Die vertrieblichen Strukturen in der Versicherungswirtschaft sind in drei große Bereiche zu untergliedern, in welchen Versicherungen eines oder mehrerer Unternehmen verkauft und vertrieben werden. Diese sind zuerst der Banken- oder Geschäftsstellenvertrieb, in dem die Mitarbeiter fest bei einer Gesellschaft angestellt sind und nur für diese vermitteln. Dann der Agenturvertrieb, wobei die Vermittler auch streng an ein Unternehmen und dessen Produkte gebunden sind, sich aber in der Selbstständigkeit befinden. Zuletzt gibt es noch die Form des Strukturvertriebs,welcher sich dadurch auszeichnet, dass Produkte von vielen verschiedenen Versicherungen vertrieben werden können, die Beschäftigten selbstständig sind, aber trotzdem in feste organisatorische Strukturen ihrer Gesellschaft eingebunden sind[89]. Die kommenden Kapitel beschreiben die Eigenheiten jedes einzelnen dieser Vertriebswege und zeigen auf, wie der organisatorische Aufbau gestaltet ist, welche Anforderungen an die Mitarbeiter gestellt werden, unter welchen Bedingungen vermittelt wird und wie die Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Beschäftigte aussehen und wodurch diese erreicht werden können.
Als Agenturvertrieb wird der Vertrieb bezeichnet, in welchem Vermittler selbstständig sind und sich mit einem Vertrag an ein Versicherungsunternehmen binden, für das sie Versicherungen vertreiben. Dafür erhalten sie vom Unternehmen verschiedene Provisionen und Zusatzleistungen als Entlohnung und sind in ein organisatorisches System eingebunden, über das sie auf Spezialisten für die verschiedenen Sparten, Schulungen und Unterstützung in der Agenturführung zurückgreifen können[90].
Ein Agenturist unterhält in aller Regel ein eigenes Büro, in dem er seinen Kunden Versicherungsdienstleistungen anbietet und als ihr direkter Ansprechpartner fungiert[91]. Laut VVG gilt er als Ausschließlichkeitsvermittler, der nur für sein Unternehmen vermittelt – eine Ausnahme dazu stellt nur der Mehrfachagent dar. Laut Beenken wird „die Agentur als Kleinbetrieb (...) in aller Regel vom Inhaber dominiert“[92], was bedeutet, dass viele Agenturisten allein arbeiten oder nur mit einem Angestellten, der für Büroarbeit zuständig ist. Manche von ihnen haben jedoch auch große Büros, in denen sie mehrere Angestellte für den Außendienst beschäftigen oder mit ihren Teilhabern arbeiten. Jede Agentur in Deutschland ist in eine Struktur des Mutterunternehmens eingegliedert, die in aller Regel nach regionalen Gebieten wie Bundesländern, Regierungsbezirke oder Landkreise aufgeteilt wird. In dieser Organisation, je nach Unternehmen Bezirks-, Kreis-, Gebiets- oder Regionaldirektion genannt, sind fest angestellte Spezialisten und Verwaltungskräfte sowie eine Führungskraft beschäftigt, die für die Agentur als Ansprechpartner gelten. Sie arbeiten gemeinsam mit den Agenturinhabern Geschäftspläne für das kommende Jahr aus, sind für die Zahlungen von Provisionen und Zusatzleistungen zuständig und helfen bei speziellen Fragen und Anliegen[93], wie z.B. der Einstellung von Lehrlingen oder dem Abschluss von Versicherungsverträgen in speziellen Bereichen. Die Beschäftigten der Agenturen und ihre Inhaber sind den Bezirks-, Kreis- Gebiets- oder Regionaldirektoren – ihren Führungskräften – nicht in gleicher Art und Weise unterstellt wie ein normaler Arbeitnehmer seinem Vorgesetzten. Bei ihnen besteht grundsätzlich eine Selbstständigkeit und somit sind sie für ihr Handeln und ihr Geschäft Keinem zu Rechenschaft verpflichtet. Andererseits erhalten sie natürlich ihre Bezüge von diesen Direktionen und stehen damit trotzdem in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis[94][95].
Der Kundenbestand der Agenturen ist immer Eigentum des Versicherungsunternehmens und wird dem Agenturisten nur für eine bestimmte Dauer kostenlos zur Betreuung zur Verfügung gestellt. Darin begründet sich die zweite Form der Abhängigkeit der Agenturen, da sie ja ihren Bestand zu ihrer täglichen Arbeit benötigen und auf das Wohlwollen der Direktionen und auf ihre guten Arbeitsergebnisse angewiesen sind, um diesen auch behalten zu dürfen[96].
Die Aufgabe eines Beschäftigten in einer Agentur ist hauptsächlich, den Bestand seines Unternehmens bestmöglich zu betreuen, daraus viele Verträge abzuschließen und möglichst viele Kunden umfassend zu beraten[97]. Er muss dafür sorgen, dass seine ihm zugeteilten Kunden gerne auch weiterhin seine Kunden bleiben wollen und neue Kunden mit ihren Verträgen zu ihm wechseln wollen[98]. Um die Erreichung dieser Aufgaben zu gewährleisten erhalten Agenturen am Anfang eines Geschäftsjahres einen Geschäftsplan, in welchem die Versicherungsgesellschaft mit ihnen vereinbart, für welche Verträge wie viel Bestands- und Abschlussprovisionen bezahlt werden. Die Erfüllung seines Geschäftsplans sichert somit direkt den Lebensunterhalt des Agenturisten. Auf welche Art und Weise der Beschäftigte seine Ziele erreicht ist dabei für die Gesellschaft nebensächlich; das bedeutet, ob ein Mitarbeiter einfach mehr arbeitet oder stattdessen Schulungen besucht um effizienter arbeiten zu können, oder ob er eigene Mitarbeiter einstellt ist ihm alleine überlassen. Für das Unternehmen zählen die Zahlen, die am Jahresende vorgelegt werden[99]. Ein großer Aufgabenbereich des Agenturisten ist somit seine Selbstorganisation, welche die Umsetzung der Geschäftsziele, seine persönliche Zeit- und Ressourceneinteilung, sein Wissensmanagement und die Einteilung seiner Kunden nach Gruppen umfasst.
Um Weiterentwicklung bei einem Agenturinhaber zu erreichen, also vermehrte Produktion von Geschäft, müssen mehr oder in Summe höhere Abschlüsse getätigt werden. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen kann zum Einen sein, dass der Mitarbeiter vermehrt vermögende Kunden berät, da in diesem Segment eine Chance auf einen hohen Abschluss größer ist. Somit muss er Fähigkeiten entwickeln, wie er seine bereits vorhandenen Kunden in Gruppen nach laufendem Einkommen oder Vermögen einteilt und diese Kunden dann bevorzugt berät. Für die Beratung eines solchen Klientels ist tiefgreifenderes Wissen zu steuerlichen Gegebenheiten und speziellen Anlageformen, sowie versicherungstechnischen Großrisiken notwendig, welches sich der Berater ebenfalls aneignen muss. Auch eine Hinwendung zu gewerblichen und landwirtschaftlichen Kunden kann für den Agenturisten einen finanziellen Mehrwert, hervorgerufen durch hohe Prämien, bedeuten. In diesem Bereich ist, wie bei vermögenden Privatkunden, wieder sehr spezielles Versicherungswissen notwendig, um einen Kunden angemessen absichern zu können.
Wie aus diesen Ausführungen deutlich erkennbar wird, wird ein Mitarbeiter im Agenturvertrieb sehr stark über die Ausschüttung von Provisionen gelenkt. Dementsprechend gibt es für viele in diesem Bereich tätigen Arbeitskräfte Weiterentwicklung nur in finanzieller Hinsicht. Jede intellektuelle und fachliche Weiterbildung, sowie damit verbundene Aufwendungen, dienen nur dem Zweck, mehr Provisionen zu erhalten. Eine Weiterentwicklung in hierarchischer Form ist im Agenturvertrieb darüber hinaus nur in äußert beschränkten Maße möglich. Ein Teilhaber einer Agentur kann versuchen, alleiniger Geschäftsinhaber zu werden oder eben ein Agenturist sein Personal ausbauen; aus der eigenen Position als Agenturinhaber ist jedoch per se kein weiterer Aufstieg mehr möglich, da dieser ja nicht direkt in eine Unternehmensorganisation eingebunden ist, sondern darin nur als Vertriebspartner angesehen wird[100].
Im Geschäftsstellenvertrieb sind Vertriebsformen mit inbegriffen, bei denen Versicherungsgesellschaften eigene, also nicht an Vertriebspartner ausgelagerte, meist sehr große, Geschäftsstellen unterhalten, in denen Produkte der Versicherung vertrieben und Kunden von direkt Angestellten des Unternehmens beraten werden[101]. Die Geschäftsstelle gehört dabei meistens in ein festes, flächendeckendes Geschäftsstellensystem,wobei sich in jeder größeren Stadt im Geschäftsgebiet der Versicherung eine solche befindet[102]. Der Bankenvertrieb umfasst alle Vertriebswege, in denen Berater der Versicherungen in kooperierenden Banken eingesetzt werden und dort für das Versicherungsgeschäft zuständig sind[103]. Beide Vertriebswege werden in diesem Kapitel gemeinsam behandelt, da die Beschäftigten darin zum Großteil festangestellt sind[104]. Nur auf diese Form des angestellten Vertriebs soll hier eingegangen werden. Selbstständige Mitarbeiter in Geschäftsstellen und Banken hingegen sind den Agenturen zuzuordnen, da sich ihre Organisationsstruktur, Anforderungen und Motivationsmöglichkeiten der Mitarbeiter sehr stark ähneln.
Wie bereits oben erwähnt, gehören die Mitarbeiter im Banken- und Geschäftsstellenvertrieb im Normalfall einer direkt dem Unternehmen...