schwer in Kontakt, wenn man sie um Hilfe bittet, sind sie aber sehr hilfsbereit. Sie versuchen jedenfalls einem zu helfen. Wenn Deutsche ein echtes Interesse an einem haben, dann stellen sie mir Fragen. Ansonsten kommt auch kein Gespräch auf. Am Anfang habe ich das nicht verstanden, das war sehr schwer für mich.“

Nach einem mehrjährigen Studienaufenthalt in den USA berichtet der deutsche Student Martin über seine Erfahrungen in der Begegnung mit US-Amerikanern:

„Ich saß in der Cafeteria, als plötzlich ein Amerikaner auf mich zukam und mich freundlich mit Namen begrüßte. Da ich dem Amerikaner nur vorher ein paar Mal über einen anderen Freund begegnet war und diese Begegnung auch schon über einen Monat zurück lag, war ich sehr erstaunt, dass der Amerikaner sich noch an meinen Namen erinnerte. Aus dieser persönlichen Begegnung schloss ich, dass er ein gewisses Interesse für mich haben musste. Ich war daher sehr überrascht, |12|dass er sich nach einem kurzen belanglosen Dialog verabschiedete, ohne dabei ein mögliches Wiedersehen anzusprechen. Ich habe mich schon gefragt, warum der Amerikaner überhaupt so freundlich auf mich zugekommen ist und mich mit Namen begrüßte, obwohl er scheinbar doch überhaupt nichts von mir wollte.“

Viele deutsche Studenten, aber auch Fach- und Führungskräfte im Auslandseinsatz berichten davon, dass sie in den USA immer sehr freundlich und offen bei allen möglichen Gelegenheiten angesprochen wurden, im Supermarkt, bei Behörden, von Nachbarn, im Taxi und in der Metro. Bei Partyeinladungen, bei denen sie auf Menschen trafen, die sie vorher noch nie gesehen hatten, kam es häufiger vor, dass sie von anderen ihnen bislang unbekannten Gästen ins Kino, in ein Konzert oder zu anderen Veranstaltungen eingeladen wurden oder einfach nur auf ein weiteres Wiedersehen und Treffen angesprochen wurde. Dazu wurden dann noch die Visitenkarten überreicht. Wenn sie dann auf dieses Angebot eingingen, merkten sie an der Reaktion, dass die US-amerikanischen Partygäste überhaupt nicht vorhatten, sich mit ihnen zu einem weiteren Treffen zu verabreden. Es war für diese Deutschen nicht ganz so einfach, diese manchmal als sehr intensiv erlebten Einladungen zu einer weiteren Begegnung nur als höfliche Floskel ohne jeden Verbindlichkeitscharakter anzusehen (Hufnagel & Thomas, 2006).

Die hier geschilderten Ereignisse zeichnen sich, wie alle sogenannten Erstbegegnungen, dadurch aus, dass diese spezifische interpersonale Begegnungssituation in der Regel etwas spannungsgeladen ist, sich Unsicherheit breitmacht, besondere Aufmerksamkeit und Achtsamkeit im Umgang mit den Gesprächspartnern erforderlich sind und man noch nicht so recht weiß, wie das alles enden wird. Offensichtlich haben Menschen in unterschiedlichen Kulturen nicht nur verschiedene Begrüßungsformen entwickelt, vom Händeschütteln über Verbeugen und Umarmen, Küssen, Zunge-Herausstrecken bis hin zum Nasen-aneinander-Reiben. Sie haben auch unterschiedliche Regeln zur Bewältigung von Erstbegegnungssituationen und der damit verbundenen Problematik. US-Amerikaner, das zeigen viele Berichte, gehen sehr zwanglos und offen, nahezu distanzlos, auf jeden Fall aber bemüht, die interpersonale Distanz so gering wie möglich zu halten, auf neue Gesprächspartner zu und beginnen einen Smalltalk. So erfahren sie recht schnell einiges über die neuen Bekannten und schaffen zudem eine freundschaftliche, aber doch unverbindliche und zu nichts verpflichtende Gesprächsatmosphäre.

Die kulturell bedingten Unterschiede hinsichtlich des Grades der Zugänglichkeit zu verschiedenen Schichten der Persönlichkeit zwischen Deutschen und US-Amerikanern waren schon dem bedeutenden Sozialpsychologen Kurt Lewin (1936) aufgefallen. Er identifizierte einen A-Typ für US-Amerikaner, bei dem die äußeren Schichten der Persönlichkeit zwar leicht zugänglich sind, bei dem aber die innere Schicht für fremde Personen unzugänglich bleib. Der D-Typ steht |13|für Deutsche, die sich zwar zunächst schwertun, fremde Personen zu nah an sich heranzulassen. Wenn es aber gelingt, ein gegenseitiges freundschaftliches Verhältnis aufzubauen, dann ist bei ihnen auch ein Zugang zur inneren Schicht möglich, die bei US-Amerikanern verschlossen bleibt. Lewin war der Meinung, dass es eines vertieften Verständnisses für diese Unterschiede bezüglich der Zugänglichkeit zu den Schichten der Persönlichkeit, auch als „Peaches“ (außen weich und innen hart) bei US-Amerikaner und „Coconut“ (außen hart und innen weich) bei Deutschen bezeichnet, bedarf, um eine harmonische und störungsfreie Zusammenarbeit erreichen zu können.

Man kann diese kulturbedingten Unterschiede in der zwischenmenschlichen Begegnung zwischen Deutschen und US-Amerikanern auch mithilfe des Kulturstandardkonzepts, das in Abschnitt 1.5 ausführlich dargestellt wird, gut erklären. Demnach ist bei Deutschen und US-Amerikanern der Umgang mit interpersonaler Distanz unterschiedlich ausgeprägt, was dazu führt, dass sich unterschiedliche Erwartungen und Verhaltensgewohnheiten einstellen: Deutsche reagieren bei ihnen zunächst fremden Interaktionspartner nach dem Motto: „Mische dich nicht ungefragt in die Angelegenheiten anderer Menschen ein!“, und nehmen dabei im Zuge des Distanzmanagements eine Distanzdifferenzierung vor. Dies führt dazu, dass sie erst einmal nach sehr gut bekannten, flüchtig bekannten und unbekannten Personen differenzieren. Sehr gut bekannte Personen müssen unbedingt begrüßt, angesprochen und eventuell etwas unterhalten werden. Flüchtig bekannte Personen können begrüßt werden, doch besteht hier kein Zwang. Unbekannte Personen bedürfen ohne zwingenden äußeren Grund keinerlei sozialer Aufmerksamkeit, und man sollte sich ihnen auch nicht aufdrängen. Aufdringlichkeit, gar Distanzlosigkeit, wird stärker sozial abgelehnt als ausgeprägte Formen sozialer Zurückhaltung. Gut bekannte Personen werden in Deutschland relativ schnell zu Freunden, genießen dann dauerhaft volles Vertrauen und man gesteht ihnen das Recht zu, Hilfe und soziale Unterstützung, wann immer sie benötigt wird, in Anspruch nehmen zu können. Es entsteht so eine enge Beziehung zwischen Personen (Freunden), die womöglich lebenslang hält.

Im Unterschied dazu gilt für US-Amerikaner das Gebot der unbedingten Distanzminimierung. Unabhängig davon, ob sie einen potenziellen Kommunikations- und Interaktionspartner sehr gut oder überhaupt nicht kennen, sind sie bemüht, durch verbale oder nonverbale Formen der Kommunikation, durch unterhaltende, aber unverbindliche Gespräche (Smalltalk), durch persönliche Informationen oder durch unverbindliche, aber als freundliche Geste gemeinte Einladungen zu gemeinsamen Treffen, eine angenehme, freundliche und sozial kommunikative Atmosphäre zu schaffen. Die US-amerikanische Studentin aus dem obigen Beispiel drückte das sehr treffend aus: „In den USA ist man immer gezwungen, offen zu sein, Gespräche zu beginnen. Tut man das nicht, so fühlt man sich irgendwie unter Druck. Es ist zwar manchmal ganz nett, mit Menschen so in eine Unterhaltung zu kommen, aber es ist auch stressig!“ ...

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