„The Orient is not only adjacent to Europe; it is also the place of Europe’s greatest and richest and oldest colonies, the source of its civilizations and languages, its cultural
contestant, and one of its deepest and most recurring images of the Other.”
(Edward Said, 1978)[52]
Schon vor Said und Inden haben sich Orientwissenschaftler, Ethnologen und Historiker des 20. Jahrhunderts mit dem Bild des Orients beziehungsweise Indiens auseinandergesetzt, das die Orientwissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts hervorgebracht haben. Den Südasienethnologen Carol A. Breckenridge und Peter van der Veer zufolge haben zwei Mitte des 20. Jahrhunderts entstandene Betrachtungsweisen zu diesem Orientbild als Ausgangspunkte für Saids im Jahr 1978 aufgestellter Orientalismusthese gedient.
Die eine Betrachtungsweise betone den imaginären Charakter des der europäischen Vorstellung entsprungenen, historisch gewachsenen Orientbildes. Als repräsentative Schrift dieser Richtung nennen die Autoren das Buch „The Oriental Renaissance: Europe’s Rediscovery of India and the East, 1680-1880“ (französische Ersterscheinung 1950, englische Übersetzung 1984) des französischen Indologen Raymond Schwab.[53] Schwab, der die Indologie als romantische Tradition betrachtet, ist zwar der Ansicht, das damalige Indienbild sei eine europäische Konstruktion, in dieser werde Indien jedoch wert-schätzend als Komplement Europas betrachtet.[54] Das im Jahr 1988 auf Englisch erschienene „India and Europe. An Essay in Understanding“ (auf Deutsch bereits 1980 erschienen) des deutschen Indologen Wilhelm Halbfass ordnen die Autoren ebenfalls in dieser Denkrichtung ein.[55] Halbfass untersucht, wie Indien und Europa einander bei ihren Begegnungen im Laufe der Geschichte wahrgenommen haben und die Wahrnehmung des jeweils Einen zur Identitätsstiftung des Anderen beigetragen hat.[56]
Die andere, kritischere Betrachtungsweise hat Breckenridge und van der Veer zufolge vor allem den politischen und ideologischen Rahmenbedingungen der damaligen Zeit für orientwissenschaftliche Projekte Beachtung geschenkt und eine Verbindung zwischen den Orientwissenschaften und der kolonialen Expansion gesehen. Als repräsentativ für diese Richtung sehen die Autoren den 1963 erschienenen Aufsatz „Orientalism in Crisis“ des sozialistisch geprägten Denkers Anwar Abdel Malek.[57] Malek forderte damals erstmals eine Überprüfung der politischen Ambitionen des orientalistischen Projekts.[58] Bevor Said ihn Ende der 1970er Jahre aufgriff, so Breckenridge und van der Veer, ist dem Ansatz allerdings nicht viel Beachtung geschenkt worden.[59]
Abbildung 2: Theoretische Ansatzpunkte der Orientalismuskritik (eigene Darstellung in Anlehnung an Breckenridge/van der Veer 1993 S.3f).
Said, so die Autoren weiter, habe nun diese beiden Betrachtungsweisen zu einer neuen Theorie zusammengefügt und in seinem 1978 erschienenen Buch „Orientalism“ das Orientbild des 18. und 19. Jahrhunderts als ein aus kolonialistischen Antrieben gespeistes, europäisches Konstrukt skizziert – und somit die bis heute kontrovers diskutierte Orientalismuskritik ins Leben gerufen. Inden sei Said in dessen politisch motivierter Kritik an den Orientwissenschaften gefolgt und habe diese im Jahr 1990 in seinem Werk „Imagining
India“ auf das von der Indologie hervorgebrachte Indienbild übertragen.[60]
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der von Said initialisierten und von Inden weitergeführten, politisch orientierten Orientalismuskritik und untersucht, inwiefern Elemente des in dieser Kritik beschriebenen Orient- bzw. Indienbildes noch heute in demjenigen deutschen Indienbild zu finden sind, welches in der Wirtschaftszusammenarbeit mit dem Subkontinent vorherrschend ist. Auf Halbfass, der ebenfalls einen bedeutenden aktuellen Beitrag zur konstruktivistischen Wahrnehmung Indiens in Europa geleistet hat, jedoch die von Said und Inden hervorgehobene politische Komponente nicht im gleichen Maße berücksichtigt, wird an signifikanten Stellen verwiesen. Zum Einen, um die Orientalismuskritik in einen breiteren Kontext einzuordnen, zum Anderen, um eine alternative, nicht-politisch motivierte Sichtweise aufzuzeigen.
Bei „Orientalism“ handelt es sich um eine diskursanalytische Studie, in der Said Werke von Schriftstellern und Gelehrten aus dem Zeitraum vom 18. Jahrhundert bis zur damaligen Gegenwart analysiert. Theoretisch stützt er sich vor allem auf den poststrukturalistischen französischen Philosophen und Soziologen Michel Foucault, von dem er die
Methode der Diskursanalyse[61] übernimmt, sowie auf den italienischen marxistischen Philosophen Antonio Gramsci, dem er dessen Hegemoniebegriff[62] entleiht. Neben wissenschaftlichen Texten analysiert Said auch Reiseberichte und Belletristik. Sein Fokus liegt auf Schriften britischer und französischer Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts sowie jüngeren Schriften US-amerikanischer Autoren über die islamisch-arabische Welt; er verallgemeinert seine Annahmen jedoch auf den gesamten Orient.[63]
Wie Said bedient sich auch Inden sowohl der Methode der Diskursanalyse Foucaults als auch des Hegemoniebegriffs nach Gramsci. Zusätzlich verwendet er den Begriff der kom-plexen Handlungsfähigkeit[64] des britischen Posthegelianers Robin George Collingwood. Indens Fokus liegt auf indologischen Schriften aus dem 18. und 19. Jahrhundert.[65] Ebenso wie Said hält er in älterer Zeit die britische und französische und in jüngerer Zeit die US-amerikanische Indologie für tonangebend im indologischen Diskurs, bezieht im Gegensatz zu Said jedoch auch die deutsche Indologie in seine Betrachtung mit ein.[66]
Die Kernthesen Saids und Indens stimmen im Wesentlichen überein. Inden selbst bemerkt dies zu Anfang seiner Ausführungen in „Orientalist Constructions of India“:
„To a large extent I agree with Said’s critique and so, too, perhaps do many other scholars of Asia. My intention here is not to interpret Said’s book, to defend it against its detractors, or to attack them. What I would like to do is to continue with a more detailed discussion of the Indological or South Asian branch of Orientalist discourse. I would like to point to the peculiar form in which Indologists and, for that matter, sociologists, historians, political scientists, anthropologists, and historians of religion have presented their knowledge of alien cultures.“[67]
Aufgrund dieser Nähe der beiden Autoren werden die „allgemeineren“ Thesen Saids über den Orient sowie die „spezielleren“ Thesen Indens, die sich mit dem konkreten Fall der Indologie beschäftigen, in Abschnitt 3.2 gemeinsam dargelegt.
Laut der Enzyklopädie der Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte „Der neue Pauly“ wurden mit dem Begriff „Orientalismus“ traditionell die Beschäftigung mit den Sprachen, Kulturen und Religionen des Orients[68] sowie romantische Zugänge zum Orient in Musik und Malerei bezeichnet. Zum Orient werden Stefan R. Hauser, dem Autor des Eintrages „Orientalismus“ in der Enzyklopädie, zufolge üblicherweise die Länder Asiens bis nach Japan, die östliche Mittelmeerküste bis zum Iran sowie teilweise die islamisch geprägten Länder Nordafrikas gezählt. Im Englischen und Französischen stehe der Begriff „Orientalism“/„Orientalisme“ seit dem Ende des 17. Jahrhunderts vor allem für die wissenschaftliche Beschäftigung[69] mit dem Orient – wofür im Deutschen und Niederländischen der Begriff „Orientalistik“ stehe. Traditionell hatte der Begriff laut der Enzyklopädie eine positive Konnotation im Sinne einer Wertschätzung des Gegenstands sowie der damit verbundenen wissenschaftlichen Arbeit. Ende des 20. Jahrhunderts habe jedoch, angestoßen durch Said, ein grundlegender Begriffswandel stattgefunden, indem er nunmehr im Kontext westlich-kolonialer Diskurse und falscher, diskriminierender Vorstellungswelten verwendet worden sei.[70]
Said selbst hat dem Begriff Orientalismus (Orientalism) drei Bedeutungen zugeordnet:
1. „Orientalism“ als Bezeichnung für die akademische Disziplin (siehe oben);
2. Orientalismus als Denkstil, der auf der grundlegenden Unterscheidung von „Orient“ und „Okzident“ beruht;
3. Orientalismus als westliche Art, den Orient auf...