1 Die therapeutische Beziehung in der Psychoanalyse und aus Sicht der empirischen Psychotherapieforschung
1.1 Die therapeutische Beziehung aus psychoanalytischer Sicht
1.1.1 Grundlagen einer psychoanalytischen Beziehungstheorie
Das Verständnis der Entstehung, der Formen und Wirkungen zwischenmenschlicher Beziehungen, insbesondere derjenigen der frühen Kindheit, ist ein zentrales Anliegen psychoanalytischen Denkens. Dennoch lässt sich der Begriff der Beziehung in den einschlägigen psychoanalytischen Wörterbüchern nicht finden (vgl. Laplanche & Pontalis, 1996; Mertens & Waldvogel, 2000; Mertens, 1997). Wenn von Beziehung die Rede ist, dann als Teil zusammengesetzter Begriffe wie Objektbeziehung, Übertragungsbeziehung oder therapeutische Beziehung.
In der Psychoanalyse ist der Begriff der Objektbeziehung gebräuchlich, um zwischenmenschliche Beziehungen zu beschreiben. Der Austauschprozess zwischen zwei Personen wird psychoanalytisch traditionell aus Sicht des Individuums (Subjekt) beschrieben, das mit einem anderen (Objekt) in Beziehung steht. Mit Kernberg (1997) kann man sehr allgemein sagen, dass jede psychoanalytische Theoriebildung immer auch eine Objektbeziehungstheorie ist, denn sie beschäftigt sich mit dem Einfluss früher Objektbeziehungen auf die Genese unbewusster Konflikte und die Entwicklung der psychischen Struktur sowie mit der Aktualisierung vergangener internalisierter Objektbeziehungen.
Bereits bei Freud (1905a, S. 82) findet sich die Aussage, dass „für die Psychoanalyse (...) die Beziehung zu einem Objekt das Wesentliche (ist, B. G.).“ Freud hat die Beziehung des Kindes zu seinen primären Bezugspersonen aus Sicht des sich entwickelnden Kindes beschrieben. Er sah im Kleinkind ein triebhaftes Wesen, das für sein physisches und psychisches Überleben auf Objektbeziehungen angewiesen ist. Das Kind tritt, motiviert durch widersprüchliche Triebkräfte, in Beziehung mit seinen Pflegepersonen. Die Entwicklung des Kindes versteht er im Wesentlichen als konfliktreiche Kompromissbildung zwischen dem Bedürfnis nach Selbsterhaltung und dem nach sexueller Triebbefriedigung (Freud, 1905a; vgl. auch Heigl-Evers & Boothe, 1997). Getrieben von dem Bedürfnis nach Selbsterhaltung bindet sich das Kind im Zustand der Hilflosigkeit an ein mütterliches Objekt mit dem Ziel, Versorgung sicherzustellen und Trennung, und damit drohende Vernichtung, zu vermeiden. Als Antagonisten des Selbsterhaltungstriebes sieht Freud den Sexualtrieb. Dessen Ziel ist nicht die Bindung an ein Objekt, sondern der Spannungsabbau in Form lustvoller Befriedigungserlebnisse. Das Objekt ist dabei nur soweit bedeutsam, wie es dazu dient, Triebbefriedigung zu ermöglichen (Freud, 1915). Da das Kind die ersten lustvollen Körperempfindungen im Zusammenhang mit den Pflegehandlungen macht, werden die Pflegepersonen zunächst in Anlehnung daran auch als Sexualobjekte besetzt. Mit dieser primären Objektwahl wird die auf Selbsterhalt ausgerichtete Beziehung erotisiert, was der Ursprung von Liebe und Zärtlichkeit ist (Freud, 1914b).
Im Laufe der Entwicklung kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen den sexuellen Triebwünschen und dem Bedürfnis nach Selbsterhaltung. Das Bedürfnis nach Selbsterhaltung und damit die Bindung an ein Objekt erweist sich dabei häufig stärker als der Wunsch nach Triebbefriedigung (Freud, 1915, 1926). Darum unterdrückt das Kind in verschiedenen Entwicklungsphasen Triebansprüche, um die Beziehung zu seinen Bezugspersonen nicht zu gefährden. Häufig werden die Triebwünsche aber nur aus dem Bewusstsein verdrängt, ohne dass der Wunsch nach Befriedigung aufgegeben wird. Der Konflikt zwischen Triebwunsch und Selbsterhaltung, der sich in der Beziehung zu den äußeren Objekten entwickelt, wird so verinnerlicht. Die nun unbewusst wirkenden Wünsche streben weiter nach Erfüllung und Triebbefriedigung. Daraus resultiert die Tendenz, immer wieder mit neuen Objekten Beziehungsmuster zu inszenieren, die Aussicht auf Wunscherfüllung und Triebbefriedigung bieten.
Freud hat sich besonders mit der Bedeutung der Bezugspersonen als Triebobjekte in der psychischen Realität des Kindes und mit den Folgen der skizzierten Beziehungskonflikte in Form von Verinnerlichung, Kompromiss- und Symptombildung beschäftigt. In der psychoanalytischen Theoriebildung nach Freud, in den psychoanalytischen Objektbeziehungstheorien, der Bindungsforschung und in der aktuellen Säuglingsforschung wird dagegen die Bedeutung der Qualität der realen Beziehung zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen für die psychische Entwicklung hervorgehoben (Balint, 1970; Winnicott, 1974; Bowlby, 1995; Dornes, 1999b). Danach geschieht der Aufbau der psychischen Struktur des Kindes über die Verinnerlichung wiederkehrender Beziehungserfahrungen. Indem sich das Kind mit den Interaktionserlebnissen, die zwischen ihm und den Bezugspersonen bestehen, identifiziert, bildet es psychische Repräsentanzen von sich selbst, den Objekten und den gemeinsamen Beziehungsmustern (Kernberg, 1997, 1999). Die so entstehende innere Welt der Objektbeziehungen beeinflusst das eigene Selbstbild und Selbstempfinden. Gleichzeitig wird sie zu einem Arbeitsmodell, das die Erwartung zukünftiger Beziehungserfahrungen steuert und so die Möglichkeiten und Grenzen eigenen Beziehungshandelns festlegt. Auf diese Weise wirken vergangene Objektbeziehungen in gegenwärtige Begegnungen hinein.
Lange Zeit wurde in der Psychoanalyse die dyadische Beziehung zwischen Mutter und Kind für die Entwicklung der inneren Welt des Kindes und seiner Fähigkeit, mit anderen in Beziehung zu treten, für überaus wichtig angesehen (Balint, 1970; Winnicott, 1974; Bowlby, 1995). Es ging dabei um die Qualitäten einer „hinreichend guten Mutter“ (Winnicott, 1974, S. 189), um ihre Fähigkeit, empathische Resonanz und Sicherheit zu bieten und narzisstische Anerkennung zu vermitteln. Wenn der Vater als dritte Person thematisiert wurde, dann trat er erst später als Motor der Triangulierung in Erscheinung: in der Funktion des Retters, der das Kind aus der verschlingenden Zweisamkeit mit seiner Mutter befreien muss (Schon, 2000, S. 732; Bauriedl, 1998, S. 129).
Inzwischen vertreten jedoch immer mehr Autoren die Ansicht, dass der Mensch in einen triadischen Beziehungsraum hineingeboren wird und sich Entwicklung in verschiedenen triangulären Beziehungskonstellationen abspielt (Heigl-Evers & Boothe, 1997, S. 124; Boothe & Heigl-Evers 1996, S. 140; Bürgin, 1998a, 1998b; Buchholz, 1993; Schon, 2000, S. 734; Bauriedl, 1998, S. 132). Vor der Geburt existiert das Kind zunächst in den Erwartungen und Phantasien der Eltern. Diese Einstellungen haben bereits Einfluss auf die zukünftige Entwicklung des Kindes, wobei sich besonders die Fähigkeit der Eltern, triadische Beziehungen imaginieren und eingehen zu können, positiv auswirkt (von Klitzing, 2002; Bauriedl, 1998). Im Laufe der Entwicklung durchläuft das Kind verschiedene Positionen im triadischen Raum und unterhält jeweils unterschiedliche Beziehungen zu Vater und Mutter (Heigl-Evers & Boothe, 1997; Boothe & Heigl-Evers, 1996, S. 164 ff.). Die wechselnden Beziehungsstile und Beziehungssituationen in einer Triade, das Erleben von Unterschieden in der Kommunikation und im Umgang mit den Bedürfnissen des Kindes sind für die Entwicklung besonders anregend (von Klitzing, 2002). Das Vorherrschen ausgeprägter und andauernder dyadischer Beziehungen bei Ausschluss der dritten Person wird aus dieser Perspektive eher als ein pathologisches Phänomen angesehen (Heigl-Evers & Boothe, 1996; Schon, 2000, S. 734; Bauriedl, 1998, S. 137). Die Triangularität von Beziehungsstrukturen kann somit heute als zentraler Ausgangspunkt psychoanalytischen Denkens bezeichnet werden, von dem aus die „triebhafte und narzisstische Konflikthaftigkeit einer Person innerhalb des Gefüges ihrer Objektbeziehungen“ ermittelt werden kann (Heigl-Evers & Boothe, 1997, S. 136).
1.1.2 Die therapeutische Beziehung als Übertragungsbeziehung
In der Psychoanalyse wird davon ausgegangen, dass die in der frühen Kindheit verinnerlichten Objektbeziehungen, die daraus resultierenden Selbst- und Objektrepräsentanzen und die Art der Bewältigung der Triebkonflikte alle späteren neuen Beziehungen eines Menschen beeinflussen. In unterschiedlichem Ausmaß werden die alten Modi der Beziehungsgestaltung und die ihr zugrunde liegenden unbewussten Triebwünsche, Ängste und Erwartungen an das Verhalten eines Gegenübers jeweils wieder belebt und auf die neue Person übertragen. Die Psychoanalyse hat diesem Fortdauern vergangener Beziehungen in der Gegenwart schon immer besondere Bedeutung beigemessen und die therapeutische Beziehung zunächst vor allem als Übertragungsbeziehung betrachtet (Freud, 1905b, S. 279; 1917, S. 425). Die Beziehung zwischen Analytiker und Patienten sah man damit zunächst nicht so sehr als neue Beziehung, in der der Patient mit einer neuen Bezugsperson auf die Zukunft ausgerichtete, verändernde Erfahrungen machen kann. Vielmehr stand die Aktualisierung früherer Beziehungswünsche und -muster im Zentrum der Aufmerksamkeit (Boothe & Grimmer, 2005).
Nachdem Freud die Übertragung auf den Analytiker zuerst als störenden Widerstand angesehen hatte, der zum Abbruch von Therapien führen konnte, wie im Fall Dora (Freud, 1905b, S. 282), erklärte er die Entfaltung und Analyse der Übertragung später zum Kern der analytischen Arbeit (Freud, 1917, S. 434). Der Analytiker sollte die Beziehung nun so gestalten, dass sich die Übertragung des Patienten möglichst unbeeinflusst von seiner realen Person entfalten kann. Dafür soll er sich dem Patienten als Projektionsfläche für dessen innere Beziehungswelt anbieten. Je weniger der Patient dabei die reale Persönlichkeit...