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E-Book

Korrektive Gerechtigkeit

Über die Entschädigung historischen Unrechts

AutorNikolai Blaumer
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783593432731
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis52,99 EUR
Im Übergang zwischen politischen Systemen stellt sich die Frage nach dem Umgang mit zurückliegendem Unrecht. Im Hintergrund stehen philosophische Fragen: Wann kann eine Person oder ein Kollektiv moralisch geltend machen, einen Schaden oder ein Unrecht erlitten zu haben? Unter welchen ethischen Voraussetzungen bleiben Entschädigungsansprüche bestehen? Lässt sich Verantwortung für Entschädigung auch generationenübergreifend zuschreiben? Nikolai Blaumer zeichnet ein klares Bild der moralischen Gründe, die bei der Auseinandersetzung um gerechte Entschädigung von Bedeutung sind.

Nikolai Blaumer promovierte im Fachbereich Philosophie der LMU München und ist als Referent in der Abteilung Kultur des Goethe-Instituts tätig.

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Leseprobe
Einleitung
Die vergangenen Jahre waren eine Zeit politischer Umbrüche. Plätze mit Namen wie Maidan, Tahrir oder Taksim wurden zum Sinnbild des Wider-stands. In Demonstrationen brachten Zehntausende ihren Willen nach politischer Veränderung zum Ausdruck. Aller Emphase und Ausdauer des Widerstands zum Trotz, scheinen die durch die Proteste angestoßenen politischen Entwicklungen vielerorts in Grabenkämpfen zu münden, wie sie schon am Anfang der Demonstrationen standen. So schrieb der ägyptische Politikexperte Hafez Ghanem im August 2013, drei Jahre nach Beginn der Proteste in Kairo:
'Calls for revenge can be heard all over Egypt. [...]. The minimum level of con-sensus that is needed to put in place new democratic institutions would be hard to achieve under current circumstances. [...]. The real question is whether Egyption society wants national reconciliation.'
Entwicklungen wie in Ägypten machen deutlich: Solange das öffentliche Klima vergiftet ist, alte Rechnungen offen bleiben und sich die Spirale von Gewalt und Gegengewalt weiterdreht, bleibt der Weg einer gemeinsamen Zukunft verstellt. Verfahrene politische Situationen dieser Art werfen die Frage auf: Wie ist es unter den Bedingungen zurückliegenden Unrechts möglich, sich auf einen einvernehmlichen Umgang mit der Vergangenheit zu verständigen, langwährende Konflikte beizulegen und Gerechtigkeit wiederherzustellen?
In der wissenschaftlichen Diskussion um den politischen Umgang mit zurückliegendem Unrecht spielen die beiden Begriffe Transitional Justice und Intergenerationelle Gerechtigkeit eine zentrale Rolle. Wurde der Begriff Transitional Justice zunächst vor allem in der angelsächsischen rechts-wissenschaftlichen Literatur verwendet, so avancierte er in den vergangenen Jahren auch in der Philosophie und den Sozialwissenschaften zum Leitbegriff für Gerechtigkeitskonzeptionen, die sich mit normativen Antworten auf das Unrecht gescheiterter, repressiver Regime beschäftigen. Transitional Justice steht heute für all jene Ansätze, die sich mit Verständigung und Anerkennung historischen Unrechts, der Geltung von Rechtsnormen im Übergang zwischen Systemen, der Frage rückwirkender Rechtssprechung, der Autorität ungerechten Rechts oder der Rechtfertigung von Entschädigungsansprüchen und Wiedergutmachungspflichten beschäftigen.
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werde ich mir lediglich einen Teilbereich transitionaler Gerechtigkeit vornehmen. Aristoteles hat ihn in der Nikomachischen Ethik als den Bereich der korrektiven Gerechtigkeit bezeichnet. Zu ihm gehört die Frage, welche ethischen Anforderungen sich an Entschädigung als Ausgleich zurückliegender Schäden stellen: Unter welchen Bedingungen kann eine Person oder ein Kollektiv in moralischer Hinsicht geltend machen, einen Schaden oder ein Unrecht erlitten zu haben? Wie lange und unter welchen ethischen Voraussetzungen bleiben Entschädigungsansprüche bestehen? Wem kann Verantwortung für Entschädigung zugeschrieben werden - lediglich jenen, die ein Unrecht verursacht haben, die moralische Verantwortung tragen, oder auch anderen Individuen oder Mitgliedern von Kollektiven? Und schließlich: Welche Form sollte Entschädigung annehmen, um Gerechtigkeit wiederherzustellen?
Führt man sich vor Augen, welche Entschädigungsfälle die politische Diskussion heute bestimmen, so stellt man fest, dass es dabei nicht selten um Sachverhalte geht, in denen sowohl jene Individuen, die ein Unrecht ursprünglich erlitten, als auch Personen, die für die Entstehung jenes Un-rechts unmittelbar verantwortlich waren, nicht mehr leben. Ein besonders prominenter Fall sind etwa die in den vergangenen Jahren laut gewordenen Reparationsforderungen Griechenlands, die sich auf während der deutschen Besatzungszeit 1941-1944 erlittenes Unrecht beziehen. Die griechische Regierung taxierte die Summe ihrer Forderungen für beschlagnahmtes Gold, geraubte Geldwerte, zerstörte Handelsschiffe sowie Schäden an Wirtschaft und Infrastruktur unlängst auf 269,5 Milliarden Euro.
Das Beispiel Griechenlands macht deutlich, dass Fragen korrektiver Gerechtigkeit keineswegs dadurch obsolet werden, dass Personen, die von historischem Unrecht unmittelbar betroffen sind, versterben. Gerade in einer Zeit, in der letzte Opfer deutscher Kriegsgewalt ableben, ist die De-batte um Entschädigung in verschiedenen europäischen Staaten neu ent-brannt. Nachfahren von Opfern verstehen sich dabei oftmals als Erben der Ansprüche ihrer Vorfahren. Und auch Deutsche, deren Eltern und Großeltern während des Nationalsozialismus Unrecht in die Welt gebracht haben, sehen sich weiterhin in der Verantwortung. Bundespräsident Gauck äußerte sich dazu kürzlich wie folgt: 'Wir sind ja nicht nur die, die wir heute sind, sondern auch die Nachfahren derer, die im Zweiten Weltkrieg eine Spur der Verwüstung in Europa gelegt haben - unter anderem in Griechenland, worüber wir beschämend lange wenig wussten.' Und er fügte hinzu: 'Es ist richtig, wenn ein geschichtsbewusstes Land wie unseres auslotet, welche Möglichkeiten von Wiedergutmachung es geben könnte.'
Steht die Frage korrektiver Gerechtigkeit im Zentrum einer Vielzahl politischer Auseinandersetzungen, so zielt dieses Buch nicht auf eine Un-tersuchung historischer Einzelfälle. Es soll nicht darum gehen, einzelne Entschädigungsforderungen als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt zu charakterisieren. Vielmehr liegt die Absicht darin, ein klares Bild der moralischen Gründe zu gewinnen, die im Kontext der Auseinandersetzung um gerechte Entschädigung von Bedeutung sind.
Um beurteilen zu können, was gute Gründe für oder gegen bestimmte Formen der Entschädigung sind, bedarf es Normen, die im Kontext kor-rektiver Gerechtigkeit als verbindlich angesehen werden sollten. Präskrip-tive Normen qualifizieren Handlungsgründe in Entscheidungssituationen als vor- oder nachrangig, als bedeutsam oder auch belanglos. Wie aber identifiziert eine ethische Theorie Normen, die anzeigen, welche Gründe dafür oder dagegen sprechen, eine Person oder Gruppe von Personen auf bestimmte Weise zu entschädigen?
Nelson Goodman hat in Fact, Fiction & Forecast deutlich gemacht, wie unsinnig es ist, sich in der Frage der Geltung von Normen auf vermeidlich selbstevidente Axiome zu berufen:
'I think the answer lies much nearer the surface. Principles of deductive inference are justified by their conformity with accepted deductive practice. Their validity depends upon accordance with the particular deductive inferences we actually make and sanction.'
Normative ethische Theorien bringen präskriptive Normen und gegebene Urteile zur Frage richtigen Handelns ins Gleichgewicht. John Rawls hat in diesem Zusammenhang vom reflective equilibrium gesprochen. Ethischer Theoriebildung schreibt er die Aufgabe zu, zwischen präskriptiven Nor-men und moralischen Einzelurteilen zu vermitteln, sie in eine kohärente Ordnung zu bringen. Normen, die Anspruch auf allgemeine Geltung ma-chen, können nicht in Unabhängigkeit von unserer moralischen Urteilspraxis gerechtfertigt werden. Ebenso hängt aber die Begründung moralischer Einzelurteile von moralischen Normen ab, die spezifischen Entscheidungssituationen vorausgehen. Was bedeutet dies für eine Theorie gerechter Entschädigung? Vergegenwärtigen wir uns einen exemplarischen Fall, ehe wir uns den systematischen Fragen zuwenden, die uns im Folgenden beschäftigen.
Ein Jahr nach seinem Ausscheiden als australischer Premierminister fragten amerikanische Studenten John Howard, warum er während seiner Amtszeit nicht nur jede materielle Form der Entschädigung, sondern auch jede Entschuldigung für das an der australischen Urbevölkerung begangene Unrecht ablehnte. Howard machte keine Anstalten, historische Tatsachen zu leugnen. Er bestritt weder die systematische Rassendiskriminierung noch die zahlreichen Massaker oder die gewaltsame Entfernung sogenannter half-caste children aus ihren Familien. John Howard antwortete auf die Frage nach einer möglichen Entschuldigung oder Kompensation schlicht mit den Worten: 'I do not believe as a matter of principle that one generation can accept responsibility for the acts of earlier generations.'
Howards Überzeugung entspricht dem liberalen, individualistischen Verständnis von Verantwortung. Dieser Vorstellung nach kann einer Partei retrospektiv nur dann Verantwortung zugeschrieben werden, wenn ihr Handeln bzw. Unterlassen einen kausalen Unterschied im Bezug auf die Entstehung eines Schadens hatte, sie das schädigende Ereignis selbst kontrollieren konnte und es somit in seiner faktischen Form hätte verhindern können. Dieses Verständnis von Verantwortung geht mit der Überzeugung einher, dass eine Partei nicht für den Schaden einer anderen Partei verantwortlich gemacht werden darf, solange sie diese nicht zur Schadenshandlung gezwungen oder verleitet hat.
Doch Howards kategorische Ablehnung intergenerationeller Verant-wortung steht einer öffentlichen Praxis gegenüber, in der die retrospektive Verantwortung von Staaten, Parteien, institutionalisierten Religionsgemeinschaften oder anderen Formen von Kollektiven nicht schlechterdings mit dem Tod oder einem anderweitigen Ausscheiden einzelner Mitglieder endet. Pflichten zur Einhaltung von Verträgen, Verfügungen, Versprechen, zur Begleichung von Schulden bestehen selbst dann weiter, wenn die Mitgliederkonstellation in einem Kollektiv nicht mehr mit jener identisch ist, die zu dem Zeitpunkt bestand, als die jeweilige Verpflichtung bzw. Verbindlichkeit eingegangen wurde. Wie lässt sich der Widerspruch zwischen dem Postulat, bloß Individuen könne Verantwortung zugeschrieben werden und unserer Überzeugung, dass Kollektive unter bestimmten Voraussetzungen generationenübergreifend Verantwortung tragen, auflösen? Wir werden uns dem Widerspruch zwischen unserer moralisch-rechtlichen Praxis und den Postulaten einer individualistischen Ethik im Folgenden stellen.
Im ersten Kapitel soll die begriffliche Grundlage für die Diskussion der folgenden Kapitel gelegt werden. Im Mittelpunkt steht die Frage, unter welchen Bedingungen schädigende Ereignisse Kompensationsansprüche begründen. Ausgehend von unserem alltagsweltlichen Verständnis, möchte ich ein ethisches Konzept von Schädigung entwickeln, dessen wesentliche Merkmale sich in vier Thesen fassen lassen: Erstens sollten Ereignisse dann und nur dann in einem moralischen Sinne als schädigend angesehen werden, wenn sie subjektive Interessen beeinträchtigen (§§ 1-3). Zweitens begründen Interessenbeeinträchtigungen nur dann Entschädigungsansprüche, wenn sie moralische Rechte berühren (§ 4). Drittens sollte nicht die Verletzung von Rechten für die Begründung von Entschädigungsansprüchen als notwendig angesehen werden, sondern der Eingriff in moralische Rechte - woraus folgt, dass auch gerechtfertigte Schadenshandlungen Entschädigungsansprüche begründen können (§ 5). Viertens sollten auch Kollektive als potentiell geschädigte Träger von Rechten angesehen werden (§§ 6-8). Letzteres werde ich im Hinblick auf den ontologischen und moralischen Status von Gruppen zu begründen versuchen.
Im zweiten Kapitel werde ich zunächst den ethischen Charakter von Entschädigungsansprüchen diskutieren, um anschließend die Bedingungen der historischen Persistenz jener Ansprüche näher zu beleuchten. In die-sem Zusammenhang werde ich argumentieren, dass sich das Recht auf Entschädigung nicht auf eine allgemeine Pflicht zur Annullierung von Schäden bzw. ungerechtfertigter Gewinne bezieht, sondern mit einer spe-ziellen Handlungspflicht desjenigen korreliert, der für den Schaden ver-antwortlich ist (§ 9). Damit knüpfe ich an ein Verständnis wiederherstel-lender Gerechtigkeit an, wie wir es bereits in der Nikomachischen Ethik finden: Entschädigung als die Korrektur entstandener Ungleichheit zwi-schen zwei Parteien. Dem hier vertretenen Ansatz nach folgen Entschä-digungsansprüche als sekundäre Rechte aus Verletzungen primärer Rechte (§ 10). Das heißt, Entschädigungsansprüche, die aus schädigenden Eingriffen in primäre moralische Rechte resultieren, ersetzen diese Rechte nicht, sondern verleihen ihnen als sekundäre Rechte Geltung. Diese Position hat im Hinblick auf generationenübergreifende Entschädigungsansprüche weitreichende Implikationen. Denn tragen Entschädigungsansprüche den Charakter sekundärer Rechte, so hängt ihr historischer Fortbestand nicht nur von der diachronen Identität der geschädigten Person oder Gruppe von Personen ab (§ 11), sondern auch von der Persistenz der durch das Schadensereignis berührten primären Rechte. Wie Jeremy Waldron in seinem Aufsatz 'Superseding Historic Injustice' herausgearbeitet hat, können sich erworbene Rechte - etwa Eigentumsansprüche - unter veränderten Hintergrundbedingungen auflösen (§ 12). Die Begründung von Entschädigungsforderungen für staatliche Konfiskationen oder andere Verletzungen von Eigentumsrechten hängt folglich von dem jeweiligen Eigentumssystem und den Rechtfertigungsbedingungen zum Zeitpunkt der Forderung ab. In einem Exkurs möchte ich daher zwei unterschiedliche Modi der Begründung von Eigentumsrechten diskutieren (§§ 13-14). Der Ertrag dieser Ausführungen soll zum Schluss des zweiten Kapitels deutlich werden, wenn die Vererbung von Eigentumsrechten und die intergenerationelle Persistenz kollektiver Rechte als maßgebliche Begründungsmöglichkeiten generationenübergreifender Entschädigungs-forderungen dargestellt werden (§ 15).
Das dritte Kapitel widmet sich einem Paradox. Einerseits wird Toten heute über den postmortalen Persönlichkeitsschutz, die rechtliche Bindung an testamentarische Verfügungen, oder die Überzeugung, Lebende seien toten Opfern von Unrecht etwas 'schuldig', ein Status zugeschrieben, der in vielerlei Hinsicht jenem lebender Personen entspricht. Andererseits ist aber aktuell eine Mehrheit von Menschen der Auffassung, die Existenz einer Person ende mit dem Tod. Vor diesem Hintergrund möchte ich zunächst die Frage aufwerfen, was wir unter dem Tot-Sein eines Menschen in ethischer Hinsicht verstehen können (§ 16). In diesem Zusammenhang werde ich fünf Argumente darstellen, die Tote auf unterschiedliche Weise als Träger moralischer Rechte zu begründen versuchen (§§ 17-21). Diese Versuche schlagen fehl, wie sich zeigen wird. Daher soll ein alternativer Ansatz entwickelt werden, bei dem ich mich insbesondere an dem von Carl Wellman eingebrachten Konzept der surviving duties orientiere (§ 22). Tote können diesem Ansatz zufolge weder Interessen noch Ansprüche haben. Dennoch bestehen ihnen gegenüber intrinsische Pflichten, getroffene Vereinbarungen und Versprechen zu halten. Im Zusammenhang einer Theorie gerechter Entschädigung betrifft dies auch und insbesondere Fälle vergangenen Unrechts. Als Mitglieder moralischer Gemeinschaften sollten Menschen darauf vertrauen dürfen, dass das ihnen zugefügte Unrecht nicht unmittelbar mit ihrem Tod obsolet wird.
Nachdem in den ersten drei Kapiteln die Anspruchsseite von Entschädi-gung im Vordergrund stand, wende ich mich im vierten und fünften Kapitel der Frage der Verantwortung zu: Unter welchen Voraussetzungen und in welcher Form kann Personen oder Gruppen von Personen retrospektiv Verantwortung für ein Schadensereignis zugeschrieben werden? Der hier vertretenen These zufolge sollten weder kausale, noch moralische Verantwortung als notwendige Bedingungen moralischer Haftung angesehen werden (§§ 23-25). Entscheidendes Kriterium ist vielmehr, dass es im Bereich der prospektiven Verantwortung einer Person lag, dass das Schadensereignis nicht hätte eintreten sollen. Dabei beziehe ich mich auf das Konzept verschuldensunabhängiger Haftung, wie es Tony Honoré in Responsibility and Fault entwickelt hat. Wie ich unter Rückgriff auf verschiedenen Theorie kollektiven Handelns zeigen möchte, sollten nicht bloß Individuen, sondern ebenso Kollektive als potentielle Mitglieder von Systemen verschuldensunabhängiger Haftung angesehen werden (§§ 26-28). In Fällen stellvertretender oder gemeinsamer Schadenshandlungen rechtfertigt dies die Zuschreibung generationenübergreifender moralischer Haftung (§ 29).
Das fünfte und letzte Kapitel dieser Arbeit widmet sich schließlich der Frage, welche Form Entschädigungspflichten annehmen sollten. Dabei vertrete ich im Gegensatz zu David Miller die These, dass es sich bei Ent-schädigungspflichten nicht um prima-facie-Pflichten handelt, die angesichts konkurrierender Gründe obsolet werden. Vielmehr haben Entschädi-gungspflichten einen residuellen Charakter. Das heißt, sie verlangen auch dann Erfüllung, wenn in einer konkreten Situation konkurrierende Gründe gegen ihre Ausführung sprechen. Moralische Haftung schließt demnach die Pflicht zur Entschädigung notwendig mit ein (§ 30). Wie ich des Weiteren darstellen möchte, zielt Entschädigung als Wiederherstellung von Gleichheit darauf ab, eine Person oder Gruppe von Personen mit Möglichkeiten auszustatten, damit diese dieselben autonomen Ziele verfolgen kann wie zum Zeitpunkt vor Eintritt des Schadensereignisses (§ 31). Neben materieller Entschädigung zählt diesem Konzept nach auch immaterielle Entschädigung im Sinne der Anerkennung des Eingriffs oder der Verletzung von Rechten zu den notwendigen Bedingungen der Wiederherstellung von Gleichheit. Bei immaterieller Entschädigung handelt es sich demnach nicht bloß um eine symbolische Form von Kompensation, die einer 'tatsächlichen', materiellen Kompensation gegenübersteht. Vielmehr gehört immaterielle Entschädigung notwendig zur Wiederherstellung der Beziehung zwischen Mitgliedern moralischer Gemeinschaften. Dies werde ich insbesondere an der Rolle von Entschuldigungen verdeutlichen und zwischen Entschuldigungen aus Reue und Entschuldigungen aus Bedauern unterscheiden (§§ 32-34). Ausgehend von Charles Taylor werde ich schließlich argumentieren, dass die Anerkennung, die Personen oder Gruppen von Personen als Mitglieder ihrer moralischen Gemeinschaft verdienen, nicht nur die Anerkennung von Gleichheit, sondern auch die Anerkennung von Differenz und die Erinnerung an eine individuelle Geschichte mit einschließt (§ 35).
Die Arbeit wird mit dem Gedanken enden, dass Entschädigung Gren-zen kennt und nicht jede Verletzung von Rechten rückblickend korrigiert werden kann. Ich werde dabei an Joel Feinberg anknüpfen, der in Harm to Others von der Vernichtung von Interessen spricht. Das Leiden der Opfer des Nationalsozialismus stellt dafür den paradigmatischen, wenngleich nicht einzigen Fall dar. Als Hannah Arendt im Jahr 1964 zu ihrem Verhältnis zu Deutschland befragt wurde, berichtete sich von dem Moment, als sie begriff, dass das, was sie über Auschwitz gehört hatte, tatsächlich wahr sei. Arendt berichtete, es sei in diesem Moment gewesen,
'als ob der Abgrund sich öffnet. Alles andere hätte irgendwie noch einmal gut gemacht werden können. [...]. Dies nicht. Dies hätte nie geschehen dürfen. [...]. Da ist irgendetwas passiert, mit dem wir alle nicht mehr fertig werden.'
Die Möglichkeiten von Entschädigung als Wiederherstellung von Gleich-heit sind begrenzt. Nicht jedes Unrecht kann rückblickend korrigiert, nicht jedes wiedergutgemacht werden. Dennoch bleibt Entschädigung als Ausdruck korrektiver Gerechtigkeit ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu Dialog und Versöhnung.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Dank8
Einleitung10
I. Ein philosophischer Schadensbegriff20
§ 1 Schäden und Interessen23
§ 2 Interessen und die Möglichkeit ihrer Objektivierung26
§ 3 Interessenbeeinträchtigungen32
§ 4 Interessen und die Begründung von moralischen Rechten36
§ 5 Eingriff in und Verletzung von Rechten46
§ 6 Die Idee kollektiver Rechte49
§ 7 Kollektive Rechte I – Der ontologische Status von Gruppen51
§ 8 Kollektive Rechte II – Der moralische Status von Gruppen54
II. Entschädigungsansprüche und Historisches Unrecht60
§ 9 Korrektive Gerechtigkeit und Ansprüche auf Entschädigung61
§ 10 Entschädigungsansprüche als sekundäre Rechte66
§ 11 Entschädigungsansprüche und diachrone Identität70
§ 12 Die historische Auflösung von Rechten76
§ 13 Exkurs Eigentumstheorie I – Vorstaatliche Begründung von Eigentum79
§ 14 Exkurs Eigentumstheorie II – Die Autorität positiver Normensysteme85
§ 15 Generationenübergreifende Ansprüche auf Entschädigung94
III. Überlebende Pflichten107
§ 16 Über das Tot-Sein110
§ 17 Das Argument überlebender Interessen112
§ 18 Das Argument posthumen Verlusts117
§ 19 Das Symmetrie-Argument119
§ 20 Das Autonomie-Argument121
§ 21 Das Ante-Mortem-Argument123
§ 22 Überlebende Kompensationspflichten126
IV. Verantwortung und Moralische Haftung130
§ 23 Kausale Verantwortung und Moralische Haftung132
§ 24 Verantwortung, Fahrlässigkeit und Haftung136
§ 25 Verschuldensunabhängige Haftung141
§ 26 Entscheidungen und Kollektives Handeln146
§ 27 Kollektives Handeln I – Stellvertretende Handlungen148
§ 28 Kollektives Handeln II – Gemeinsame Handlungen152
§ 29 Kollektive generationenübergreifende Haftung159
V. Entschädigungspflichten166
§ 30 Der residuelle Charakter von Entschädigungspflichten167
§ 31 Entschädigung und die Wiederherstellung von Gleichheit172
§ 32 Entschuldigung und Entschädigung177
§ 33 Entschuldigungen I – Entschuldigungen aus Reue181
§ 34 Entschuldigungen II – Entschuldigungen aus Bedauern185
§ 35 Erinnerung historischen Unrechts190
§ 36 Grenzen der Entschädigung196
Literatur199

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