Mireille und Mathieu

Paris im Jahre 1923, 24. Dezember

Diese Person, dieser Kanal, hiess Mireille, auch eine Mireille, wie ich sie zu meinen Lebzeiten kannte, aber ganz anders als meine Ziehmutter. Es war eine junge, wunderschöne, liebevolle und sanfte, aber doch auch beherzte und bestimmte Frau, Mitte zwanzig, mit wunderschönen, tiefgründigen Augen und langem, rotblondem Haar. Mireille wohnte ganz in der Nähe meiner damaligen Heimstätte und arbeitete heimlich als Kanal, da sie medial begabt war und sich schützen musste, nicht an die falschen Menschen zu geraten. Die Zeit der Hexenverbrennung war zwar schon vorbei, doch ihre eigene Verbrennung in einem früheren Leben – das konnte ich in ihrem System sehen – liess sie instinktiv sehr vorsichtig mit dem Thema Medialität und Hellsichtigkeit umgehen.

Mireille war liiert mit einem jungen und sehr hübschen Mann. Ihre Liaison bestand daraus, dass sie ausgewählt hatten, als Bruder und Schwester mit inniger Verbindung auf die Welt zu kommen, denn sie waren zweieiige Zwillinge. Zwillinge stehen sich extrem nahe und spüren sich ausserordentlich gut, selbst wenn sie sich physisch an unterschiedlichen Orten befinden. Mireille und Mathieu, ihr Bruder, kamen irgendwann einmal dazu, Themen anzusehen, die sie beschäftigten.

Wie ich später erfuhr, hing ein Teil von mir – der schmerzvoll abgespaltene Teil, den ich vor einer Weile in diesem Buch erwähnte, in Zusammenhang mit Martine und Pierre – an Mathieu fest. Mathieu und ich haben das gleiche Höhere Selbst und dieses beschloss laut Seelenplan, diesen abgespaltenen Seelenanteil als Erinnerung daran, dass es mich unerlöste Seele gab, die Hilfe bräuchte, an Mathieu zu hängen. Abgespaltene Seelenanteile können genauso lästig und grausam wirken wie unerlöste Seelen, die sich an ihre menschlichen Träger hängen, welche wiederum das gemeinsame Höhere Selbst kreiert, um ein weiteres irdisches Leben zu begehen.

Mathieu, der menschliche Träger meines abgespaltenen Seelenanteils, wandte sich also eines Tages an seine Schwester Mireille, von der er wusste, dass sie besondere Fähigkeiten hatte. „Liebe Schwester, kannst du etwas für mich tun?“, fragte er sie hoffnungsvoll. Mireille runzelte die Stirn. Des Öfteren schon hatte sie beobachtet, dass Mathieu irgendwie nicht ganz sich selbst war. Etwas Fremdes lenkte und bestimmte ihn, seine Gedanken, Gefühle, Handlungen. Es kam phasenweise, schubweise und dann benahm Mathieu sich so fürchterlich, dass alle Menschen in seinem Umfeld Abstand von ihm nahmen …

Mathieu war ein sonniger, lebenslustiger und humorvoller, junger Kerl mit blondem Haar und leuchtend blauen Augen, dem die Mädchen und jungen Frauen sehnsüchtig und begierig hinterher sahen und sich vorstellten, wie es wohl sein möge, mit ihm zusammen zu sein. Mathieu kannte an sich keinen Makel, doch bisweilen verfiel er in eine düstere Stimmung, eine Depression, die er sich selbst nicht erklären konnte. In dieser Phase verspürte er einen Selbsthass und starke Wut, die er sich nicht erklären konnte, weil er überhaupt keinen Grund dazu hatte und bestürmte intensiv seine Zwillingsschwester mit Vorwürfen. Mireille stand ihm ja als Zwillingsschwester sehr nahe, doch in solch Phasen, die Mathieu überkamen, bildete er sich ein, dass sie sich von ihm abwenden würde, ihre besondere Verbindung verraten und diese mit ihrer besten Freundin Claudine aufbauen, ihn selbst aber aussen vor lassen würde. Plötzlich überkam ihn eine derart starke Eifersucht und ein Hass auf Claudine, was er sich nicht erklären konnte. Wenn er genau überlegte, sachlich und fair, so hatte Mireille sich keinesfalls von ihm distanziert. Sein ungebührendes Verhalten jedoch drängte Mireille dazu, sich etwas abzugrenzen, um sich zu schützen, was Mathieu in seiner Fehlannahme nur noch bestätigte. Die Lage spitzte sich zu, bis Mathieu bewusst wurde, dass er dieses Thema angehen müsse, um es sich nicht mit seiner Schwester zu verspielen. Das Letzte, was er wollte, war, sie zu vergraulen. Zudem litt er so extrem unter den Gefühlen des Selbsthasses und der Wut, die er sich nicht erklären konnte und dachte sich, dass dies kein dauerhafter Zustand wäre. Mireille runzelte also die Stirn, weil sie sich nicht sicher war, ob sie ihrem Bruder zu nahe stand, um ein Thema mit ihm anzusehen. Doch es kam ihr niemand anders in den Sinn, der diese Aufgabe hätte übernehmen können und so beschloss sie, dass es Schicksal sein müsste und sie ihre Aufgabe so gut es geht erfüllen würde. Das war die Feuerprobe für Mireille als Kanal, der Test, ob sie wirklich neutral bleiben konnte oder sie ihr Ego übertölpelte, das sich bestimmte Sachen für ihren Bruder und sie wünschte, was aber nicht unbedingt dem Seelenplan entspricht. Mireille hatte wie keine andere Wahl in dieser Situation, als es zu probieren.

Sie probierte es und es gelang. Es gelang so gut, dass Mathieu sich von meinen abgespaltenen Seelenanteilen, die an ihm hingen, lösen und sie dem Licht und den geistigen Helfern des Lichts überantworten konnte. Es war ein Befreiungsschlag für Mathieu und eine Niederlage für mich, da ich mich noch schlechter fühlte, Schuldgefühle bekam, dass mein Seelenmüll andere belastete und dass ich überhaupt Seelenmüll besass, Mathieu aber nach der Ablösung der Seelenanteile in sich ruhend, strahlend und schön sein durfte. Ich war mit so vielen Makeln behaftet, selbst nach dem Tod, und dies stürzte mich mehr und mehr in mein Versagergefühl und liess mich darin einfrieren.

Als Mireille Mathieu half, sich liebevoll und respektvoll den abgespaltenen Seelenanteilen zu widmen – diesen liebevollen Part bekam ich gar nicht mit, denn durch den Vertrag nahm ich nur das Niedere wahr und hörte die dunklen Stimmen, die mich darauf verwiesen, dass sich gerade jemand von meinem dreckigen Seelenmüll befreite und ich doch eine grössere Last wäre, als angenommen – sah Mireille, dass es Anteile von mir waren, mir, Jacques, was sie dazu veranlasste, Kontakt mit mir aufzunehmen. Die Erlaubnis hatte sie von Mathieu und damit von seinem und meinem Höheren Selbst. Ja, wir haben das gleiche Höhere Selbst, aber das wusste ich damals ja noch nicht, woher auch. Meine dunklen Engel sorgten ja auch dafür, dass ich nichts davon mitbekam.

Was ich euch erzählen und erwähnen möchte, bevor ich weiterfahre, ist die erstaunliche Tatsache, dass es meinem Licht in mir gelang, so stark zu sein, dass ich in einem wichtigen Moment etwas völlig anderes als niedere Schwingung wahrnehmen konnte, trotz Vertrag: es war der Moment, als ich durch das Fenster sah und diese Frau beobachtete, die friedlich starb. Das waren wichtige Informationen und Erlebnisse für mich und daher konnte mein Schutzengel in Verbindung mit meinem Licht dafür sorgen, dass ich diese Angelegenheit mit dieser alten sterbenden Frau mitbekommen konnte. Meinen Schutzengel nahm ich dabei nicht wahr. Aber all das gehörte zu meinem Seelenplan, was und wie ich wo wahrnehmen und erleben oder nicht wahrnehmen und erleben konnte. Ich begriff dies nur nicht und mein Ego rebellierte in verletztem Stolz und war offen für die Einwirkungen und Machenschaften des Dunklen bis hin zur Verführung, einen Vertrag zu unterzeichnen mit dem Teufel, was ich dann schon einmal bereute, aber später doch verstand, warum das so sein sollte und wichtig für meinen eigenen Entwicklungsweg war. Dass ich unnötige Umwege beschritt und einen Aufschub meiner Erlösung bewirkte, war zwar unangenehm, aber nicht schädlich. Ich habe daraus gelernt, bin in meiner Seelenstufe gereift und werde es nicht mehr nötig haben, die unangenehme Erfahrung eines Aufschubs meiner Erlösung, die ich ja eigentlich wollte und brauchte, zu durchlaufen.

Ich erzähle euch nun, wie der Aufschub vonstattenging. Mireille tauchte also auf und konnte ungehindert zu mir durchdringen. Sie erkannte mich als die Ursache und Zusammenhang zum abgespaltenen Seelenanteil, der an ihrem Bruder hing, und sprach mit aufrichtigem Mitgefühl – nicht Mitleid, denn das ist niedere Schwingung, sondern Mitgefühl, eine sehr hohe, mit Liebe durchtränkte Schwingung – zu mir. Anfangs berührte mich Mireilles Art und ich war im Begriff, mich zu öffnen, als meine dunklen Engel flüsterten und mich erinnerten, welch Abschaum, unwürdig und wertlos ich doch sei. Sie meinten, Mireille würde entweder aus Mitleid zu mir sprechen, und dies hätte mein gesunder Stolz nicht nötig, oder mit dem Ziel, mich loszubekommen und in die Hölle zu schicken. Die dunklen Gestalten erzählten mir vom Fegefeuer und wie schlimm es dort sei, wie verdammt man da wäre und dass es kein Zurück daraus gäbe. Sie argumentierten so überzeugend, dass ich mich Mireille gegenüber verschloss und wie durch Watte hörte, wie sie sprach:

„Du hast alle Zeit der Welt, Jacques. In der Welt des Lichts und nach den Gesetzen des Universums gibt es keinen Druck und keinen Zwang. Der freie Wille ist oberstes Gebot. Wenn du dich entscheidest, die Hilfestellung des Lichts anzunehmen, so rufe es und es wird da sein. Dein Schutzengel und viele Lichtengel wachen in deiner Nähe, bis du soweit bist. Du bist unendlich geliebt...