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Mein Weg

Ein politisches Bekenntnis

AutorMichail Chodorkowski, Natalija Geworkjan
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl640 Seiten
ISBN9783641060985
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Putins Gefangener: Michail Chodorkowski erzählt sein Leben
Während seiner zehnjährigen Gefangenschaft war Michail Chodorkowski der bekannteste Häftling Russlands. In diesem Buch, das 2011 in der Haft entstand und kapitelweise herausgeschmuggelt wurde, erzählt Chodorkowski erstmals ausführlich und offen von seiner Kindheit und Jugend, seinem Aufstieg zu einem der reichsten Ölunternehmer Russlands und von seinen Überzeugungen, die ihn zum Gegner Wladimir Putins werden ließen.

Wir erleben einen Mann, der sich nicht leicht in eine Schublade stecken lässt, der sich mutig für eine offene Gesellschaft engagiert in einem Staat, in dem Regimekritiker gefährlich leben, und der sich auch in der Haft noch unbeugsam zeigt. Die russische Journalistin Natalija Geworkjan ergänzt die Aufzeichnungen Chodorkowskis um Kapitel, die die Hintergründe weiter ausleuchten.

Michail Borissowitsch Chodorkowski, geboren 1963 in Moskau, studierte Chemie und Volkswirtschaft, war zunächst Funktionär in der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol und gründete 1989 eine der ersten Privatbanken Russlands mit. 1992 gehörte er zum Beraterstab von Boris Jelzin, 1993 war er stellvertretender Energieminister. 1997 wurde er Vorstandsvorsitzender des Ölkonzerns Jukos und einer der reichsten Männer Russlands. Als Kritiker der Regierung Putin setzte er sich für die Stärkung der Zivilgesellschaft ein. Im Jahr 2001 initiierte er die Stiftung 'Offenes Russland', die u.a. Schulen und Waisenhäuser unterhält. 2003-2013 war er wegen angeblicher Steuerhinterziehung und Diebstahl von Ölfördermengen in Sibirien und Moskau in Haft. Chodorkowski ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Er lebt inziwschen in London.

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Leseprobe

MICHAIL CHODORKOWSKI

KAPITEL 1

»Borissytsch« – ein Fremder, der doch Respekt verdient

Wenn ich von der Strafkolonie [im sibirischen Krasnokamensk]erzähle, muss man wissen, dass ich mich nur relativ kurz dort aufgehalten habe: von Oktober 2005 bis Dezember 2006. Danach wurde ich in das Untersuchungsgefängnis in Tschita und anschließend, im Februar 2009, zurück in das Untersuchungsgefängnis 99/1 in Moskau überstellt.

Die Lebensbedingungen sind in der Strafkolonie generell viel besser als im Gefängnis. Im Gefängnis ist man den ganzen Tag – mit Ausnahme der einen Stunde Hofgang – mit ein und denselben Leuten in einem kleinen Raum eingesperrt. In der Strafkolonie ist es genau umgekehrt: In der Baracke und auf dem Gelände brodelt das Leben, man kann herumlaufen, bis es einem zuviel wird.

Die Sonne, die man im Gefängnis nicht zu sehen bekommt, der Himmel, im Sommer das Grün – das ist alles sehr wichtig für einen Menschen. Nach ungefähr einem Jahr merkt man erst wirklich, wie sehr einem diese einfachen Dinge fehlen. Auch die Gesundheit leidet zweifellos: die Augen, die Muskeln, das Immunsystem …

Die Organe des menschlichen Körpers sind nicht für den Kerker gemacht, sie »protestieren« lautstark, besonders bei ganz jungen Leuten.

Die Verlegung aus dem Gefängnis in die Strafkolonie war eine Geschichte für sich. Wohin es ging, war geheim. Wie lange die Fahrt dauern würde, war geheim. Allein im »Stolypin-Wagen«.9 Dazu haufenweise Begleitposten. Einer steht mir die ganze Zeit gegenüber und sieht mich unverwandt an. Schon auf der ersten Station (nach einer Stunde) kam die Ansage aus einem Bahnhofslautsprecher: »Der Zug von Moskau nach Tschita fährt von Gleis zwei ab.« So viel zur Geheimhaltung …

Sechs Tage und Nächte lang las ich (ich hatte eine ganze Tasche voll Bücher im Gepäck), und dann – sei gegrüßt, Krasnokamensk!

Raus aus dem Waggon, rein in den Gefangenentransporter, allerdings ohne die üblichen Hunde. Die neugierigen Blicke der örtlichen Wachmannschaften.

Die Zone. Das »Abschreiten der Formation« beim Eintreten – kläffende Tölen und die Soldaten aus der Wachabteilung, die sie zurückhalten. Mir ist zum Lachen, und ich bin gespannt. Eine Gruppe Offiziere nimmt mich in Empfang. Ich soll meine Mütze abnehmen und mich vorstellen. Ich nehme sie ab, obwohl die Forderung rechtswidrig ist, das weiß ich, ich habe das Gesetz auswendig gelernt, will aber wegen solcher Kleinigkeiten keinen Ärger machen.

Wir gehen weiter zum Gebäude mit den Arrestzellen (später bin ich hier häufiger zu Gast). Durchsuchung. Eingezogen wird alles, was in dieser konkreten Zone »nicht gestattet« ist. Ich erhebe keinen Einspruch, aber ich habe auch nichts besonders Wichtiges dabei. Die Bücher und Hefte lassen sie mir, die werden nur durchgeblättert – das ist die Hauptsache.

Einige Tage später die »Zuweisung«. Die Kommission, angeführt vom Lagerkommandanten, fragt: »Was machst du im normalen Leben?«. Ich sage nichts dazu, gucke aber befremdet. Er geht zum »Sie« über, »fürs Erste« wahrscheinlich.

Welche Ausbildung haben Sie, welche Arbeit wollen Sie verrichten?

Ich könnte unterrichten, ich habe mehrere berufliche Fachrichtungen.

Wir bieten Ihnen eine Arbeit in der Näherei an und raten Ihnen, das nicht abzulehnen …

Einige Monate später erzählen die Jungs aus der Operativabteilung (sie sind alle fast noch Kinder), sie hätten mich eigentlich in die Bäckerei schicken wollen, die vom Lager abgetrennt ist, um keine Probleme zu haben. Aber dann sei ein Anruf aus Moskau gekommen und sie hätten mich in die Näherei stecken müssen.

Um als Näher arbeiten zu können, braucht man eine Ausbildung. Ich sah mir die Anlagen an und wusste: Das ist eine Falle. An solchen Maschinen schafft man die Norm nicht, die Nähte werden Mist. Die lassen mich auflaufen.

Ich schrieb meine erste Eingabe und verwies auf meine schlechten Augen. Die Prüfung »schaffte ich nicht« – nachdem ich angekündigt hatte, wenn ihr fälscht, gibt es einen Skandal.

Die erste Reaktion war klar: Wir pfeifen auf deine Augen, wir pfeifen auf die Prüfung! Es wird trotzdem gearbeitet.

Ach so ist das? Als nächstes schreibe ich drei Eingaben: an den Leiter der Kolonie, den Staatsanwalt und an Gostrudnadsor.10

Meine Ingenieursausbildung, meine Erfahrung im Betrieb und meine Vergangenheit in diversen Baubrigaden versetzen mich in die Lage, auf zwei Seiten eine ganze Liste mit Verstößen gegen die Sicherheitsbestimmungen darzulegen, die eine Einstellung der Produktion bis zur Behebung der Mängel erforderlich machen würden.

Höflich überreiche ich dem Leiter die Schreiben.

Zwei Tage später bin ich Komplettierer (Verlader) in derselben Werkstatt. Das ist in Ordnung. Das ist Arbeit auf Zeit, ohne schlechte Anlagen: Hier kann ich die Qualität garantieren, weil sie nur von der Arbeit meiner Hände abhängt.

Bald darauf lässt der Leiter der Kolonie mich zu sich holen – zum »Reden«. Ich weiß gleich, er hat einen Befehl erhalten und will sich ein Bild machen, wie er ihn am besten umsetzen kann. Ich sage ihm direkt: Wenn man Ihnen sagt, Sie sollen mich »fertigmachen«, sollten wir uns besser absprechen, wie das genau aussehen soll, damit Sie Ihren Bericht schreiben können und ich Ihnen nichts nachtragen muss.

Sehr gern hätte er das gemacht, aber entweder traute er sich nicht oder er hielt mich für schwach und versuchte, auf eigene Faust klarzukommen.

Eine Disziplinarstrafe, dann noch eine, dann der Karzer11 – und nun gehe ich vor Gericht. Die Administration ist schockiert. Eine Gerichtsverhandlung in der Kolonie wird anberaumt. Der Vorsitzende des Stadtgerichts kommt. Ein »Zeuge« aus den Reihen der Gefangenen wird vorgeladen. Ich bin auf alles gefasst. Ich habe meine Erfahrungen mit der tendenziösen »Basmanny-Justiz«.12 Da zeigt der Zeuge plötzlich mit dem Finger auf den Leiter der Operativabteilung und sagt zum Richter: »Er hat mich gezwungen zu lügen, hat mir Zigaretten gegeben. Hier sind sie. Ich werde die Wahrheit sagen.«

Wieder ein Schock. Dieses Mal auch für mich. Meine Nerven sind am Ende. Ich reiße mich zusammen. Der Richter zum Leiter: »Wenn Sie den Zeugen bestrafen, gebe ich das Protokoll in den Geschäftsgang. Die Disziplinarstrafe wird aufgehoben.«

Übrigens sagte der Leiter der Kolonie (bereits ein anderer) drei Jahre später, während der Verhandlungen zur Strafaussetzung auf Bewährung,13 dem Richter ganz direkt: »Ich hatte den ›Auftrag‹, Chodorkowski strenge Haftbedingungen aufzuerlegen, aber wegen seiner ständigen Eingaben und Klagen ging das nicht.«

Für mich wurde das bald zum regulären Rhythmus: Disziplinarstrafe – Karzer – Gerichtsverfahren – Aufhebung der Disziplinarstrafe … Dazwischen Arbeit in der Näherei, Gespräche mit den Leuten der Strafkolonie.

Eine bunte Gesellschaft ist das: von ungebildeten Schafhirten aus den umliegenden (»gerade mal« 300 bis 400 Kilometer entfernten) Siedlungen bis zu Bergarbeitern von den Uranlagerstätten mit mittlerer technischer Ausbildung. Von ganz gewöhnlichen, gesetzestreuen Bürgern bis hin zu »aussichtsreichen« Führungsfiguren im Verbrechermilieu. Von ganz normalen Menschen bis zu bösartigen Kriminellen, die noch nach dem Jugendstrafrecht zehn Jahre für Serienmorde aufgebrummt bekommen haben und jetzt den Rest ihrer Haft in einer Strafkolonie für Erwachsene absitzen, und die nicht begreifen, dass der nächste Mord ihnen lebenslang einbringt. Von moralischen Hemmschwellen braucht man hier nicht zu reden.

Diese bizarre Mischung wird ständig im selben Kessel verrührt. Im Zaum gehalten wird sie weniger unmittelbar von der Administration oder den Chefs des kriminellen Milieus als vielmehr von einem allgemeinen Verständnis dessen, wo die Grenzen der persönlichen Freiheit liegen, und dem Gefühl einer gewissen Gemeinsamkeit und gegenseitigen Abhängigkeit. Wirklich asoziale Persönlichkeiten sind in der Kolonie selten, sie werden von der Administration und vom Kollektiv im Lager »zurechtgestutzt«. Die Methoden sind natürlich unterschiedlich: von der Aussiedlung in eigens dafür geschaffene »Ghettos« bis hin zu »schwerer Körperverletzung«.

Meine Position war in dieser Hinsicht eine ganz eigene, angefangen schon damit, dass die Lagergesellschaft über ein Jahr lang nicht imstande war, mich einer bestimmten »Farbe«, also einer Kaste innerhalb der Lagerhierarchie zuzuordnen. Da gibt es ja ziemlich einfache Kriterien: Wer mit der Administration »kooperiert«, ist ein »Roter«; wer anderen »seinen Willen aufdrängt« oder »herumgammelt«, ist ein »Schwarzer«. Wer arbeitet und sich den »Autoritäten« unterordnet, ist ein »Bauer«. Wer nicht arbeitet, wer sich Gehör verschafft und die Idee der Unabhängigkeit des Einzelnen vom Staat vertritt, ist eine »Autorität«. Ich aber habe sowohl gearbeitet als auch mit der Administration auf allen Ebenen gesprochen, gleichzeitig habe ich länger als alle anderen im Strafarrest gesessen, und auf den Gedanken, ich könnte ein Spitzel sein, wäre niemand gekommen. Ich habe mit allen Vertretern aus dem »Komitee der Blatnye«14 gesprochen, mich ihnen aber niemals und in keinem Punkt unterworfen.

Gegen Ende meines Aufenthalts im Lager hatte ich ein interessantes Gespräch mit einem der am meisten geachteten Vertreter der dortigen »Schattenadministration«. Er sollte in ein Lager bei Blagowestschensk verlegt werden, wo solche...

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