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E-Book

Orchidee oder Löwenzahn?

Warum Menschen so unterschiedlich sind und wie sich alle gut entwickeln können

AutorW. Thomas Boyce
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783426442333
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Ein psychologisches Sachbuch über das Thema, warum wir Menschen uns unterschiedlich entwickeln. Menschen sind rätselhaft: Während der eine wie eine Orchidee feinfu?hlig auf alle Widrigkeiten reagiert, ist der andere robust und kommt problemlos wie ein Löwenzahn mit allen Herausforderungen zurecht. Der international renommierte Kinder-Psychologe W. Thomas Boyce hat dieses Phänomen jahrzehntelang untersucht. Seine weltweit anerkannte Forschung zeigt, dass das Zusammenspiel von genetischen Voraussetzungen und Umwelteinflu?ssen daru?ber entscheidet, wie Menschen mit den Anforderungen ihrer Umwelt fertig werden und Stress verarbeiten. Diese Erkenntnisse helfen uns zu erklären, warum wir so geworden sind, wie wir heute sind. Und sie motivieren Eltern, über die Erziehung ihrer Kinder nachzudenken und die passenden Bedingungen zu schaffen, damit sie alle die gleichen Chancen bekommen und zu starken und gesunden Persönlichkeiten heranwachsen - ob sie nun eine verletzliche Orchidee oder ein widerstandsfähiger Löwenzahn sind.

W. Thomas Boyce ist emeritierter Professor für Kinderheilkunde und Verhaltenspsychologie an der University of California und hat mehr als 20 Jahre an der Berkeley School of Public Health geforscht. Sein Interesse gilt der Erforschung des Zusammenwirkens von neurobiologischen und psychosozialen Prozessen bei Kindern. Er konnte zeigen, wie psychischer Stress die körperliche Verfassung von Kindern beeinträchtigt.

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Leseprobe

Einleitung


Was, wenn die Kinder, um die wir uns am meisten Sorgen machen, die mit dem vielversprechendsten Potenzial wären? Was, wenn die Jugendlichen, deren Leben von Rebellion und Problemen gezeichnet ist, die mit der leuchtendsten und kreativsten Zukunft wären? Was, wenn scheinbar kummervolle und problematische Kindheiten unter ermutigenden und unterstützenden Bedingungen Erwachsene hervorbrächten, die nicht nur ein normales Leben und passable Leistungen, sondern tiefe, reiche Beziehungen und inspirierte Ergebnisse zuwege brächten? Was, wenn die sehr echte Belastung der ungewöhnlichen Zerbrechlichkeit eines Kindes in fassbare Vorteile menschlicher Resilienz umgewandelt werden könnte, sofern man einfühlsam auf das Kind eingeht? Was, wenn, kurz gesagt, die offensichtlichen Schwächen und Irrungen im jungen Leben einiger Menschen durch die Alchemie von sorgenden Familien oder Gemeinschaften und durch transformative Pflege getilgt werden könnten?

Dieses Buch handelt von genau solchen überraschenden Erlösungen. Es ist das Ergebnis aus der Forschung über kindliche Entwicklung und aus einer beinahe ein Menschenleben langen sorgfältigen Beobachtung von einem einst jungen Kinderarzt, der aufgrund von Segen und Glück Vater, Großvater und schließlich ein grauhaariger, gut durchgezogener Berater für Kinder und Familien wurde. Die Geschichte, die sich zugleich wissenschaftlich und persönlich präsentiert, ist mein Geschenk der Ermutigung und Hoffnung an alle, die Kinder unterrichten, schützen, versorgen, erziehen oder sich um sie sorgen, aber auch an jene, die seit ihrer Kindheit angestrengt nach dem Grund ihrer eigenen Mühsal mit menschlichen Unterschieden suchen. Sollte Ihr Leben in gewisser Weise meinem gleichen, so haben Sie sich unaufhörlich Sorgen um das Wohlergehen Ihrer Kinder und um deren Zukunft gemacht und viel darüber nachgedacht, inwiefern ihr Streben und ihre Prüfungen möglicherweise auf die Ihren zurückgehen könnten. Sie waren sicher aus dem Häuschen angesichts ihrer Triumphe und Leistungen, lebten für ihre Zuneigung, waren stolz auf das, was sie geschafft haben, grübelten aber weiterhin über ihre Probleme und Sorgen.

Als unsere Schwiegertochter mit unserem ersten Enkel schwanger war, wurden meine Frau Jill und ich eines Nachts vom schrillen Klingeln des Telefons am Nachttisch aus dem Tiefschlaf gerissen. Unser Sohn rief aus fast 5000 Kilometer Entfernung aus Brooklyn, New York, an. Seine geliebte junge Frau, die beinahe am Ende des zweiten Schwangerschaftstrimesters war, konnte wegen wiederkehrender starker stechender Schmerzen in Leiste und Becken nicht schlafen. Die beiden waren beunruhigt, insbesondere, da Babys und Schwangerschaften ja Neuland für sie waren. Nachdem wir uns den Schlaf aus den Augen gerieben hatten, widmeten Jill (Krankenschwester) und ich uns einer etwas vernebelten, aber einigermaßen vorsichtigen Anamnese dieser Schmerzen. Wir versuchten mehr über deren Sitz, Charakter und möglichen Grund herauszufinden.

Unsere Hauptsorge, die wir aber für uns behielten, war, dass der Schmerz eine frühe Wehentätigkeit und somit eine vorzeitige Geburt in der 33. Schwangerschaftswoche mit allen dazugehörigen Risiken für Mutter und Kind ankündigen könnte. Als wir jedoch Genaueres erfuhren, waren wir recht zuversichtlich, dass es sich um eine Überbelastung eines Muskels handelte, die wohl darauf zurückzuführen war, dass eine zierliche Frau mit einem überdimensionierten Bauch sich zu abrupt im Bett umdrehte. Wir beruhigten das junge Paar, dass der Schmerz wahrscheinlich von selbst verschwinden würde und dass ein Wärmekissen und Bettruhe sicher dabei helfen würden. Im Anschluss an das Telefonat drehte ich mich zu Jill um und bemerkte erschöpft, dass es zwar wirklich wunderbar sei, dass unsere beiden Kinder Partner gefunden und ihre eigenen Familien gegründet hätten, dies jedoch auch den unvorhergesehenen Nebeneffekt habe, dass wir uns nun um doppelt so viele Menschen Sorgen und Gedanken machen müssten. Wir hatten mit Unterbrechungen bereits fast 30 Jahre über die vertrackten Krankheiten und Schrammen unserer eigenen zwei Kinder gebrütet und sinniert, und nun hatten wir noch drei hinzubekommen – eine Schwiegertochter, einen Schwiegersohn und einen 32 Wochen alten Fötus –, um die wir uns auch sorgen mussten! Zwar sehr gern, aber eben doch sorgen.[1]

Doch das waren größtenteils alltägliche, nicht weiter bemerkenswerte Sorgen – die Art, die die normativen Landminen normaler Elternschaft bilden: das zweijährige Kind, das sich beim Fallen die Lippe aufreißt, während es in das Waschbecken urinieren will; der Fünfjährige, der sich einsam und allein in seiner Vorschulgruppe[2] fühlt; der Grundschüler, der in einem Schuljahr fünf Jacken und vier Vorhängeschlösser verliert; der Zwölfjährige, der von »Freunden« gemobbt wird, die ihn wiederholt zwingen, in einen Mülleimer zu steigen; die 15-Jährige, die offene Einladungen zu Partys verteilt, während ihre Eltern nicht in der Stadt sind, und so deren Groll und Ärger auf sich zieht. Das sind die banalen Vergehen, mit denen es beinahe alle Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder schon in der ein oder anderen Form zu tun hatten. Auch wenn sie im Rückblick bisweilen zum Lachen sind, können sie in dem Moment beträchtlichen Verdruss und eine ordentliche Portion Kummer bewirken.

Der Schmerz aber eines Elternteils, dessen Sohn oder Tochter auf Abwege zu geraten droht, ist von einem ganz anderen Kaliber. Zusehen zu müssen, wie ein Kind gefährlich vom Weg abkommt und allmählich unter den oftmals unumkehrbaren Konsequenzen der Abkehr von einem gesunden Leben zu leiden beginnt, ist die Art von Sorge, die man als Eltern geradezu körperlich spürt. Ein »Knoten im Magen«, Verzweiflung und Furcht erzeugen eine leichte Übelkeit und rauben einem den Schlaf, spuken einem bei der Arbeit im Kopf herum und höhlen selbst die stärkste Ehe durch schlechte Kommunikation, Bissigkeit und Enttäuschung aus. Zusehen zu müssen, wie das eigene Kind in düsteren Gefilden schlimmer psychischer Probleme versinkt, in Sucht, Schulversagen oder Kriminalität, ist eine fast unbeschreibliche Pein. Auch wenn ich diese Art von Sorge nie als Elternteil erleben musste, war ich beinahe mein ganzes Leben lang direkt und unauslöschlich mit einer solchen Seelenqual konfrontiert – durch meine Schwester, von der ich noch erzählen werde.

Eines der glühendsten Ziele dieses Buches ist es, den gepeinigten Eltern, Geschwistern, Lehrern und anderen, die ihre Zuversicht in das wiederherstellbare Versprechen eines Kindes verloren haben und/oder deren Glaube an das Gute in einem Kind und dessen Potenzial erschüttert wurde, Trost und Hoffnung zu schenken. Denn dem hintergründigen Titel dieses Buches – der Metapher von »Orchidee und Löwenzahn« – wohnt eine tiefe und oft hilfreiche Wahrheit über den Ursprung von Leid und die Erlösung im Leben eines Individuums inne. Die meisten Kinder sind mehr oder weniger wie ein Löwenzahn; sie gedeihen und blühen beinahe überall, wo sie hingepflanzt werden. Wie bei Löwenzähnen ist bei dieser Mehrheit der Kinder ihr Wohlergehen praktisch durch ihre gute und starke Konstitution abgesichert. Es gibt aber auch andere, diejenigen, die, ähnlich wie Orchideen, verwelken und verkümmern, wenn man ihnen keine sorgsame Pflege angedeihen lässt, die aber – wiederum wie Orchideen – Kreaturen von außergewöhnlicher Schönheit, Komplexität und Eleganz werden können, wenn sie Mitgefühl und Freundlichkeit erleben.

Während eine weitverbreitete, doch durchaus ungenügende Weisheit besagt, dass Kinder entweder »verletzlich« oder »belastbar« gegenüber den Herausforderungen des Lebens sind, hat unsere Forschung und die von anderen immer mehr gezeigt, dass der Gegensatz von Verletzbarkeit und Belastbarkeit ein falscher (oder zumindest irreführender) Dualismus ist. Es ist eine fehlerhafte Dichotomie, die Schwäche oder Stärke jeweils Untergruppen von Jugendlichen zuordnet und damit eine tiefere Wahrheit verschleiert, nämlich dass Kinder sich einfach in ihrer Empfindlichkeit und Empfindsamkeit gegenüber der sie umgebenden und fördernden Lebensbedingungen unterscheiden, wie Orchideen und Löwenzähne. Und das ist das erlösende Geheimnis dieser Geschichte: dass Orchideenkinder mit ihren Misserfolgen und ihrem Scheitern leicht diejenigen werden können, die auf ganz einzigartige Weise aufblühen und gedeihen.

Aber es gibt andere Gründe, warum Sie, als Leser, die wissenschaftliche Geschichte, die dieses Buch erzählt, vielleicht erkunden wollen. Vielleicht sind Sie Eltern und kämpfen bei der Erziehung Ihrer höchst unterschiedlichen Kinder gerade mit der enttäuschenden Erkenntnis, dass nicht alles bei jedem Kind funktioniert. Vielleicht haben Sie ein Kind, das in der Schule oder im Leben enorm zu kämpfen hat – trotz Ihres Gefühls, dass dieses Kind ein bemerkenswerter und vielversprechender junger Mensch ist. Oder Sie sind eine Lehrkraft und suchen nach Methoden, um das verwirrende Sammelsurium an Kindern, das sie unterrichten (und managen!) sollen, besser zu verstehen. Vielleicht sind Sie aber auch jemand, für den die Metapher von Orchidee und Löwenzahn eine persönliche Bedeutung hat, die Sie schon immer gefühlt, jedoch nie verstanden haben.

Auf den folgenden Seiten werde ich die wissenschaftlichen Erkenntnisse und entsprechende Handlungsvorschläge vorstellen, die nicht nur für das Leben von Orchideenkindern, sondern auch für das von Löwenzahnkindern relevant sind. Löwenzahnkinder mögen einem geringeren Risiko ausgesetzt sein als Orchideenkinder, aber auch sie verfügen über eine einzigartige Kombination physiologischer und psychologischer Eigenschaften,...

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