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Lieber Vati! Wie ist das Wetter bei Dir?

Erinnerungen an meinen Vater Eugen Kogon

AutorMichael Kogon
VerlagPattloch Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl544 Seiten
ISBN9783629320735
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Michael Kogon schildert in seinem Erinnerungsbuch die dramatische Geschichte seiner Familie im Nationalsozialismus. Direkt nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich war sein Vater Eugen Kogon im März 1938 als Widerständler der ersten Stunde verhaftet worden. Kurz nach der Befreiung des KZ Buchenwald 1945, in dem er inhaftiert war, schrieb Eugen Kogon das Grundlagenwerk 'Der SS-Staat'. Danach sollte er einer der bekanntesten Publizisten in der jungen Bundesrepublik werden. Michael Kogon illustriert seine Erinnerungen mit Briefen und Kassibern, die sein Vater aus der Gestapohaft und aus dem KZ herausschmuggeln konnte, und mit sämtlichen Kinderbriefen, die ihm seine Söhne in die Haft schrieben.

Michael Kogon, geboren 1928 in Wien, Österreicher. Schulbesuch in Wien und Vilshofen an der Donau. 1945, nach der Befreiung des Vaters Eugen Kogon aus dem KZ Buchenwald, Übersiedlung nach Deutschland. Abitur in Oberursel am Taunus, Studium der Nationalökonomie in Frankfurt, Genf, Paris und München. Diplom-Volkswirt und Dr. rer. pol. Bereits während des Studiums erste journalistische Arbeiten und Buchübersetzungen aus dem Englischen. 1956 Übersiedlung in die Schweiz. Langjährige Tätigkeit in der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ)* in Basel, zunächst als Fachübersetzer, dann als Leiter der Abteilung Presse und Information. Autor zahlreicher (auch literarischer) Beiträge in Zeitungen, Zeitschriften und Sammelwerken. 1995-1998 zusammen mit Prof. Gottfried Erb Herausgeber der Gesammelten Schriften Eugen Kogons. Seit 2006 sechs Buchübersetzungen aus dem Französischen. Verheiratet, drei Kinder, vier Enkelkinder.Michael Kogon war ein Freund des französischen Diplomaten und Autors Stéphane Hessel. Er hat die Bücher Hessels ins Deutsche übersetzt.

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Leseprobe

1.
Flucht und Verhaftung


März 1938: Der »Anschluss« Österreichs und die Flucht meines Vaters


11. März 1938, Freitag. Ein »ekelhaft kalter Tag«, erinnerte sich meine Mutter später. Mein Bruder und ich drückten Radieschensamen in die Erde der beiden Beete, die unsere Eltern uns zwischen dem Nussbaum und den Weichselbäumen zugeteilt hatten, als Aufgabe ebenso wie zum Vergnügen. Im Krottenbachtal brannten bereits die Straßenlaternen. In Sievering drüben verloren sich die Weinberge in der Dämmerung. In der Baumschule nebenan arbeitete niemand mehr. Die Kälte trieb uns ins Haus zurück. Hungrig stürmten wir die paar Stufen zur Glasveranda hinauf. Unsere Mutter hatte uns nicht gerufen. Der Tisch war nicht gedeckt, die Küche verwaist. Die Eltern drängten sich im Wohnzimmer vor dem Radio. Schließlich bat eine sehr ernste Stimme Gott, er möge Österreich schützen. Mein Vater zündete sich eine Zigarette an. Meine Mutter rannte in die Diele, schob die Portiere zur Seite und eilte die geschwungene Treppe hoch. »Promotionsurkunde im Schreibtisch rechts!«, rief mein Vater ihr nach. Nach einer Weile kam sie mit einem Koffer herunter. Das Telefon läutete, schrill. Mein Vater dämpfte seine Stimme, obwohl außer uns niemand da war, der hätte mithören können. Meine Mutter kramte im geöffneten Koffer. Es tat ihr sichtlich wohl, sich abzulenken. Einen zweiten Telefonanruf beendete mein Vater rasch. Aufgeregt redete er auf meine Mutter ein, als könne nur noch Reden helfen, und doch half gerade Reden nichts mehr. Mein Bruder und ich suchten in der Küche nach Essbarem. Die Sekretärin meines Vaters – für ihn Fräulein Schultz, für uns Tante Sophie – kam, auch sie beunruhigt, aus dem Arbeitszimmer herunter, auf dem Arm meine dreieinhalbjährige Schwester Cornelia, das Mauserl.

Bald erfuhr ich, was es mit jenem Satz im Radio auf sich gehabt hatte, in dem Gott von einem offenbar wichtigen Mann um den Schutz Österreichs gebeten worden war. Der Mann war der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg gewesen. Mit jenem Satz hatte er seine Abdankung verkündet. Die hatte Adolf Hitler von ihm gefordert. Er sollte seinen Sessel für einen nationalsozialistischen Bundeskanzler räumen. Der sollte dann für den auch formell korrekten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich sorgen. Schuschnigg hatte in seiner Abdankungsrede außerdem das österreichische Bundesheer angewiesen, bei einem Einmarsch deutscher Truppen sich ohne Gegenwehr zurückzuziehen. Das kleine Land lag ungeschützt vor dem aufgerissenen Maul des »großen Bruders«.

Kurz nach seiner Abdankung wurde Schuschnigg in seiner Wiener Dienstwohnung im Schloss Belvedere unter Hausarrest gestellt. Dann überstellte ihn die deutsche Gestapo als ihren Gefangenen in ihr gefürchtetes Wiener Hauptquartier im beschlagnahmten Hotel Metropol am Morzinplatz. Von dort verschickte sie ihn, wie später auch meinen Vater, in ein KZ. »Seines« hieß Dachau, dasjenige meines Vaters Buchenwald. Ein schöner Name für einen so schlimmen Ort. Das noch schlimmere KZ Auschwitz trug den Zusatznamen Birkenau. Dort wuchs keine Birke und schimmerte auch keine Au neben den offenen Gräben, in denen die frisch vergasten Menschen in unerträglichem Gestank verbrannten. In der geographischen Mitte des KZ Buchenwald stand immerhin eine »Goethe-Eiche«. Die SS hatte sie bei der Rodung pietätvoll – oder zynisch – stehen lassen.

Die Nacht jenes 11. März senkte sich schwer auf unser Land. Mein Vater schleppte den Koffer zu seinem dunkelblauen Hudson Terraplan. Abhauen, das passte nicht zu ihm. Wir standen winkend am Straßenrand: meine Mutter, mein Bruder, Tante Sophie mit dem Mauserl auf dem Arm und unsere junge fröhliche Haushaltshilfe Olga. Ebenso wie Tante Sophie wohnte Olga mit uns im Haus. Noch nie hatte unser Vater sich von unserer Mutter verabschiedet, ohne ihr mitzuteilen, was er vorhatte und wann er zurückkommen würde. Das war diesmal zwangsläufig unterblieben, außer dass er ihr etwas Tröstendes zugerufen haben mochte: Wird schon werden, mach dir keine Sorgen, bin bald wieder da, – wahrscheinlich eher: Ich hole euch bald nach. Tröstungen ohne Substanz, nur dazu gedacht, die Angst zu verscheuchen. Doch die Angst kroch in uns hoch, nachdem das Auto in der Dunkelheit verschwunden war.

Es sollte ein Abschied für längere Zeit werden, genauer gesagt: für sieben Jahre. So gesehen, hätte er feierlicher sein müssen. Der beträchtlichen Dauer stand eine sehr kurze Wegstrecke der Abwesenheit gegenüber. Nach 46 Kilometern wurde mein Vater verhaftet und nach Wien zurückspediert. Danach hatte er noch anderthalb Jahre Gestapo-Gefangenschaft zu erdulden, bis er zum ersten Mal in das KZ auf dem Ettersberg oberhalb der Goethe-Stadt Weimar verbracht wurde.

An unserem Abschied hatten auch unsere beiden Möpse Moritz und Nanette durch Dabeistehen teilgenommen. Moritz und Nanette waren Zuschauer von Natur aus. Wien und seine phlegmatischen Hunde: Ist es denkbar, dass der Charakter einer Menschenbevölkerung sich auf den Charakter der von ihr gehaltenen Hunde überträgt? Jedenfalls sorgten die beiden Möpse in unserer Familie für das Beruhigungsprogramm. Je lebhafter es zuging, desto behäbiger benahmen sie sich. Als mein Bruder und ich wenig später abgeholt wurden, um in ein bayrisches Kloster verfrachtet zu werden, sahen die beiden Möpse ebenfalls bloß zu. Bald darauf wurden auch sie abgeholt.

Moritz und Nanette waren eine Leihgabe von Onkel Jussy. Hauptmann Julius Glaser war Direktor im Wiener Bank- und Kommissionsgeschäft Hübner & Cie. Mein Vater war in jenem Bankhaus nur Prokurist, dies aber im Auftrag eines Prinzen – als Treuhänder für einen Teil von dessen Familienvermögen. Einmal war der Prinz bei uns zu Gast. Er war nicht jung, und auch Locken hatte er keine und auch keine Prinzessin an seiner Seite. Sollten die Gebrüder Grimm mich hereingelegt haben? Wenigstens einen prinzlichen Namen trug er. Der war so lang, dass ich ihn mir nicht merken konnte. Bei uns zu Hause hieß er einfach »der Prinz« oder, wenn respektvollerer Abstand gefordert war, »Prinz Coburg«.

Von 1927 bis 1933 war mein Vater Redakteur, später stellvertretender Chefredakteur der konservativ-katholischen Zeitschrift Schönere Zukunft gewesen. 1935 war er, nach einem Intermezzo bei zwei Wiener Zeitungen, in die Dienste ebenjenes Prinzen getreten. Das ideelle Bindeglied zwischen den beiden Männern war der »christliche Ständestaat«, eine unter österreichischen Katholiken weitverbreitete Idee. Mein Vater hatte sie sich im Rahmen seiner Klostererziehung angeeignet. Gemäß dieser Idee sollten die Klassengegensätze in Wirtschaft und Gesellschaft durch eine quasidemokratische berufsständische Ordnung (Nazi-Beispiel: »Nährstand, Lehrstand, Wehrstand«) überwunden und die parlamentarische Demokratie angesichts ihrer als desaströs empfundenen Funktionsunfähigkeit in vielen europäischen Ländern durch eine autokratische Staatsordnung ersetzt werden. Die europäischen Diktatoren oder Halbdiktatoren der zwanziger und dreißiger Jahre – Mussolini in Italien, Franco in Spanien, Salazar in Portugal, Horthy in Ungarn, Dollfuß und Schuschnigg in Österreich, Hitler in Deutschland – legten alle ein Lippenbekenntnis zur demokratischen Ordnung innerhalb der Stände ab, hatten aber in Wahrheit vor allem den anderen Teil der Idee im Sinne: eine nicht demokratisch legitimierte Regierung. Mein Vater versprach sich Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre viel vor allem von Mussolini, dem »Duce« und Ministerpräsidenten des Königreichs Italien, und noch die Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 kommentierte er mit der Hoffnung, der Nationalsozialismus werde ein Bollwerk gegen den Bolschewismus sein und sich »verchristlichen« lassen.

Von seiner anfänglichen Affinität zu Teilen des politischen Systems Hitlers distanzierte sich mein Vater schon 1934. (Jahre nach dem Ende des Krieges, 1961, verarbeitete er seine Erfahrungen mit Diktatoren in dem Film Die Diktatoren. In ihm versuchte er verständlich zu machen, warum in den dreißiger Jahren so viele Menschen, auch er, auf jene Machttypen hereingefallen waren. Vermutlich war dieser erste Ausflug meines Vaters in die Welt der Filmproduktion nicht sehr gelungen. Immerhin legte er aber den Grund zu seiner anschließenden Erfolgskarriere als Moderator politischer Magazine – zuletzt von Panorama – im jungen deutschen Fernsehen.) So entschloss sich mein Vater zur »… Mitarbeit an dem, was man die Verhinderung der nationalsozialistischen Machtergreifung in österreichischen Presseorganen nennen könnte … Da fand ein Jahr lang, von 1933 auf 1934, ein erbitterter Untergrundkampf statt, in dem ich mit Rafael Spann, einem Sohn Othmar Spanns, und zwei anderen einiges gegen die Nationalsozialisten organisierte.«[1]

Othmar Spann, seit 1919 ordentlicher Professor für Nationalökonomie und Gesellschaftslehre an der Universität Wien, war der Begründer der Gesellschaftslehre des »Universalismus« und ein wichtiger Vertreter der Ständestaatsidee. Mein Vater promovierte bei ihm 1927 zum Thema Faschismus und Korporativstaat. »Der Grundgedanke des Universalismus von Spann ist der uralte aristotelische Satz, wonach ›das Ganze vor dem Teil‹ ist … Dieser Grundsatz … vom Organismus und seinen Teilganzen führt einerseits zu der...

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