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E-Book

Liebe in Zeiten des Kapitalismus

AutorRobert Misik
VerlagChristian Brandstätter Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783710602573
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Wie funktioniert die Liebe in Zeiten des Kapitalismus? Warum sehnen wir uns nach Sicherheit? Was wird uns die Zukunft bringen? An welchen Gott wollen wir noch glauben? Warum finden wir Geiz geil? Was bedeutet uns Freiheit? Welche Konsequenzen hat Digitalisierung, Automatisierung und Robotisierung? Robert Misik, der renommierte Sachbuchautor, macht sich Gedanken zu unserer Gegenwart. Anhand zehn exemplarischer Begriffe, die Zeitgeist und Verfasstheit unserer Gesellschaft treffend skizzieren, geht er der Frage nach, welchen Paradigmen wir unsere Leben unterwerfen.

Robert Misik ist Publizist, Autor und vielgebuchter Redner. Er veröffentlicht etwa in der taz und in der Zeit, sowie für die in Österreich erscheinenden Zeitschriften profil und Falter. Für die Tageszeitung Der Standard betreibt er einen Videoblog, war im Rahmen der Wiener Festwochen als Dramaturg tätig und kommentiert als Podiumsgast in zahlreichen TV-Sendungen vor allem Innen- und Europapolitik. Als Sachbuchautor, etwa des Bestsellers Genial dagegen, publizierte er bisher u.a. bei Aufbau.

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Leseprobe

#ANGST #UNSICHERHEIT


Wir haben nichts zu fürchten, außer, dass man uns unsere Angst ansieht. Dauernd ist von ihr die Rede, aber wirklich gesprochen darf über sie nicht werden. Sie ist stets die Angst der Anderen. Wir dürfen sie immer analysieren, aber dabei nie von uns sprechen. Die Angst ist ein eigentümliches Ding. Und nicht zuletzt ist sie ein peinliches Gefühl. Wir leben in einer Erfolgsgesellschaft, die sich zuvorderst dadurch auszeichnet, dass man den Erfolg ausstellen muss: Du musst optimistisch erscheinen, voller Tatendrang, jeder muss Dir ansehen, welch toller Hecht Du bist. Wo niemand über seine eigene Angst redet, sondern allenfalls über die Angst als gesellschaftliches Phänomen, bleibt das schiere Ausmaß der Angst wahrscheinlich sogar unsichtbar. Die Angst davor, dass die Waschmaschine kaputt geht und man sich keine neue mehr leisten kann. Die Angst vor der Steuernachzahlung. Die Angst vor der Mahnung der Sozialversicherungsanstalt. Die Angst, dass irgendeiner schneller, billiger, jünger, besser ist als Du. Die Angst, dass Du aus Deiner Wohnung fliegst, dass Dein befristeter Mietvertrag nicht mehr verlängert wird, oder die Miete böse nach oben schnalzt. Denn heute hat ja praktisch jeder nur mehr einen befristeten Mietvertrag. Das ist weit mehr als ein Phänomen des zeitgenössischen Immobilienmarktes, die Befristetheit ist gewissermaßen ein allgemeines Signum der Gegenwart. Man kann auf nichts mehr langfristig bauen, nichts mehr planen, an allen Ecken kann stets das Unvorhergesehene ins Leben einbrechen. Vom befristeten Mietvertrag über den befristeten Arbeitsvertrag bis zur immer schon im Kopf potentiell befristeten Lebensabschnittspartnerschaft: Alles ist per se befristet. Man kann die heutige Zeit mit gutem Recht auch als die „befristete Gesellschaft“ bezeichnen. Auch wenn Sicherheit vorhanden ist, ist sie nie garantiert. In der befristeten Gesellschaft leben mehr und mehr Leute mit dem dauernden Gefühl, dass permanent alles auf des Messers Schneide steht. Wenn man die Leute fragen würde, wovor sie denn gerne frei wären, würden sie wohl spontan als erstes sagen: Von dieser Angst wäre ich gerne frei. Sofern sie die Angst überhaupt realisieren, sofern sie sie überhaupt wahrnehmen und von ihr nicht begleitet werden wie von einem Schatten. Mein Ex-Schwager, der in den Siebzigerjahren als „Gastarbeiter“ nach Österreich kam, sagt: „Die Sozialdemokratie war ungeheuer erfolgreich, den einfachen Leuten Wohlstand zu schaffen. Aber sie ist gescheitert daran, ihnen das Gefühl zu geben, dass dieser Wohlstand sicher ist.“

„ANGST ERSCHÖPFT“, formuliert der Soziologe Heinz Bude, der vor einiger Zeit ein ganzes Buch über diese neue Angst geschrieben hat mit dem Titel: „Gesellschaft der Angst“. Neid, permanente Aufmerksamkeit auf die Erfolge der anderen, der stete Vergleich mit dem Nachbarn, hinter all dem verberge sich, so Bude, „die tiefe Angst, nicht mithalten zu können, außen vor zu bleiben und allein als der Düpierte übrig zu bleiben … Den Erfolgreichen bleibt der Erfolg so lange treu, wie sie den Eindruck des Erfolgs zu vermitteln vermögen. Die Siegesgewissheit räumt alle Zweifel aus dem Weg.“ Gesellschaft der radikalen Individualisierung und „Flexibilisierung“ ist eine Gesellschaft, in der Unsicherheit endemisch wird, und ihre paradigmatischen Gestalten sind die „Schnellen und Gewitzten, … Ausgeschlafenen und Abgebrühten, Vorsichtigen, Schreckhaften, Erschöpften, Verwundeten.“ Und Bude weiter: „Man fühlt sich gehetzt, getrieben und angegriffen. Alles wirkt stumpf, matt und reizlos. Man wacht morgens wie gerädert auf, als habe man nicht geschlafen. Der Rest des Ichs, das den Kaffee macht und den Rechner hochfährt, schafft es nicht, sich gegen den selbstzerstörerischen Hang zu wehren, alles infrage zu stellen … Warum um Himmels willen läuft immer alles so schief?“

Wo der Sozialstaat zurückgebaut wird und seine Institutionen delegitimiert, wo das Kollektive in schlechten Ruf gesetzt und der Erfolg nie dem Gemeinsamen und stets der Anstrengung des Einzelnen zugeschrieben wird, da wird auch der Angsthemmer Sozialstaat durch den Angsttreiber „individuelles Risikomanagement“ ersetzt. Stets hängt alles vom Einzelnen ab, dass der keine Fehler macht, Gefahren frühzeitig erkennt, vorausblickend in sich selbst investiert, seine Kompetenzen aktiv sichert und ja nicht ausschert. Der weiß, wenn es nicht rund läuft, ist niemand anderer schuld als er selbst. Das neoliberale Selbst weiß stets, dass der Boden wankend ist, auf dem sein Hamsterrad steht. Es ist ein Ich, das von der Angst gebeutelt ist.

DIE ANGST, die sich überall hineinfrisst, ist aber auch eine zutiefst politische Emotion. Sie ist der Humus, auf dem der rechte Populismus gedeiht. Die Angst treibt Wähler in die Hände von Trump und anderen. Wenn ohnehin die Umwelt eine permanente Bedrohung ist, dann will ich nicht auch noch zusätzliche Konkurrenz, also Mauern bauen, Zäune hochziehen. Die Vorstellung, dass man sich gegen Unbill nur mehr bestmöglich verteidigen kann, aber unsere Zeit keine positiven Veränderungen mehr im Angebot hat, ist für einen hartherzigen Defensiv-Konservativismus günstig. Und auch die politischen Eliten setzen auf Angstmache. Vor ein paar Jahren saß ich mit meinem Freund Yanis Varoufakis in einem Café in Wien, er war erst ein paar Wochen aus seinem Ministeramt ausgeschieden. „Eine Politik der Angst“, sagt Yanis, das ist es, was die Politik in Europa zunehmend kennzeichnet, und zwar auf Ebene der Europäischen Union wie auch auf der Mikroebene der Mitgliedsstaaten. Die politischen Eliten umgarnen die Bürger nicht mehr mit positiven Versprechen, im Kapitalismus im Krisenmodus ist die Drohkulisse allgegenwärtig: Wenn ihr nicht spurt, wenn ihr nicht tut, wie wir von euch verlangen, wenn ihr die Falschen wählt, wenn ihr den Gürtel nicht enger schnallt, wenn die Abgeordneten nicht innerhalb weniger Stunden den Notprogrammen zustimmen, dann droht der Kollaps, dann werden die Finanzmärkte alles verheeren – wie auch immer die jeweiligen Droh-Rhetoriken lauten. Die Gefahren sind in gewissem Sinne austauschbar, aber die Rhetorik bleibt immer die gleiche. Auch das ist ein Element der „Gesellschaft der Angst“, von der Bude sprach. Die Gegenwart hält, anders als die Vergangenheit, keine Versprechen mehr bereit. Früher war das Versprechen („die Kinder werden es besser haben“, etc.) der Treibstoff gesellschaftlicher Integration, heute ist es das Bedrohungsgefühl. Das moderne Subjekt funktioniert nicht, weil es sich etwas Positives davon erhofft, sondern primär aus Angst. Bude: „Man wird nicht mehr durch eine positive, sondern nur noch durch eine negative Botschaft bei der Stange gehalten.“

Von einer schieren „Angstepidemie“, die die Gesellschaften des Westens erfasst habe, sprach jüngst der Soziologe Hartmut Rosa. Die Angst hat Gründe, aber einmal in der Welt, verliert sie die Fäden zu den Gründen. Sie wird grundlos und auch anlasslos. Anders als die Furcht, die zielgerichtet ist (die Furcht vor Spinnen, die Furcht im Dunkeln), ist Angst existenziell, nicht mehr auf konkrete Objekte bezogen, eine generalisierte Einfärbung des Gemüts. Objekte können dann phantasiert werden (etwa die „Flüchtlingsinvasion“), sind aber letztendlich nicht nur austauschbar, sondern völlig irrelevant.

Entsolidarisierung ist eine Folge von Angst. Der deutsche Wirtschaftsjournalist Christian Rickens beschreibt das an dem Aufleben bürgerlicher Werte in den Mittelschichten, in deren Leben sich Instabilität hineinfrisst. Er spricht vom „Placebo gegen die eigene Abstiegsangst, nach dem Motto: Unser Kind wird nicht in die Unterschicht abrutschen, denn es heißt nicht Kimberley, sondern Sophie-Charlotte, und es spielt Klavier, nicht Playstations.“ Man fühlt sich dabei an die Beobachtung von Siegfried Kracauer aus den späten Zwanzigerjahren erinnert: „Der Andrang zu den vielen Schönheitssalons entspringt auch Existenzsorgen, der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse ist nicht immer ein Luxus. Aus Angst … färben sich Damen und Herren die Haare.“ Wo sich Existenzangst breit macht, folgt der Konkurrenzgeist auf den Fuß. Dann muss man stets besser aussehen als der Hungerleider von Nebenan.

DIE ANGST, die heute endemisch geworden ist, hat ihre Geschichte. Angstdiskurse führen wir schon seit den Achtzigerjahren. Die Finanzkrise der Nullerjahre schließlich verstärkte noch einmal das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen gerät und politische Eliten keinen Plan mehr haben. Das Gefühl eines elementaren Kontrollverlustes greift um sich. Vorbereitet war das untergründig aber schon länger. Es begann mit Waldsterben, Aids, der Angst vor dem Super-GAU, dann vor dem Y2K-Bang, vor SARS und vor der Vogelgrippe. Das waren noch Diskurse des wohligen Schauers, die aber eine ganze Kultur der Panik vorbereiteten. Schon Mitte der Nullerjahre analysierte der amerikanische Soziologe Frank Furedi in seinem Buch „Politics of Fear“ dieses Gefühl ganzer Gesellschaften, von Gefahren umgeben zu sein. Heute hat die Angst „ihr...

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