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Körperdysmorphe Störung

Manuale für die Praxis

AutorAndrea S. Hartmann, Anja Grocholewski, Ulrike Buhlmann
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl83 Seiten
ISBN9783844426694
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Menschen, die unter einer Körperdysmorphen Störung (KDS) leiden, beschäftigen sich bis zu mehreren Stunden täglich mit einem oder mehreren wahrgenommenen Makeln ihres Körpers, obwohl andere Personen ihre Befürchtungen nicht teilen. Sie führen zeitaufwendige, sich wiederholende Verhaltensweisen oder gedankliche Handlungen aus, z.B. überprüfen sie ständig ihr Aussehen in Spiegeln oder vergleichen das eigene Aussehen mit dem von anderen, was zu einer starken Beeinträchtigung der sozialen Beziehungen bis hin zur sozialen Isolation führen kann. Der Band liefert zunächst eine Beschreibung der Störung, referiert aktuelle Daten zur Epidemiologie und Komorbidität und gibt Hinweise zur Entstehung und Diagnostik der Störung. Im Anschluss wird praxisorientiert das kognitiv-verhaltenstherapeutische Vorgehen beschrieben. Zentrale Elemente des Behandlungsansatzes sind die gezielte Veränderung negativer aussehensbezogener Gedanken und Grundüberzeugungen sowie ungünstiger Aufmerksamkeitsprozesse, Verhaltensexperimente und die Exposition mit Reaktionsverhinderung. Dabei geht der Band auch auf Schwierigkeiten bei der Durchführung der Therapie sowie auf Suizidalität ein. Weitere optionale Behandlungsbestandteile sowie die pharmakologische Behandlung werden zusammenfassend dargestellt.

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Leseprobe

2 Entstehungs- und aufrechterhaltende Faktoren und Störungsmodelle


Wie auch bei anderen psychischen Störungen werden bei der KDS die möglichen Ursachen zur Entstehung der Störung auf biopsychosozialer Ebene beschrieben. Man geht davon aus, dass an der Entstehung der KDS entwicklungs-, psychosoziale, kognitive, verhaltens-, neuropsychologische und neurobiologische Faktoren beteiligt sind (Feusner, Neziroglu, Wilhelm, Mancusi & Bohon, 2010).

Zwillings- und Familienstudien legen einen gewissen genetischen Anteil bei der Entstehung der Störung nahe. Insgesamt 8 % der erstgradigen Verwand|13|ten von Personen mit KDS litten irgendwann in ihrem Leben auch an einer KDS, was ein 3- bis 4-fach höheres Risiko im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung darstellt. Auch eine Zwillingsstudie, die auf die Untersuchung genetischer Veranlagung körperdysmorpher Befürchtungen (ohne zwingende Diagnose einer KDS) abzielte, kam zu dem Ergebnis, dass genetische Faktoren ca. 44 % der Varianz körperdysmorpher Befürchtungen aufklären. Wenig ist zu spezifischen Genen bekannt. Die bislang einzige Studie in diesem Bereich konnte Auffälligkeiten am GABAA-γ2-Rezeptorgen feststellen. Weitere Studien zeigen Auffälligkeiten im frontostriatalen System sowie bzgl. der Serotoninfunktion. Bildgebende Verfahren weisen auf eine abnorme visuelle Informationsverarbeitung mit einem Fokus auf Details in Gesichts- und Objektwahrnehmung hin. Diese Befunde lassen allerdings offen, ob diese Auffälligkeiten als Ursache oder aufrechterhaltender Faktor der KDS zu verstehen sind.

Psychologische Überlegungen zur KDS schließen unter anderem verschiedene Formen der Konditionierung bzw. Lernens mit ein. Im Speziellen wird die Entstehung und Aufrechterhaltung der KDS einerseits durch operante Konditionierung gekoppelt mit sozialem Lernen (Entwicklung von Werten und Überzeugungen bezüglich Attraktivität und positive Verstärkung der Person für sein Erscheinungsbild) erklärt. Andererseits soll auch klassische Konditionierung die Entstehung der KDS erklären, z. B. wenn eine Person aufgrund von Hänseleien negative Gefühle empfindet und der Kontext der Hänselei (bestimmte Wörter, das Bild im Spiegel) mit dem negativen Gefühl gekoppelt wird. Durch eine Konditionierung höherer Ordnung kann die Konditionierung von einer Körperstelle auf andere Körperteile generalisiert werden. Im weiteren Verlauf führen Rituale und Vermeidung zu einer Reduktion der negativen Gefühle. Dadurch wird die Symptomatik negativ verstärkt, und Realitätstestungen finden nicht mehr statt. Bisher fehlen jedoch entsprechende Studien, die diese lerntheoretisch begründeten Konzepte bzgl. der Entstehung und Aufrechterhaltung der KDS überprüfen.

Weiterhin gibt es zahlreiche Studien zu Persönlichkeits-, kognitiven, Wahrnehmungs- und emotionalen Faktoren, die bei der Entstehung bzw. Aufrechterhaltung der KDS eine Rolle spielen könnten. Bezüglich Persönlichkeitsfaktoren wurde gezeigt, dass Personen mit KDS ein hohes Ausmaß an Perfektionismus, Neurotizismus und ein geringes Maß an Extraversion aufweisen.

Ebenso charakteristisch für die KDS sind dysfunktionale Gedanken und Einstellungen wie „Wenn ich hässlich bin, werde ich niemals jemanden kennenlernen“ oder „Wenn ich unattraktiv bin, bin ich nichts wert“. Auch tendieren Personen mit KDS im Vergleich zu psychisch gesunden Personen dazu, ihre eigene Attraktivität zu unterschätzen und die anderer zu überschätzen sowie mehrdeutige soziale Situationen negativ verzerrt zu interpretieren (z. B. „Die Bedienung kommt nicht sofort an meinen Tisch, weil ich so entstellt bin“). In |14|Bezug auf die Bewertung emotionaler Gesichtsausdrücke tendieren die Betroffenen insbesondere in selbstbezogenen Situationen dazu, neutrale Ausdrücke als ärgerlich oder abweisend fehlzuinterpretieren. Dies könnte die häufig vorkommenden Beziehungsideen („Der macht sich gerade über mich lustig, weil ich hässlich bin“) mit erklären. Weitere Studien weisen darauf hin, dass bei der KDS generell Schwierigkeiten in der Emotionserkennung bestehen, unabhängig von der gezeigten Emotion.

Die KDS wird weiterhin mit einer priorisierten Informationserarbeitung für das Detail (vs. holistische Aspekte) assoziiert. So lässt sich beobachten, dass sich Personen mit KDS (vs. psychisch Gesunde) nach Darbietung einer komplexen Figur, die aus verschiedenen geometrischen Elementen besteht, eher an Details als an das Ganze erinnern. Dieser Befund wurde von bildgebenden Studien (siehe oben) bestätigt. Blickbewegungsstudien weisen darauf hin, dass KDS-Betroffene im Vergleich zu Personen mit Sozialer Angststörung und psychisch Gesunden sowohl im eigenen Gesicht als auch in fremden Gesichtern häufiger auf Detailregionen sehen, die als makelbehaftet beurteilt werden (z. B. Grocholewski, Kliem & Heinrichs, 2012).

Zu den sozialen Faktoren zählen u. a. interpersonale und kulturelle Aspekte. Als bedeutsamer interpersonaler Aspekt spielen Hänseleien, insbesondere bzgl. der äußeren Erscheinung oder Kompetenz, eine Rolle und sind positiv mit dem Schweregrad der KDS assoziiert. Als dahinterstehender Mechanismus wird angenommen, dass Betroffene lernen, dass „gutes“ Aussehen besonders verstärkt wird und sich dadurch eine übermäßige Wichtigkeit von physischer Attraktivität entwickelt. Die Frage nach der Schönheit ist jedoch kein neuzeitliches Phänomen, sondern läutete u. a. bereits die Geschichte des trojanischen Krieges sowie den Beginn der Literatur des Abendlandes ein. So stellt die äußere Erscheinung auch in der heutigen Gesellschaft ein Schlüsselcharakteristikum zum Erlangen von Erfolg und Akzeptanz dar. Das zeigt sich auch durch die ständig wachsende Anzahl kosmetisch-medizinischer Behandlungen: Im Länder-Ranking der 25 Nationen mit den meisten durchgeführten chirurgischen und nicht chirurgischen Behandlungen 2016 befinden sich die USA an erster, Deutschland immerhin an neunter Position. Zudem sind die Maßnahmen heute sicherer und erschwinglicher als noch vor 20 Jahren. Die Beschäftigung mit bzw. die Investition in das eigene Aussehen ist also sozial erwünscht. Es wird hierbei diskutiert, ob diese Entwicklung ein zum Teil durch die Medien kreiertes Phänomen ist, indem diese ein Umfeld schaffen, in dem Attraktivität für Intelligenz und moralisches Verhalten steht und gleichzeitig Schönheitsideale aufzeigen, und was zu tun ist, um diese Ziele zu erreichen. Generell scheinen kulturelle Unterschiede allerdings wenige Auswirkungen auf die Prävalenz der KDS zu haben. Ethnische Unterschiede zeigen sich vermutlich eher in der betroffenen Makelregion (z. B. zeigen sich asiatisch-stämmige Amerikaner besorgter bezüglich Haut und Haaren als kaukasisch-stämmige Amerikaner).

|15|Während all die genannten Faktoren wichtige Informationen darstellen, die dem Patienten an geeigneter Stelle zur Erklärung vermittelt werden können, erklärt keiner der Faktoren abschließend die Entstehung und Aufrechterhaltung der KDS, schon gar nicht für sich allein genommen. Für die Therapie ist es zudem erforderlich, die jeweils relevanten Faktoren mit dem Patienten herauszuarbeiten und in ein individualisiertes ätiologisches Modell zu integrieren.

Ausgewählte Störungsmodelle


Im Zentrum des Informationstheoretischen Modells von Stangier und Gieler (1997) steht die Annahme, dass einzelne Körpermerkmale von Personen mit KDS aufgrund einer erhöhten selektiven Aufmerksamkeit eher wahrgenommen werden. Basierend auf der Annahme, dass nur „perfekt aussehen“ auch schön ist, werden die Körpermerkmale als hässlich fehlbewertet. Die Betroffenen fokussieren sich auf diese Merkmale und beschäftigen sich entsprechend übermäßig stark damit. Dies löst negative Gefühle wie Ekel oder Trauer aus. Im Sinne einer emotionalen Schlussfolgerung bestätigt das Auftreten des negativen Gefühls die vorgenommene Fehlbewertung. Es folgt darauf der Wunsch, negative Gefühle zu reduzieren und dafür den Makel zu verändern (Kontrollrituale, Sicherheitsverhaltensweisen und Suche nach das Aussehen verändernder Behandlung) oder sich möglichen Bewertungssituationen gar nicht erst auszusetzen (Vermeidung). Diese Verhaltensweisen wirken durch den temporären Wegfall der damit verbundenen negativen Gefühle kurzfristig verstärkend und treten in der Folge vermehrt auf. Allerdings führt das dazu, dass die Annahmen, die die Betroffenen während der Beschäftigung mit dem Makel treffen („Jeder wird mich auslachen, so wie ich aussehe“ oder „Alle werden die Bar verlassen, sobald ich reinkomme, weil ich so abscheulich hässlich bin“) keiner Realitätstestung unterzogen werden, so dass keine Unterbrechung dieses Teufelskreises stattfinden kann. Das heißt: Kurzfristig wirken ...

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