Der Aufstieg der Maschinen
Noch einmal das Gepäck überprüfen. Endlose Wege im Flughafen zurücklegen. Den Ausweis griffbereit halten. Schlange stehen an der Sicherheitsschleuse, dann Schuhe und Gürtel ausziehen. Warten am Gate. Schließlich das Ritual des Boardings: Gruppe 3. Sitz 37B. Den Rollkoffer ins Gepäckfach hieven. Gedränge, die Luft ist stickig, die Sitze sind zu schmal, die Bildschirme fürs Bordfernsehen zu klein. Die Chromschnalle des Sicherheitsgurts rastet ein und mit dem metallischen Klick schießt einem der scharfe Gedanke in den Kopf: Sobald sich die Räder von der Startbahn lösen, wird das eigene Leben für die nächsten acht Stunden von dieser Maschine abhängen. Von ihren Motoren, ihrem Rumpf, ihren Rudern und Klappen, ihren Instrumenten, ihrer Luftzufuhr, ihrem Navigationssystem, ihrem Fahrgestell, ihren Computern samt Software und weiß Gott was noch allem. Man ruft sich in Erinnerung, dass Fliegen statistisch gesehen sicherer ist, als über die Straße zu gehen. Doch es bleibt eine nervenaufreibende Tatsache: Man hat soeben sein Leben, das einzige, das man hat, einer mit Elektronik vollgestopften Black Box anvertraut, die in einer Höhe von 10000 Metern durch Luft fliegt, die man nicht atmen könnte, und dabei eine Strecke von 3000 Kilometern über todbringendem offenen Wasser zurücklegt. Und nichts daran ist mehr zu ändern.
Im Laufe der nächsten acht Stunden vergisst man dieses Unbehagen, während man sich von einem seichten Film berieseln lässt. Wenn das Flugzeug schließlich auf der Landebahn aufsetzt und mit einem kräftigen Ruck das Bremsmanöver einleitet, fühlt man sich für einen Moment daran erinnert, dass man – endlich – das Geschehen fast wieder unter Kontrolle hat. Während die Maschine zum Gate rollt, holen die Passagiere, wie zur Feier des Augenblicks, ihre Handys heraus. Man schaltet den Flugzeugmodus aus und wartet auf das vertraute Symbol des Mobilfunkbetreibers. Sobald das Handy Empfang hat, gehen ein paar Benachrichtigungen ein. Ein verpasster Anruf. Eine Kurznachricht von einem geliebten Menschen. E-Mails. Spam wegwischen. Ein kurzer Blick in ein soziales Netzwerk. Bevor man auch nur aus dem Flugzeug ausgestiegen ist, weiß man schon, dass die Person, die einen abholt, mit ein paar Minuten Verspätung eintreffen dürfte. Man weiß, was der eigene Freundeskreis so getrieben hat und was die Kollegen gelesen haben, während man selbst über Grönland schwebte.
Maschinen verkörpern Kontrolle. Maschinen verhelfen Menschen zu mehr Kontrolle: Kontrolle über ihre Umwelt, Kontrolle über ihr eigenes Leben, Kontrolle über andere. Um durch Maschinen Kontrolle zu erlangen, müssen wir diese freilich an die Maschinen abgeben. Das Werkzeug zu nutzen heißt, dem Werkzeug zu vertrauen. Und immer leistungsfähigere, immer kleinere, immer stärker vernetzte Computer haben unseren Instrumenten zu immer mehr Autonomie verholfen. Wir verlassen uns auf das Gerät, das Flugzeug wie das Smartphone, und vertrauen ihm unsere Sicherheit und unsere Privatsphäre an. Die Belohnung: Ein Apparat fungiert als Erweiterung unserer Muskeln, unserer Augen und Ohren, unserer Stimmen und Gehirne.
Maschinen verkörpern Kommunikation. Ein Pilot muss mit dem Flugzeug kommunizieren, um es fliegen zu können. Aber auch das Fluggerät muss mit dem Piloten kommunizieren, um geflogen werden zu können. Zusammen bilden sie eine Einheit: Der Pilot kann nicht ohne Flugzeug, das Flugzeug nicht ohne Piloten fliegen. Doch handelt es sich dabei nicht mehr um isolierte Gebilde aus Mensch und Maschine. Die Beschränkung darauf, dass ein Mensch und eine Maschine mechanisch durch Steuerknüppel, Gashebel und Messinstrumente verbunden sind, gibt es nicht mehr. Vielmehr enthalten die Maschinen einen – oder viele – Computer und sind mit anderen Maschinen in einem Netzwerk verbunden. Das bedeutet, dass viele Menschen mit vielen und durch viele Maschinen zusammenwirken. Das Bindegewebe ganzer Gemeinschaften ist mittlerweile technisiert. Apparaturen sind nicht bloß mechanische Erweiterungen unserer Muskeln und Gehirne, sie sind Erweiterungen unserer Beziehungen zu anderen, zu unseren Familien, Freunden, Kollegen und Landsleuten. Die Technik spiegelt diese Beziehungen wider und prägt sie zugleich.
Kontrolle und Kommunikation begannen sich im Zweiten Weltkrieg grundlegend zu verändern. Damals kam ein Begriff auf, um diesen tiefgreifenden Technikwandel zu erfassen: Die Kybernetik. Norbert Wiener, ein notorisch exzentrischer Mathematiker am MIT, prägte den Begriff, ausgehend von dem griechischen Verb κυβερνώ (kyvernó), das steuern, lotsen oder herrschen bedeutet.1 Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine,2 Wieners bahnbrechendes Buch, erschien im Herbst 1948. Das Werk wartete mit allerhand tollkühnen Prophezeiungen über Maschinen auf, die sich selbst anzupassen verstünden, die denken und lernen und irgendwann klüger sein würden als »der Mensch«. Respekteinflößende mathematische Formeln und ein imponierender technischer Jargon verliehen Wieners wagemutiger Analyse eine unwiderstehliche Glaubwürdigkeit. Zur Überraschung seiner Verleger wurde das Werk ein Bestseller. »Alle Jubeljahre einmal erscheint ein wissenschaftliches Buch, das in einem Dutzend verschiedener Wissenschaften sämtliche Glocken läuten lässt«, hieß es im Dezember jenes Jahres in einer enthusiastischen Besprechung im Time-Magazin.3 Die Zeitschrift brachte später sogar eine Titelgeschichte über die »ungeheuer aufregende« neue Disziplin, die mit der Karikatur eines als Marineoffizier verkleideten Mark-III-Computers illustriert war: »The Thinking Machine«.4
Die Öffentlichkeit feierte Wiener als den Propheten einer zweiten industriellen Revolution. In der ersten hatten Motoren und Fertigungsmaschinen die menschlichen Muskeln ersetzt; jetzt, in der zweiten Revolution, würden Steuer- und Kontrollmechanismen die menschlichen Gehirne ersetzen, schwärmte Time: »Sie schlafen nie und sind auch nie krank, betrunken oder müde. Wenn solche Mechanismen fachgerecht konstruiert werden, begehen sie keine Fehler.« Wiener sollte in seinen eigenen Schriften zu ähnlich hochfliegenden Vergleichen greifen. Sowie die Menschen bessere Rechenmaschinen konstruieren würden, erklärte er, und ihre eigenen Gehirne besser verstünden, würden sich beide immer ähnlicher werden. Das Magazin verhehlte auch nicht den Pessimismus des MIT-Professors angesichts des heraufziehenden kybernetischen Zeitalters: »Der Mensch, glaubt er, erschafft sich neu, in monströser Vergrößerung und nach seinem eigenen Bilde.«5
Wiener hatte einen außergewöhnlichen Strauß von Ideen, die zutiefst praktisch und zutiefst philosophisch zugleich waren. Es war kein Zufall, dass die neue Disziplin im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen der vierziger Jahre aufkam: Die Geschwindigkeit des Kampfgeschehens beschleunigte sich im Zweiten Weltkrieg vor allem im Bereich der Luftwaffe dramatisch. Bomber und Kampfflugzeuge abzuschießen erforderte schnellere und komplexere ballistische Berechnungen, schnelleres und gezielteres Artilleriefeuer sowie eine schnellere und immer ausgedehntere Kommunikationstechnik. Der Krieg wurde zum Vater einer Palette an Innovationen, die die Beziehung von Menschen zu Maschinen, insbesondere zu Computern, für immer verändern sollten.
Die Kybernetik entstand in Reaktion auf diese Neuerungen. Eine immer größer werdende Schar von Wissenschaftlern entwickelte schon bald eine »allgemeine Maschinentheorie« – nicht nur eine Theorie der Maschinen, die es bereits gab, sondern eine Theorie aller Maschinen, einschließlich derer, die noch gar nicht erfunden worden waren.
Maschinen verkörpern auch die Zukunft. Und die Kybernetik war, gestählt durch den Krieg, das Instrument, mit dessen Hilfe eine Zukunft immer intelligenterer Automaten entworfen und vorhergesagt werden konnte. Zwei gegensätzliche Kräfte prägten die Diskussion über die kybernetischen Prophezeiungen. Die erste war geleitet von der Hoffnung auf eine bessere und friedlichere Welt, auf humanere Arbeitsbedingungen, auf unterhaltsamere Spiele, auf eine unabhängigere Politik und auf weniger blutige Kriege. Denkende Maschinen brachten Fortschritt, in jenem damals anschwellenden, zutiefst modernistischen Zukunftsglauben.
Aber auch eine entgegengesetzte Kraft prägte die kybernetischen Visionen des kommenden technologischen Wandels: die Angst vor einer Welt voller Roboter, die die Arbeiter um ihre Erwerbsquelle bringen, vor intelligenten Maschinen, die sich gegen ihre menschlichen Erschaffer auflehnen, vor lebenswichtigen Systemen, die zusammenbrechen, vor Massenüberwachung und dem Verlust der Privatsphäre, vor einem mechanisierten Rückschritt. Ein im Grunde modernistisches Spannungsverhältnis begann sich abzuzeichnen zwischen Optimismus und Pessimismus, Befreiung und Unterdrückung, zwischen Utopie und Dystopie.
Das vorliegende Buch untersucht, was es heißt, die Kontrolle Maschinen zu überlassen und mit ihnen sowie mittels ihrer zu interagieren. Befreien die Maschinen die Menschheit endlich von der Notwendigkeit, schmutzige und monotone Arbeiten zu verrichten, in zermürbenden Verkehrsstaus zu stehen, und machen sie Arbeit, Leben und Freizeit sozialer, vernetzter, aber auch sicherer? Oder schlafwandeln unsere modernen Gesellschaften in eine gefährliche »schöne neue Welt« hinein, die allmählich ihrer Kontrolle entgleitet? Schaffen wir ungewollt vernetzte Ökonomien, die uns buchstäblich in unsere Taschen greifen und die jeden Moment jäh zum Stillstand...