Was ist schön?
Hauptsache: Schön! Nie war der Druck, gut auszusehen, größer als heute. In Zeiten metaphysischer Obdachlosigkeit geht (fast) nichts mehr ohne ästhetisches Aufbauprogramm. Wer das Wort Crosstrainer noch nie gehört hat, wem nicht klar ist, dass es sich bei Sommersprossen gar nicht um Sommersprossen, sondern um altersbedingte Pigmentstörungen handeln könnte, hat schon verloren. Nicht nur Angela Merkel weiß, dass sie ohne honigblonde Tönung aufgeschmissen wäre. Auch ein Großteil ihrer Untertanen beugt sich dem Diktat des Friseurs.
Die Frage: »Wie werde ich schön und wie bleibe ich es?« ist aus den Gehirnwindungen der modernen Frau nicht wegzudenken. Auch ein überdurchschnittlich hoher IQ kann sie nicht daran hindern, sich – bewusst oder unbewusst – mit jüngeren und schlankeren Exemplaren ihres Geschlechts zu vergleichen und sich schlecht zu fühlen. Für immer mehr Frauen sind Mimikfalten kein Zeichen von Lebenserfahrung, sondern ein echtes Problem. Ein Problem wie Schlafstörungen oder chronischer Geldmangel, das es nachhaltig zu beheben gilt. Mittels Creme, Serum oder Skalpell.
Schönheitsoperationen werden mehr und mehr zur Normalität. Sogar im Land der Dichter und Denker, wo körperliche Schönheit traditionell eher mit Oberflächlichkeit und mangelnder Authentizität gleichgesetzt wird. Laut einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie von 2011/2012 lässt die ehrgeizige Frau von heute oft schon mit achtzehn erste Korrekturen vornehmen, typischerweise an ihrer als zu klein empfundenen Brust. Aber auch der moderne Mann sieht nicht tatenlos zu, wie sein Bauch ins Unermessliche wächst. Die Top Drei ästhetischer Eingriffe beim Mann sind Fettabsaugung, Lidstraffung und Nasenkorrektur. Die Penisvergrößerung liegt dagegen leicht abgeschlagen auf Platz sieben.
Ist der Schönheitswahn nur ein Symptom unseres allgemeinen Perfektionismus? Gut möglich: Wer den optimalen Job, den ausgeglichensten Partner, die zuverlässigsten Freunde, die ideale Wohnung und den wohlerzogensten Hund anstrebt, kann nicht mit einer Hakennase herumrennen. Oder doch? Ungeachtet der Tatsache, dass wir alle irgendwie gut aussehen wollen – eine eindeutige Definition von »schön« zu finden, ist gar nicht so leicht. Der perfekte Job setzt sich aus einer anregenden Tätigkeit, einem angenehmen Ambiente und einer angemessenen Bezahlung zusammen. Der perfekte Partner ist durch Einfühlsamkeit, Charakterstärke und Geschäftssinn gekennzeichnet. Und das perfekte Gesicht?
Die Trendforscherin Europa Bendig hält diese Frage für völlig verfehlt. Ihrer Meinung nach punkten wir jetzt und in Zukunft weniger dadurch, dass unser Äußeres einem bestimmten ästhetischen Ideal entspricht, als durch Ausstrahlung, Persönlichkeit und Charakter. Was Bendig als Trend beschreibt, ist nichts anderes als die altgriechische Vorstellung von der kalogathia: der Einheit des Schönen, Guten und Wahren. In der modernen Alltagsästhetik zeigt sich die ungebrochene Wirksamkeit der kalogathia vor allem daran, dass wir schönen Menschen nicht nur größere moralische Kompetenzen als weniger attraktiven zutrauen, sondern auch eine höhere Intelligenz, bessere Karrierechancen und eine stabilere Gesundheit. (Auch wenn dies nicht immer der Realität entspricht …)
Bendig meint außerdem: »Ganz oben in der Schönheitshierarchie steht die Forderung, schlank und gestylt zu sein. Es geht also nicht mehr um die eigentlichen Gesichtszüge, sondern: Habe ich es geschafft, durch Disziplin schlank und schön zu sein, und habe ich durch Wissensvorsprung den richtigen Style? … Sich ständig neu zu definieren ist etwas, das uns die Arbeits- und die Lebenswelt abverlangt.«
Schönheit als Leistung – kann das wirklich alles sein?
Durch die Verbesserung unseres Aussehens hoffen wir ja nicht nur, den Anschein von Diszipliniertheit zu erwecken. Wir wollen so ganz generell unseren Wert als gute, liebenswerte, von Potenzialen nur so strotzende Menschen zur Geltung bringen. Was nur natürlich ist in einer Zeit, in der Gesehen- und Bewundert-Werden als unverzichtbare Bedingung für Ansehen und Anerkennung gilt.
Wer sich Botox spritzen lässt, dem geht es nicht bloß um eine faltenlose Stirn. Sondern auch um die existenzielle Selbstvergewisserung: »Ich sorge mich um meinen Körper, also bin ich. Ich lasse mich nicht gehen, also bin ich liebenswert.«
Diese Selbstvergewisserung will natürlich ständig wiederholt und vom »Gefällt mir!« der anderen sanktioniert werden. Dabei geht es zu selten ums Sein und zu oft ums Haben. Zu oft ist unser Körper für uns etwas, das wir haben, und zu selten etwas, das wir sind. Wer sich ständig mit dem identifiziert, was er hat, vergisst, wer er ist – wie viele der sogenannten »Celebrities«. Menschen aus Film, Fernsehen und Politik, die sich für Lichtgestalten halten. Leute, die für ihre Besitztümer berühmt sind: ein (einigermaßen) ansprechendes Äußeres, Geld und Macht. Politiker, Talkmaster und Topmodels sind die Meister des schönen Scheins. Sie wissen genau, welche Knöpfe sie bei uns drücken müssen, damit wir so etwas wie Authentizität in ihnen vermuten. Die Cleversten unter ihnen haben Techniken entwickelt, die den Eindruck innerer Schönheit erwecken. Sie umgeben sich mit einer Aura, die gemäß der kalogathia die Werte des Wahren und Guten transportiert. Werte, die Orientierung, Übersichtlichkeit, Trost und Glück verheißen. Leider folgt auf die Verheißung meist die Enttäuschung. Vorsicht ist also geboten. Es ist leicht, Menschen als etwas zu sehen, was sie nicht sind: »schön«. Wenn wir uns verführen lassen, Schein mit Sein, Unecht mit Echt, Geste mit Geist zu verwechseln, bleiben uns die Tiefendimensionen des Schönen verschlossen.
Diese Welt ist nicht nur nicht perfekt. Sie ist nie so, wie sie sein sollte. Schönheit hat die Macht, aus dem Chaos unseres Planeten einen Kosmos zu machen, eine geordnete, sinnvolle Gestalt. Deshalb ist sie ein menschliches Grundbedürfnis – genau wie Liebe oder Zugehörigkeit. Der Wunsch, gut auszusehen, und die Sehnsucht, ein gutes Leben zu haben, hängen untrennbar zusammen.
Schönheit ist schließlich viel mehr als die Abwesenheit von körperlichen Mängeln. Schönheit ist immer auch ein Versprechen von Glück. Wir hoffen, ein besseres Leben zu haben, indem wir uns um unser Äußeres sorgen. Wir wollen keine »Celebrity« sein, wir wollen uns einfach gut fühlen. Und wir wollen, dass man uns das ansieht. Es ist uns wichtig, den Wirren der globalisierten und digitalisierten Welt etwas ganz Konkretes entgegensetzen zu können. Volles Haar. Eine gute Figur. Der Grund, warum wir uns eine gerade Nase anschaffen oder einen flachen Bauch, warum wir einen Apfel aus biologischem Anbau kaufen, einen mit dem Etikett »Fair Trade« versehenen Pullover oder einen Hund, ist stets der gleiche: Wir wollen das Gefühl haben, auf dem richtigen Weg zu sein. Alles uns Mögliche dafür zu tun, aus diesem Leben etwas Schönes und Sinnvolles zu machen.
Wer allerdings Schönheitspflege betreibt, ohne sich je gefragt zu haben, was »schön« eigentlich bedeutet, verhält sich ziemlich unphilosophisch. Bevor wir uns den Kopf darüber zerbrechen, wie wir unsere verkapselten Mitesser loswerden oder die Couperose in der T-Zone eliminieren können, sollten wir erst einmal überlegen: Ist körperliche Schönheit bloß eine Sache der Konvention, der Mode? Oder gibt es doch objektive Maßstäbe für schön und hässlich? Liegt Schönheit (nur) im Auge des Betrachters? Oder hat Heidi Klum die Deutungshoheit? Darum geht es im ersten Teil dieses Buches.
Kapitel 1 nimmt das weibliche Schönheitsideal unserer Zeit unter die Lupe und löst das Rätsel, warum die emanzipierte, vom Verdienst des Mannes immer unabhängigere Frau sich so schwer tut, ihren Körper so, wie er ist, zu akzeptieren – und warum sie (zu) viel dafür tut, ihn zu ändern. Ein Grund für die weibliche Schönheitsbesessenheit ist die allgemeine grausame Tendenz der Medienkultur, das Äußere einer normalgewichtigen, durchschnittlich attraktiven Frau nicht als normal, sondern als hässlich einzustufen …
Kapitel 2 widmet sich dem modebegeisterten Mann. In der Mode ist »Schönheit« nur ein anderes Wort für Neuheit und Wandel. Nichts bleibt, wie es ist. Der allerletzte Schrei ist nicht mehr der tadellos sitzende Anzug, sondern der perfekt geformte Body. Am Beispiel von David Beckham wird gezeigt, wie sich das Mann-Sein durch immer neue Stylings variieren und gerade so durch alle Veränderungen hindurch behaupten lässt. Von der Wollmütze bis zum Waschbrettbauch …
In Kapitel 3 geht es um die Frage, ob Schönheit bloß eine Frage des Geschmacks ist – und wenn ja, warum die meisten trotzdem immer das Gleiche »schön« finden. Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer coachen den Leser bei der Beurteilung von Schönheit. Denn ästhetisches Urteilsvermögen hat man nicht einfach – man muss es erwerben. Bilder von Albrecht Dürer, Peter Paul Rubens und anderen Größen der Kunstgeschichte sensibilisieren für die Vielfalt menschlicher Schönheit: die klassische, die barocke, die magische und die modische …
Die Gebrauchsanweisung I gibt noch ein paar zusätzliche Inspirationen zur Kunst des guten Aussehens. Wenn die äußere Schönheit nicht frühzeitig verblühen soll, muss...