Alle Eltern machen Fehler
In diesem Kapitel erfahren Sie ...
- warum Erziehung ohne Auseinandersetzungen nicht möglich ist
- welche guten Gründe Ihr Kind haben kann, sich auffällig zu benehmen
- wie es zu einem verhängnisvollen Kampf um Aufmerksamkeit kommen kann
- wie Sie einen Kampf um Aufmerksamkeit überflüssig machen können
- welche Reaktionen bei Eltern besonders beliebt und gleichzeitig besonders unwirksam sind
- warum feindselige Reaktionen der Eltern verhängnisvolle Folgen haben können
Und jeden Tag Theater … Der Kampf um Aufmerksamkeit
Warum wollen Kinder kämpfen?
Erziehung ohne Konflikte und ohne Auseinandersetzungen ist nicht möglich. Das hat einen ganz einfachen Grund: Erziehen bedeutet manchmal, etwas zu beenden, was Ihrem Kind Spaß macht. Fernsehen, Süßigkeiten essen, im Wasser herumplanschen, draußen spielen, toben – immer wieder sind Sie als Eltern die »Spaßverderber«, die irgendwann sagen: »Jetzt ist es genug. Jetzt musst du damit aufhören.« Damit machen Sie sich nicht gerade beliebt. Es ist völlig verständlich, dass Ihr Kind dann protestiert, schimpft oder schlechte Laune bekommt. Und dass es versucht, seine schlechte Laune am »Spaßverderber« auszulassen. Erziehen bedeutet auch: Kinder zu etwas bewegen, was ihnen keineswegs Spaß macht – aufräumen, Zähne putzen, ins Bett gehen, Hausaufgaben machen. Viele Kinder tun das nicht von allein. Wieder liegt es nahe, dass sie protestieren, schimpfen, schlechte Laune bekommen und sie an denen auslassen, die diese langweiligen Sachen von ihnen fordern. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind würde auf jede Aufforderung antworten: »Ja, Mami«. Und dann würde es sofort das machen, was Sie von ihm wollen. Käme Ihnen das nicht merkwürdig vor? Die meisten Kinder sind von Natur aus keine braven Lämmchen.
Sie ähneln eher kleinen Löwenkindern, die sich den ganzen Tag im spielerischen Kampf messen.
Auch kleine Menschenkinder wollen wissen, wer der Stärkere ist
Sie wollen wissen, wie viel Macht und Einfluss sie haben und bei wem und womit sie sich durchsetzen können. Dabei haben sie es etwas schwerer als die kleinen Löwen: Sie wachsen in der Regel nicht zusammen mit gleichaltrigen Geschwistern auf. Viele haben überhaupt keine Geschwister. Zum Kämpfen brauchen sie ihre Eltern.
Diese grundsätzliche Kampfbereitschaft haben die Menschen mit allen Säugetieren gemeinsam. Der verhaltensbiologische Fachbegriff dafür heißt »Aggressive soziale Exploration«: Die Kinder erforschen (= Exploration), wie weit ihr Einfluss in ihrem sozialen Umfeld geht, bei wem sie was bewirken können.
Dazu gehört zum Beispiel das harmlose Spiel, immer wieder den Löffel vom Hochstuhl fallen zu lassen und sich jedes Mal zu freuen, wenn Mama ihn wieder aufhebt. Es gehört aber auch dazu, aggressives Verhalten auszuprobieren: hauen, beißen, sich schreiend auf den Boden werfen. Es ist völlig normal, dass Kinder dieses Verhalten ausprobieren. Und es ist die Aufgabe der Eltern, ihnen dann Grenzen zu setzen, wenn sie zu weit gegangen sind und andere mit ihrem Verhalten beeinträchtigen. Oder wenn sie ihren Willen durchsetzen wollen, obwohl gerade keine Zeit für Spaß ist, sondern Pflichten erfüllt werden müssen.
Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich drei wichtige Konsequenzen:
- Es ist nicht gut für die Stimmung in der Familie, wenn nur einer der beiden Eltern die undankbare Rolle des »Spaßverderbers« übernimmt. Oft bleibt dieser Job an der Mutter hängen, während der Vater eher für die angenehmen Freizeitaktivitäten zuständig ist. Viel sinnvoller ist es, wenn beide Eltern an beidem teilhaben: Spaß mit dem Kind haben, aber auch Pflichten einfordern.
- Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kind lassen sich nicht ganz vermeiden. Kinder müssen kämpfen, wenn sie nicht ihren Willen bekommen. Aber die Eltern müssen nicht jeden Kampf mitmachen. Sie müssen nicht jede Provokation, jedes Schimpfen und jeden Trotzanfall ihres Kindes auf sich beziehen. Sie können ruhig und gelassen bleiben, denn Sie können davon ausgehen: Ihr Kind meint es nicht persönlich. Es testet nur gerade wieder aus, wie weit es gehen kann. An wem könnte es das besser testen als an Ihnen?
- Nicht alle Kinder finden es gleichermaßen faszinierend zu kämpfen und sich zu messen. Von den ersten Lebensmonaten an gibt es da große Unterschiede. Die kleinen »Kämpfer« können sich furchtbar aufregen, wenn etwas nicht nach ihrem Willen geht. Ein winziger Anlass – zum Beispiel ein nicht sofort erfüllter Wunsch nach einer Süßigkeit – kann heftigste Reaktionen auslösen: lang anhaltendes Brüllen, auf den Boden werfen, mit dem Kopf schlagen. Je größer das Kämpferherz, desto stärker und ausdauernder wird versucht, das erwünschte Ziel zu erreichen. Für die Eltern solcher Kinder ist die Erziehung eine besondere Herausforderung. Nachgeben bedeutet: »Endlich Ruhe!« Es bedeutet aber auch: dem Kind gute Gründe geben, mit seinem auffälligen Verhalten weiterzumachen.
? Gute Gründe für auffälliges Verhalten – ein Kreislauf
Wenn Sie Ihrem Kind Grenzen setzen, reagiert es verständlicherweise missmutig. Es will seinen Willen durchsetzen und kämpft darum. Die Art und Weise, wie es kämpft, empfinden Sie zu Recht oft als unangemessenes Verhalten: Ihr Kind läuft weg, schreit, wirft sich auf den Boden, schlägt, bleibt nicht in seinem Bett. Warum passiert das immer wieder? Ist es wirklich die reine Lust an der Auseinandersetzung? Es lohnt sich, genauer hinzusehen: Was passiert, wenn sich mein Kind auffällig verhält? Wie reagiere ich? Gebe ich ihm Gründe, sich beim nächsten Mal besser zu benehmen? Oder hat es gute Gründe, auch bei der nächsten Gelegenheit wieder »auszuflippen«? Fast immer hat ein Kind gute Gründe, mit seinem auffälligen Verhalten fortzufahren. Dafür sorgen die Eltern, ohne es zu wollen.
Eltern sind auch nur Menschen. Manchmal erreichen sie mit ihren Reaktionen genau das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigen. Sie belohnen ihr Kind für sein unangemessenes Verhalten. So hat es keinen Grund, sein Verhalten zu ändern. Fast immer spielt dabei ein ganz grundlegender Wunsch des Kindes eine Rolle: »Ich will Aufmerksamkeit! Ich will wichtig genommen werden! Ich will dazugehören!«
Schauen wir uns noch einmal das Verhalten der »schwierigen Kinder« aus dem ersten Kapitel an. Zunächst war da Paul, das Baby, das pausenlos beschäftigt werden will (siehe >). Warum brüllt Paul so oft, obwohl er doch so viel Zuwendung bekommt? Gegenfrage: Warum sollte er damit aufhören? Er macht doch täglich viele Male die Erfahrung, dass sein Schreien sich auszahlt: Alle paar Minuten lässt sich seine Mami etwas Neues für ihn einfallen. Wie sollte er auf die Idee kommen, sich eine eigene Beschäftigung zu suchen? Wie soll er auf die Idee kommen, dass er sich ganz allein entscheiden kann, mit dem Schreien aufzuhören – wo seine Mami ihn doch bisher jedes Mal getröstet hat?
Erinnern Sie sich an Patrick, den »Schrecken der Spielgruppe« von >? Was passiert, wenn er wieder ein anderes Kind verhaut oder ihm Spielzeug wegreißt? Seine Mutter kommt schnell zu ihm, erklärt ihm, dass er das nicht darf und warum er es nicht darf, und sie beschäftigt sich in der nächsten Viertelstunde besonders intensiv mit ihm, um ihn »abzulenken«. So hat Patrick nichts verloren und jede Menge Aufmerksamkeit gewonnen. Warum sollte er sein Verhalten ändern?
Carola, die »schlechte Esserin« (siehe >), macht die Erfahrung: Ich bekomme am meisten Aufmerksamkeit, wenn ich beim Essen Theater mache. Damit kann ich jede Mahlzeit ausdehnen und kontrollieren.
Miriam, das Kindergartenkind (siehe > und >), erreicht mit ihrem Trödeln, dass sie zu Hause bleiben darf.
Vicky (siehe >) erreicht mit ihren Bauchschmerzen, dass sie nicht in die Schule muss.
Alle diese Kinder haben eins gemeinsam: Ihr auffälliges, unerwünschtes Verhalten zahlt sich aus. Sie bekommen mehr Aufmerksamkeit. Welches auffällige Verhalten sie wählen, macht keinen großen Unterschied. Jedes Kind hat sein individuelles Temperament. Jede Mutter und jeder Vater hat aber auch ihre beziehungsweise seine besonders verletzliche Seite. Oft haben Kinder ein genaues Gespür dafür, mit welchem Verhalten sie ihre Mutter oder ihren Vater am wirkungsvollsten verunsichern können. Und je unsicherer die Eltern wirken, desto eher bekommt das Kind »Oberwasser«. Es lernt zusätzlich: »Ich bekomme nicht nur Aufmerksamkeit – ich setze sogar meinen Willen durch! Ich bin stärker als meine Eltern! Ich entscheide hier, wie es läuft!«
Tatsächlich bekommt ein Kind oft viel mehr Einfluss, als ihm gut tut. Es fühlt sich stark, weil es im Machtkampf mit anderen, sogar mit Erwachsenen, oft Sieger bleibt. Mit echtem Selbstvertrauen...