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Muslime in der Diaspora

Leben zwischen islamischer Normenlehre und nicht-islamischem Staatsrecht am Fallbeispiel der islamischen Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland e.V.

AutorChristian Müller-Thomas
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl49 Seiten
ISBN9783638070201
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Studienarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Jura - Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, Rechtsgeschichte, Note: 1,7, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Juristische Fakultät), Veranstaltung: Islamische Normenlehre, 39 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Besteht die Notwendigkeit einer innerislamischen Neuorientierung oder wird die ?ar?Þa den rechtsstaatlichen Vorgaben gerecht ohne dass unsere muslimischen Mitbürger Gefahr laufen ihre eigene Identität aufgeben zu müssen? Welche Möglichkeiten stehen überhaupt den in Deutschland organisierten Verbänden zur Verfügung, um eine adäquate Umsetzung ihrer Ziele verfolgen zu können? Auf dem Fundament einer grundlegenden Betrachtung von Entwicklung, Struktur und Wesen der ?ar?`a muss eine Analyse vorgenommen werden, die sich näher mit der islamischen Normenlehre im Verhältnis auf ihre Gültigkeit für Muslime in einem nicht-islamischen Land beschäftigt. Denn der Islam ist in seiner Rechtstradition hauptsächlich als ein Modell des Zusammenlebens von Muslimen und Nicht-Muslimen konzipiert. Dieses geht traditionell davon aus, dass die Muslime die herrschende Mehrheit darstellen, die politische Macht im Staat besitzen, die Gesetzgebung gestalten und die Rechtsprechung nach islamischen Recht und Gesetz besorgen. Da die religiöse Komponente in der Integrationsproblematik eine unentbehrliche Grundlage für notwendige politische Überlegungen über die Mittel und Wege zur Ermöglichung eines gedeihlichen Zusammenlebens zwischen deutscher Mehrheitsgesellschaft und muslimischer Minderheit stellt, beschäftigt sich diese Abhandlung mit der Frage nach der islamisch religiösen Legitimität eines dauerhaften muslimischen Aufenthalts in einem nicht-islamischen Staat. Da Muslime in der Diaspora den historischen Ursprung ihrer Handlungsanweisungen bezüglich des Umgangs mit nicht-islamischen Mehrheitsgesellschaften in der Auswanderung (Hi?ra) des Propheten Muhammads von Mekka nach Medina im Jahre 622 n. Chr. finden, bedarf es zunächst der Klärung des historischen Hintergrunds. Dies ermöglicht eine bessere Deutung der bestehenden Rechtsgrundlage. Im Zuge der Untersuchung werden dafür einschlägige Koran- und Had?thpassagen gesichtet. Anknüpfend an klassische Gutachten zu diesem Prüfungsgegenstand steht die islamische Charta im Blickfeld moderner Positionierungen islamischer Gelehrter Europas und traditioneller islamischer Gelehrter.

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Leseprobe

3. Religion im deutschen Recht


 

Die Säkularisierung staatlicher Macht war eine angemessene Antwort auf die Religionskriege und Konfessionskriege der frühen Neuzeit. Mit zunehmender Unabhängigkeit von geistlichen Autoritäten war es dem Staat möglich eine konfessionell gespaltene Gesellschaft zu befrieden und Sicherheit zu stiften. Erst dadurch wurde es einer Regierung möglich eine graduelle rechtliche Übertragung an religiöse Minderheiten vorzunehmen. Zunächst wurde den gläubigen Minoritäten die Freiheit eingeräumt „[…] überhaupt einer anderen Glaubensrichtung anzuhängen als der etablierten Kirche (also Glaubensfreiheit), danach die Freiheit, ihren Glauben öffentlich zu bekennen (Bekenntnisfreiheit), und schließlich auch das Recht, ihre abweichenden religiösen Überzeugungen in aller Form zu praktizieren (freie Religionsausübung).“[41] Der säkulare Charakter eines Staates ist aber noch keine hinreichende Bedingung dafür, allen religiösen Minderheiten gleiche religiöse Freiheitsrechte zu garantieren. Vielmehr benötigt es einen liberalen Staat, der Religionsfreiheit als Menschenrecht gewährleistet. Zudem muss eine unparteiische Anwendung des Toleranzprinzips über jeden Verdacht erhaben sein. Deshalb reicht die Unterordnung der säkularen Staatsgewalt unter der Herrschaft des Rechts (also der Rechtsstaat) nicht aus. Zwingende Gründe für die Definition dessen, was im Einzellfall toleriert werden soll oder nicht zu dulden ist, lassen sich durch ein demokratisches Verfahren ermitteln.[42] Demokratie bedarf nicht nur der Bereitschaft ihrer Bürger die Gesetze zu befolgen, sondern darüber hinaus die Anerkennung der Verfassung. Letzteres kann nicht gesetzlich erzwungen werden, vielmehr muss es auf guten Gründen und Überzeugungen basieren und in der inneren Gesinnung wurzeln schlagen. Jürgen Habermas betont den Wesenszug eines demokratischen Staatsbürgerethos bezüglich anspruchsvoller Erwartungen gegenüber gläubigen Menschen und religiösen Vereinigungen. Denn die Vereinnahmung säkularer Legitimation des Gemeinwesens müsste unter Prämissen des eigenen Glaubens vollzogen werden.[43] Da Säkularer Staat, Liberalismus und Demokratie die Kernstruktur der freiheitlich demokratischen Grundordnung darstellen, wird dadurch wiederum die Frage nach den Chancen der Verinnerlichung dieser Prinzipien im Islam angestoßen.

 

Der Islam insgesamt hat nicht jene Prozesse durchgemacht, die in Europa Werten wie Selbstbestimmung, individueller Freiheit und Religionsfreiheit zum Durchbruch verholfen haben. Veränderungen im Islam basieren auf keinem schmerzhaften Lernprozess wie er sich im Laufe der vernunftrechtlichen Tradition von Locke über Rousseau bis zu Kant entwickelt hat. Er wurde stattdessen vielfach nur äußerlich modernisiert. Dies zeigt sich unter anderem dadurch, dass - vor allem in traditionellen Milieus - die Bestimmungen der ŠarīÞa die Lebensformen und Verhaltensweisen der muslimischen Gläubigen prägen. Da in Deutschland das staatliche Zivilrecht dem islamisch- religiösem vorsteht, steht der Gesetzgeber deshalb vor der Aufgabe den Islam in Deutschland für die Werte des Grundgesetztes zu sensibilisieren. Einen ersten Schritt stellt dabei die - durch den deutschen Innenminister Wolfgang Schäuble initiierte - Deutsche Islam Konferenz[44] (DIK) dar. Dem Innenministerium zu Folge ist das Ziel der DIK „eine verbesserte religions- und gesellschaftspolitische Integration der muslimischen Bevölkerung in Deutschland, [um] gewalttätigen Islamismus, Extremismus [und] der Segregation von Muslimen in Deutschland entgegen zu wirken.“[45] Aus Betrachtung der rechtlichen Perspektive soll im Verlauf der DIK erörtert werden, „wie unterschiedliche religiöse Sitten und Gebräuche des Islam in Einklang mit der deutschen Verfassungsordnung gebracht werden können, ob und wie der Islam (als Religion ohne Kirche) den Organisationserfordernissen des deutschen Religionsverfassungsrechts gerecht werden kann und wie die über viele Jahrhunderte deutsche Verfassungs- und Rechtsordnung zur Entwicklung eines modernen, deutschen Islam beitragen kann.“[46]

 

Den angesprochenen, rechtlich omnipräsenten Zustand des deutschen Religionsverfassungsrechts gilt es nunmehr aufzugreifen, um den Gegenstand des Konfliktes „islamischer Tradition im deutschen Rechtsstaat“ und die daraus resultierenden Herausforderungen zu verdeutlichen.

 

3.1. Deutsches Religionsverfassungsrecht


 

Wie bereits im Kapitel 2.4 erörtert wurde, ist ein Neutralitätsgebot des Staates verpflichtend, um ein friedliches Miteinander zu gewährleisten, wodurch alle Religionen verfassungsrechtlichen Schutz genießen. Andererseits muss aber Rechtstreue für alle in einem Land lebenden Menschen ein selbstverständliches Gebot sein. Da es nicht leicht ist Religionsfreiheit im Einzelnen zu präzisieren, gehen hier die Dinge gelegentlich durcheinander und erschwert zu präzisieren wo die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit endet?[47] Eng damit verbunden wirft der migrationspolitische Aspekt muslimischer Minderheiten eine Vielzahl von Fragen auf. Grundrechtsdogmatisch müssen Inhalte des Schutzbereichs, des Grundrechtseingriffs und der Schranken der Religionsfreiheit mit ihren Einzelaspekten in verschiedenen Zusammenhängen diskutiert werden. Ins Blickfeld der Analyse geraten dadurch die Zulässigkeit staatlicher Religionsförderung und zusammenhängend damit die Gleichheit vor dem Religionsverfassungsrecht.[48] Aber auch die Gesamtthematik des Körperschaftsstatus, das Selbstbestimmungsrecht und Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften muss neben vielen anderen – wie der besonders emotionsgeladene schulische und religiöse Bereich – betrachtet werden.[49]

 

Das Religionsverfassungsrecht der Bundesrepublik besteht aus einem grundrechtlichen, im wesentlichen in Art. 4 GG garantierten Teil und einem organisationsrechtlichen Abschnitt, der - neben einzelnen grundrechtlichen Aspekten[50] - in Art. 140 GG in Verbindung mit den so genannten Weimarer Kirchenartikeln inkorporiert ist. Diese beiden Grundpfeiler des Systems sind im Kontext ein und derselben Verfassung gleichermaßen „vollgültiges“ Verfassungsrecht und stets zusammen zu lesen. Dabei ist zwischen individueller und kollektiver Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit zu unterscheiden. Denn das Grundrecht aus Art. 4 wird allgemein auch den „Religionsgesellschaften“[51] (Art.137 Abs. 2 – 7 GG) bzw. „Religionsgemeinschaften“ (Art.7 Abs. 3 GG) zugestanden.[52] Das bedeutet, dass nicht nur Individuen verfassungsrechtlichen Schutz genießen, sondern dieser ebenfalls inländischen juristischen Personen (z.B. eingetragenen Vereinen) zustehen, die die Pflege des religiösen Bekenntnisses ihrer Mitglieder zum Zweck haben.[53] Maßgeblich für die zentrale Verfassungsnorm individueller (Religion) und kollektiver (Religionsgemeinschaft) Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit sind die beiden ersten Absätze des Art. 4 GG.

 

Abs. 1 Die Freiheit des Glauben, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. 

 

 Abs. 2 Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

 

Durch Art. 4 GG erhält nicht nur die innere religiöse Überzeugung, sondern auch die religiös motivierte, von anderen wahrnehmbare Betätigung verfassungsmäßigen Schutz. Glaubensfreiheit ist gerade im säkularen Rechtsstaat mehr als bloße religiöse Toleranz. Sie beschränkt sich nicht auf die religiöse Praxis im stillen Kämmerlein, sondern umfasst das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln.[54] Geschützt ist auch die Freiheit, nicht religiös zu sein und dies nach außen deutlich zu machen. Dabei darf aufgrund des Neutralitätsgebotes des Staates von eben diesem aber nicht verlangt werden, dass er sich generell aus allen religiösen Angelegenheiten zurückzieht. Vor allem der zweite Absatz des Art. 4 GG verpflichtet den Staat religiöse Rechte zu gewährleisten. Ein Mindestschutz religiöser und weltanschaulicher Bekenntnis findet deshalb im Strafrecht Anwendung: „Wer öffentlich und durch Verbreitung von Schriften den Inhalt des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, [kann] nach § 166 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft [werden].“[55]

 

Die ebenfalls garantierte Gewissensfreiheit wurde früher meist synonym zusammen mit der Freiheit des Glaubens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses als ein Bestandteil der Religionsfreiheit gesehen. Nach dem gegenwärtigen allgemeinen Verständnis weist Gewissensfreiheit einen ganz eigenständigen Charakter auf. Sie knüpft nicht an die Text- und Begriffsgeschichte an, sondern im Anschluss an Niklas Luhmann an eine ganz spezielle Funktion. „Sie stellt ein Abwehrrecht gegenüber aufgezwungenen Konflikten dar und garantiert gegebenenfalls gewissensneutrale normative Handlungsalternativen (Freistellung von unzumutbarem Rechtszwang zur...

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