Sie sind hier
E-Book

Löwinnenherz

Nach 8 Schüssen war ich endlich frei

AutorSengül Obinger
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783451338458
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Sengül Obinger ist eine Überlebende. Sie hat nicht nur Jahre des Terrors und unbeschreiblicher Gewalt überstanden. Sondern auch einen Mordanschlag überlebt. Acht Schüsse feuerte ihr Ex-Ehemann auf sie ab, doch wie durch ein Wunder wurde sie nicht verwundet. Ihr Buch ist ein einmaliges Selbstzeugnis einer mutigen und ungewöhnlichen Frau, die für ihre Freiheit und Bildung kämpfte. Und ein Bericht aus der Mitte unserer Gesellschaft, der die Schlagworte Parallelgesellschaft, Integration und Ehrenmord mit Erfahrung füllt.

Sengül Obinger, geb. 1973, ist in Nürnberg aufgewachsen. Dort lebt sie heute mit Ihrem Mann und ihren zwei Kindern. Sie ist Steuerfachangestellte und Personalfachkauffrau. Im nächsten Jahr, nach dem Examen zur Steuerberaterin, will sie Jura studieren.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

2 Durch die Hölle ans Licht


Die Eskalation


Im Februar gehe ich jeden Morgen mit zitternden Knien zum Briefkasten. Bald soll jener Brief eintreffen, der über mein Schicksal entscheiden wird. Und eines Tages ist es so weit, schon von der Treppe aus sehe ich den großen weißen Umschlag, der aus dem Briefkasten herausschaut. Ich halte den Atem an. Mir wird schwindelig. „Steuerberaterkammer“ steht dort als Absender. Ich reiße den Brief auf und sehe das Ergebnis: „Bestanden“. Ich stoße einen solchen Schrei aus, dass meine Nachbarin die Tür aufreißt, weil sie glaubt, ich werde schon wieder misshandelt. Ich falle ihr in die Arme, weine und lache gleichzeitig.

„Ich habe bestanden! Ich habe bestanden! Ich bin jetzt Steuerfachgehilfin! Stell dir das mal vor!“

Ich bin mit meiner Freude allein, aber das macht mir nichts. Meine Familie quittiert das Ergebnis mit großen Augen und bestürzten Gesichtern, sie wissen ganz genau, dass ich auf dem Sprung bin, aus meiner Ehe auszubrechen. Refik überschüttet mich täglich mit neuen Drohungen. Er werde mich umbringen, mich und das Kind. Und meine Familie, die würde er auch gleich mit auslöschen. Irgendwann höre ich einfach nicht mehr hin.

Vier Wochen nachdem ich das Zeugnis erhalten habe, lese ich in der Zeitung eine Anzeige. „Steuerkanzlei sucht für türkischen Mandanten türkische Steuerfachgehilfin.“ Ich wähle die angegebene Nummer, frage, ob ich eine Bewerbung schicken soll, und werde sofort eingeladen vorbeizukommen, die Unterlagen könne ich ja zum Gespräch mitbringen.

Alles kommt mir vor wie in einem meiner Träume. Die Sekretärin empfängt mich, ich werde in ein Besprechungszimmer geführt, für mich riecht es nach Aktentaschen und Macht. Dann erscheint ein sympathischer junger Mann, er hat lebhafte blaue Augen und lächelt mich die ganze Zeit an. Er stellt mir einige Fragen und schaut sich mein Zeugnis an.

Irgendwann frage ich: „Und wann kommt denn nun der Steuerberater?“

Da muss er lachen und sagt: „Der Steuerberater? Na, der bin doch ich!“

Ich kann es kaum fassen. Der Steuerberater meiner Eltern, bei dem ich neun Monate lang das Praktikum absolviert habe, war von einem ganz anderen Schlag gewesen: übergewichtig, groß und laut. Dieser charmante Mann hier in seinen flotten Jeans passt überhaupt nicht in das Bild, das ich mir vom Chef einer Steuerkanzlei gemacht hatte.

„Sie können nächste Woche anfangen“, sagt er. „Und wenn Sie wollen, schon morgen.“

Er hatte schon ziemlich lange nach einer Steuerfachgehilfin gesucht, die Türkisch spricht, denn unter seinen Mandanten befand sich eine große türkische Import-Export-Lebensmittelkette, und er brauchte jemanden als Bindeglied zwischen dem türkischen Unternehmen und der Kanzlei. Die Stelle war wie für mich geschaffen. Es folgte ein Gespräch mit dem Chef der türkischen Firma, und auf einmal war ich die Chefbuchhalterin eines Unternehmens mit mehreren Filialen, hatte von der Buchhaltung bis zur Lohnabrechnung alles zu machen und achtzig Angestellte zu betreuen. Die Aufgabe war kompliziert, es ging um Geldverkehr ins Ausland, und auch wenn ich während meines Praktikums Erfahrungen in der Buchhaltung gesammelt hatte, war doch alles neu für mich.

Plötzlich bekam ich Panik: Würde ich das schaffen? Ich hatte keinerlei Berufserfahrung. War das alles nicht eine Nummer zu groß für mich?

Doch Michael, mein neuer Chef, machte mir Mut. „Wir schicken dich zu einem dreitägigen Datev-Seminar, da lernst du alles, was du brauchst. Und wenn etwas unklar ist, fragst du einfach uns.“

Drei Tage in der Woche arbeitete ich bei der türkischen Firma im Büro, die restlichen zwei Tage verbrachte ich in der Kanzlei. Dort wurde ich sofort in die Kollegen-Familie aufgenommen. Ich hatte unendlich großes Glück, denn meine neuen Kollegen waren wirklich unglaublich nett. Was immer ich auf dem Herzen hatte, ich konnte sie alles fragen. Oft saß ich bei der türkischen Firma im Büro mit dem Telefonhörer am Ohr und hatte jemanden aus der Kanzlei in der Leitung. Für die anderen war das in Ordnung, in erster Linie war ich ohnehin das Bindeglied zwischen der Kanzlei und dem Kunden. Denn außer mir sprach niemand Türkisch.

Tagelang beschäftigte ich mich damit, wie ich eine bestimmte Sache am Besten lösen konnte. Und wenn mich abends mein Mann wieder zusammenschlug, dann nahm ich eine Aspirin, legte mich ins Bett und überlegte mir die Lösung für mein Problem. Oft sagte Refik:

„Du gehst da morgen nicht hin.“

„Klar geh ich da hin!“

Und jeden Morgen stand ich aufs Neue auf, zog mich an und ging zur Arbeit. Denn sie war es, die mich in jener Zeit am Leben hielt.

Im Büro zeigte ich nie, wie es mir zu Hause erging. Refik schlug mich inzwischen so routiniert, dass man mir die Spuren seiner Misshandlungen kaum noch ansah. Auch von meiner angespannten Seelenlage bekam nie jemand auch nur das Geringste mit. Während der Arbeit widmete ich mich zu hundert Prozent meinen Aufgaben, und wenn ich nach Hause ging, stellte ich mich der Situation in meiner Ehe. Das führte zu einem ziemlich extremen und zweigleisigen Leben. Das Zusammensein mit meinen Kollegen aber stärkte mich, gab mir Mut und Kraft, hier ging es so anders zu, als ich es von meiner Familie kannte, es wurde nicht herumgeschrien, jeder respektierte den anderen, man war freundlich zu mir, auch wenn ich die typischen Anfängerfehler machte und oft das Gefühl hatte, dass ich mehr von der Firma bekam, als ich geben konnte. Dass mich diese wunderbaren Menschen so aufrichtig und ohne Vorbehalte aufnahmen, das tat mir unendlich gut, sodass ich mich langsam und fast unmerklich veränderte. Ich wurde selbstbewusster. Ich erkannte immer deutlicher, was für ein kleines Licht mein Ehemann war. Ich erfuhr jeden Tag, dass es da noch etwas anderes gab, eine andere Welt, und ich, die hässliche, übergewichtige ?engül, die mehrmals die Woche verprügelt wurde, begann tatsächlich, dazuzugehören. Und Tag um Tag löste ich mich mehr aus der ängstlichen, devoten Haltung der duldenden Ehefrau.

Es gab immer noch Nächte, in denen ich mich heimlich in den Schlaf weinte, aus lauter Angst, ich könnte es nicht schaffen und müsste irgendwann aufgeben. Und dennoch, am nächsten Morgen rappelte ich mich wieder auf, fasste neuen Mut, ertrug Refiks bösartige Bemerkungen, brachte Berna in den Kindergarten und ging zur Arbeit. Was ich nicht weiß, dachte ich, das lerne ich eben heute. Gestern hab ich schon so viel Neues gelernt, und morgen lerne ich noch mehr dazu.

 

In dieser Zeit nahmen unsere finanziellen Probleme dramatisch zu, sodass Refik sogar seinen geliebten BMW verkaufen musste und sich stattdessen einen gebrauchten Kleinwagen anschaffte. Von den 15 000 D-Mark, die er für den BMW erhielt, sah ich nicht einen einzigen Schein. Monatelang versteckte er das Geld vor mir, und ich vermute, dass er es später zu seinen Eltern in die Türkei brachte.

Jedenfalls konnten wir uns zwei Autos und das Benzingeld nicht leisten. Und so entschlossen wir uns, wieder nach Nürnberg zu ziehen. Für mich war das auf jeden Fall eine enorme Vereinfachung, und auch Refik konnte so Fahrgeld sparen. Wir hatten Glück und fanden drei Straßen von meinen Eltern entfernt eine passende Wohnung.

Das war praktisch, da mir meine Mutter und meine Schwägerin mit Berna halfen, die nun in einen neuen Kindergarten kam. Hier sprachen mich die Erzieherinnen nach kurzer Zeit auf ein paar Auffälligkeiten an: Berna male für ihr Alter sehr untypische und auffällige Bilder. Auf ihnen seien alle Menschen schwarze Kugeln ohne Arme und Beine. Ob in unserer Familie alles in Ordnung sei? Was denn die blauen Flecken des Kindes bedeuteten?

Und wieder deckte ich meinen gewalttätigen Mann, doch die Wut in meinem Bauch wurde immer größer, und mir war klar, dass etwas geschehen musste, um diese Situation ein für alle Mal zu beenden. Aber noch immer sah ich keinen Ausweg. Refik drohte nun fast täglich damit, mich umzubringen, und ich spürte, dass in ihm eine Art Zeitbombe zu ticken begonnen hatte. Alles steuerte auf eine Katastrophe zu, doch ich verschloss die Augen davor, so gut es ging.

Im April 1997 hatte ich meine Arbeit aufgenommen und schon im Juni wartete eine neue Herausforderung auf mich: mein türkischer Arbeitgeber wurde einer Steuerprüfung unterzogen. Es wurde überprüft, ob das Unternehmen die Steuer auf ihre Umsätze korrekt ausgewiesen und abgeführt hatte. In diesem Fall war es eine besonders komplizierte Prüfung, denn es gab Abweichungen von der Norm, je nachdem, ob die Geschäfte innerhalb Deutschlands oder mit einem Drittland getätigt worden waren, denn dann gab es auch Einfuhr- und Umsatzsteuerzoll, und so manche andere Tücke. Als mein Chef mir diese Details des Steuerrechts zum ersten Mal erklärte, verstand ich nur Bahnhof. Dann setzte ich mich am Wochenende zu Hause hin und schlug alles in meinen Büchern nach, nahm mir aus der Kanzlei Lektüre mit nach Hause und machte mich so nach und nach schlau. Und dazwischen ertrug ich, wie man ein Unwetter oder ein Erdbeben hinnimmt, das Gezeter meines Mannes, besänftigte ihn, so gut ich konnte, und ließ seine Gewalt über mich ergehen.

Der Prüfer vom Finanzamt wollte natürlich die Originalrechnungen sehen, und manche musste ich aus der Türkei erst telefonisch anfordern. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch, dass ich gar kein Hochtürkisch sprach, sondern sogenanntes „Bauerntürkisch“. Außerdem musste ich den Prüfer bei Laune halten, der...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Gesellschaft - Männer - Frauen - Adoleszenz

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Weitere Zeitschriften

ARCH+.

ARCH+.

ARCH+ ist eine unabhängige, konzeptuelle Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Der Name ist zugleich Programm: mehr als Architektur. Jedes vierteljährlich erscheinende Heft beleuchtet ...

CE-Markt

CE-Markt

CE-Markt ist Pflichtlektüre in der Unterhaltungselektronik-Branche. Die Vermarktung von Home und Mobile Electronics mit den besten Verkaufsargumenten und Verkaufsstrategien gehören ebenso zum ...

Courier

Courier

The Bayer CropScience Magazine for Modern AgriculturePflanzenschutzmagazin für den Landwirt, landwirtschaftlichen Berater, Händler und generell am Thema Interessierten, mit umfassender ...

e-commerce magazin

e-commerce magazin

PFLICHTLEKTÜRE – Seit zwei Jahrzehnten begleitet das e-commerce magazin das sich ständig ändernde Geschäftsfeld des Online- handels. Um den Durchblick zu behalten, teilen hier renommierte ...

IT-BUSINESS

IT-BUSINESS

IT-BUSINESS ist seit mehr als 25 Jahren die Fachzeitschrift für den IT-Markt Sie liefert 2-wöchentlich fundiert recherchierte Themen, praxisbezogene Fallstudien, aktuelle Hintergrundberichte aus ...