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Von Kartoffeln und Kanaken

Warum Integration im Klassenzimmer scheitert. Eine Lehrerin stellt klare Forderungen

AutorJulia Wöllenstein
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783961213825
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Julia Wöllenstein ist eine engagierte Lehrerin an einer Gesamtschule. Die Mehrzahl ihrer Schüler hat einen Migrationshintergrund, was nicht nur aufgrund der oft nur rudimentären Deutschkenntnisse zu Problemen führt. Unterschiedliche kulturelle und religiöse Hintergründe führen zu Konflikten untereinander, die einen Lehrer vor Aufgaben und Herausforderungen stellen, die weit über das normale Unterrichten hinausgehen. Dennoch muss und kann Integration in der Schule funktionieren. Die Autorin zeigt, wie Kinder mit unterschiedlicher Herkunft und Begabung besser miteinander lernen können. Gleichzeitig gibt sie einen Ausblick auf eine Schule, wie sie einmal sein muss - mit klaren Regeln und einer gelungenen Integration.

Julia Wöllenstein, Lehrerin für evangelische Religion, Englisch und Darstellendes Spiel sowie ausgebildete Sozial- und Theaterpädagogin unterrichtet an einer Gesamtschule in Hessen mit kulturellem Schwerpunkt und hat einen Lehrauftrag für ästhetische Bildung an der Universität Kassel. Sie setzt sich dafür ein, Schülern aus bildungsfernen Elternhäusern und Schülern mit Migrationshintergrund mehr gesellschaftlichen Rückhalt zu geben und beschäftigt sich mit der Frage, wie Integration in Schulen gelingen kann.

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Leseprobe

Einleitung: Eine klare Haltung kommunizieren


»Das sagen Sie nur, weil Sie Rassist sind, Frau Wöllenstein.«

Im Sommer 1991, im Alter von 16 Jahren, verbrachte ich meine Sommerferien gemeinsam mit einer Freundin in Belgien. Eines Abends lernten wir dort zwei einheimische Jungen kennen und nutzten die Gelegenheit, unser spärliches Schulenglisch zu testen. Zu viert plauderten wir nett, bis einer von ihnen zu mir sagte: »Your grandfather killed my grandfather.«

Ich lachte irritiert, da ich nicht so recht wusste, worauf der Junge hinauswollte, aber er legte nach. »The Second World War, don’t you know?«

Ich war peinlich berührt und beendete das Gespräch sofort. Nicht etwa, weil ich vom Zweiten Weltkrieg keine Ahnung gehabt hätte, im Gegenteil. Ich hatte viel über die Zeit gelesen, hatte Filme gesehen und das Thema selbstverständlich in der Schule durchgenommen. Aber aus der Perspektive »Dein Großvater hat meinen Großvater umgebracht« hatte ich den Krieg noch nie betrachtet.

Mich beschäftigte dieses Gespräch noch lange und mit der Zeit wurde mir klar, dass dieses geschichtliche Erbe mein Handeln in bestimmten Bereichen beeinflusste, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre.

All mein Wissen über »unsere« Vergangenheit und »unsere« kollektive Schuld, die »wir« uns aufgeladen hatten, führte dazu, dass ich jeder mir fremden Kultur bedingungslos offen gegenüberstand. Ich forderte mir unentwegt eine Toleranz ab, die kein Nachfragen zuließ. Unsere Geschichte prägte mein Verhalten gegenüber Menschen nichtdeutscher Herkunft in einem Maße, das mir erst langsam deutlich wurde.

In Begegnungen hielt ich mich automatisch zurück, wenn es darum ging, etwas über »die deutsche Kultur« zu erzählen. Was ist schon wirklich »typisch deutsch«, dachte ich meistens. Umgekehrt interessierte es mich allerdings brennend, was andere über »die Deutschen« und das Land, in dem ich lebte, dachten und welche Bilder der Gedanke an Deutschland in ihren Köpfen entstehen ließ. Ich erfreute mich an Klischees über dirndl- und lederhosentragende Deutsche, die pausenlos Bier tranken und Weißwurst, Brezeln und Kartoffeln essen.

Wenn das die typischen Deutschen waren, die man im Ausland zu kennen glaubte, dann hatte ich nichts zu befürchten, immerhin hatte ich noch nie in meinem Leben ein Dirndl getragen. Ich hatte aber auch kein Problem mit diesen Stereotypen. Solche Vorurteile als dumm oder gar ignorant zu bezeichnen, wäre mir nie in den Sinn gekommen, schließlich stand es mir als Deutsche nicht zu, andere zu kritisieren. Stattdessen legte ich immer größtmöglichen Wert darauf, nicht als typisch deutsch zu gelten und betonte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass ich tatsächlich völlig undeutsch sei. Für mich schwang bei dem Begriff »deutsch« auch immer das Wort »Nazi« mit. Und wer wollte schon ein Nazi sein? Ich jedenfalls wollte mit Nazis absolut nichts gemein haben und das hat sich bis heute nicht geändert.

Gleichwohl habe ich aber inzwischen erkannt, dass ich mich manchmal »typisch deutsch« verhalte und dass ich keinesfalls der einzige Mensch auf Erden bin, der es geschafft hat, sich völlig unabhängig von seinem kulturellen Umfeld zu entwickeln. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Und auch wenn ich viel gereist bin, lebe ich in Deutschland. Welches andere Land, welche andere Kultur hätte mich also prägen sollen?

Für mich war es immer völlig selbstverständlich, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Bei Diskussionen mit Freunden, in beruflichen Zusammenhängen oder gar bei öffentlichen Diskussionen hatte ich niemals Angst, meine Meinung zu sagen, egal zu welchem Thema. In meinem Kopf gab es keine Hierarchien, die mich davon abgehalten hätten zu sagen, was ich denke, außer vielleicht gegenüber der Polizei oder den Fahrscheinkontrolleuren.

Niemals habe ich mich gefragt, ob es mir überhaupt gestattet ist, mein Leben so zu leben, wie ich es möchte. Ich habe zweimal studiert, eine Weiterbildung gemacht und acht Jahre lang als Kinder- und Jugendbetreuerin gearbeitet. Nun bin ich seit sechs Jahren Lehrerin an einer Gesamtschule, habe einen Lehrauftrag an der Universität und schreibe gelegentlich Artikel für pädagogische Fachzeitschriften. Ich arbeite, verdiene mein eigenes Geld und ziehe meine drei Kinder alleine groß, so, wie ich es für richtig halte. Und es löst bei mir bis heute Befremden aus, wenn es auf Plastikflaschen kein Pfand gibt.

So lebt man in Deutschland eben bzw. ich lebte so als Kind der 70er in einer Familie mit aufgeklärten und emanzipierten Eltern. Früher habe ich das nie hinterfragt und als selbstverständlich angesehen. Nichts davon habe ich als kulturelle oder gesellschaftliche Errungenschaft erachtet, die ich verteidigen oder zumindest verbalisieren müsste. Obwohl es genau das ist – eine kulturelle Errungenschaft, die in Deutschland Frauen auch erst seit ca. 100 Jahren zusteht. Also das selbstbestimmte Leben. Nicht die Pfandflaschen. Aber die sind auch nicht ausschlaggebend für unser demokratisches Wertegerüst, die Gleichberechtigung von Mann und Frau aber schon.

Inzwischen bringt es meine Arbeit als Lehrerin jedoch mit sich, dass ich mich hier klar positionieren muss, denn immer öfter arbeite ich mit Schülern, deren Eltern aus anderen Kulturkreisen nach Deutschland gezogen sind. Manche dieser Schüler sind bereits hier geboren, andere sind erst relativ frisch hier angekommen. Im Umgang mit ihnen erlebe ich nun fast täglich Situationen, in denen ich buchstäblich sprachlos bin. Etwa wenn mir ein Schüler wieder einmal vorwirft, ich würde ihm eine schlechte Note geben, weil ich Rassistin sei. Manchmal sagen sie auch mit einem Augenzwinkern: »Das sagen Sie jetzt nur, weil ich schwarz bin, Frau Wöllenstein.« Ich erkläre dann, wie es zu der Benotung oder Aussage kam, aber eine leichte Verunsicherung bleibt, obwohl ich ganz genau weiß, dass Schüler mit derlei Provokationen spielen. Sie sind in der Pubertät und sowas machen Pubertierende nun mal.

Es gibt jedoch auch Situationen, da habe ich eine klare Haltung und keine Möglichkeiten sie durchzusetzen. Wenn etwa Schülerinnen von der Schule genommen werden, weil sie auf Wunsch der Eltern heiraten sollen oder wenn Mädchen nicht auf Klassenfahrt mitkommen dürfen, ihre Brüder aber schon, oder wenn ich merke, dass sie bei einer schlechten Note Angst haben, zu Hause geschlagen zu werden. Dann bin ich mir sicher, dass es solche Einschränkungen und unterschiedlichen Behandlungen von Jungen und Mädchen in unserem Land nicht geben darf, und ich versuche, das zu kommunizieren. Zu Beginn meiner Laufbahn als Lehrerin habe ich nicht damit gerechnet, dass solche Gespräche einmal zu meinem Berufsalltag gehören würden und an der Universität wurden wir auch nicht darauf vorbereitet.

Ich musste bis dahin meine Einstellung zu Emanzipation und demokratischen Werten nicht offen kommunizieren oder verteidigen. Meine Haltung war für mich immer selbstverständlich, zudem auch meine Privatsache, die ich niemandem als den einzig wahren Weg aufdrücken wollte. Denn mein geschichtliches Erbe wies mich an, die Lebensweisen meiner Mitmenschen, also auch die der mir anvertrauten Schüler, weder zu hinterfragen noch zu bewerten.

Durch den Lehreralltag habe ich aber schnell gemerkt, dass ich Worte finden muss, mit denen ich mich ganz klar positioniere. Ich muss eine Haltung finden, die das, was ich als normales Leben empfinde, als eine Art Wertegerüst offen kommuniziert.

Das Leben, das ich persönlich führe, mag nicht jedermanns Sache sein, aber der Grundsatz, dass jeder Mensch so leben darf, wie er es möchte, solange er damit niemand anderem schadet, den muss ich formulieren können und meinen Schülern gleichzeitig deutlich machen, dass mich diese Haltung eben nicht zu einer Rassistin macht oder in die Nähe von Nazis rückt.

Wenn ich meine freiheitliche und demokratische Grundhaltung nicht nach außen kommuniziere und meinen Schülern als lebenspraktisches Modell zur Diskussion stelle, werde ich der Aufgabe nicht gerecht, die Schüler auf ein Leben in Deutschland vorzubereiten. Denn das gehört auch zum Lehrerberuf. Lehrer sind in erster Linie dem Grundgesetz verpflichtet und nicht falsch verstandener Toleranz.

So einfach ist das. Und so schwierig, denn in erster Linie bin ich Lehrerin geworden, um Schülern Englisch oder Darstellendes Spiel beizubringen. Anfangs sogar noch, um mit Schülern über den evangelischen Glauben zu philosophieren, doch alles auf einer fachlichen Ebene. Mich als Person mit meinem Werdegang und meiner persönlichen Haltung in die tägliche Arbeit einzubringen und dennoch professionelle Distanz zu wahren, wirkt manchmal wie ein unmöglicher Spagat.

In letzter Zeit wird mir allerdings eines klar: Mich diesem oft anstrengenden Prozess nicht zu unterwerfen, weil ich auf diese Art der persönlichen Auseinandersetzung keine Lust habe oder mich damit herausrede, mir stünde es aufgrund der deutschen Vergangenheit nicht zu, jemandem Grenzen aufzuzeigen, bedeutet nichts anderes, als keinen Respekt vor meinen Schülern zu haben. Denn sie haben es verdient, dass ich ihnen ein demokratisches und emanzipiertes Vorbild bin, das sich mit ihrer Lebenswelt auseinandersetzt. Jemand, der ihre Fragen beantwortet und ihre Unsicherheiten mit ihnen diskutiert, damit sie lernen, eigenständig zu denken und Dinge zu hinterfragen. Sonst bekommen sie womöglich nie die Chance, den Platz in der Mitte unserer Gesellschaft zu finden, der ihnen zusteht. Ohne eine klare Haltung gegenüber meiner Kultur, meinen Werten und auch meinem Verständnis von Religion und Glauben nehme ich ihnen die Möglichkeit, sich in diesem Land zu integrieren....

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