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Schreien nützt nichts

Mittendrin statt still dabei

AutorHelene Jarmer
VerlagSüdwest
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783641054960
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Eine bemerkenswerte Biografie wie aus einem Hollywood-Drehbuch
Helene Jarmer hat einen Sitz im österreichischen Nationalrat und ist die erste gehörlose Abgeordnete im deutschsprachigen Raum. Die nicht nur positiven Reaktionen auf ihre Nominierung zeigen, dass noch viel für die Gleichberechtigung behinderter Menschen und gegen Diskriminierung getan werden muss. Helene Jarmers verlor zweijährig bei einem Autounfall das Gehör. Ihre Eltern förderten sie umfassend und ermöglichten ihre Ausbildung an der Höheren Technischen Lehranstalt wie auch ihr Pädagogikstudium an der Universität Wien - für behinderte Menschen ein hürdenreicher Weg. Als Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und als Behindertensprecherin der Grünen im Parlament setzt sie sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein. Und sie wird gehört - ihre politischen Erfolge beweisen es!

Helene Jarmer wird 1971 als Tochter gehörloser Eltern in Wien geboren. Im Alter von zwei Jahren verliert sie bei einem Autounfall selbst das Gehör. Mit Konsequenz und Disziplin überwindet sie Barriere um Barriere, maturiert in einer Höheren Technischen Lehranstalt (HTL) und studiert mit ausgezeichnetem Erfolg Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Wien. Sie unterrichtet an der Universität Wien und der Pädagogischen Akademie. Als Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und als Nationalratsabgeordnete der Grünen kämpft sie für die Rechte von behinderten Menschen - vor allem auch für den barrierefreien Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt.

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Leseprobe
Tu einfach so, als könntest du hören (S. 62-63)

Wenn ich geglaubt hatte, im Kindergarten sei es langweilig und in der Schule könne es nur besser werden, hatte ich mich geirrt: Ohne meine Eltern – ich muss es nochmals betonen – hätte ich die kommenden Jahre sicher nicht geschafft. Aber ich erhielt wunderbare Unterstützung von zu Hause. Meine Eltern gaben mir nie das Gefühl, ich sei anders. Alles war normal, ich war normal, Punkt. Diese Normalität wurde mir tagtäglich vorgelebt. Meine Eltern gingen sehr offen und selbstverständlich mit der Gehörlosigkeit um. Mein Vater als Bildhauer und meine Mutter als Textildesignerin kommunizierten ständig mit Hörenden.

So etwas wie Gebärdensprachdolmetscher engagierte man nur zu ganz besonderen Anlässen wie etwa Hochzeiten oder Gerichtsterminen. Mir war bewusst, dass die Situation in meiner Familie die Ausnahme war, denn meine gehörlosen Freunde lebten ganz anders. Sie bekamen das meiste nicht mit, was zu Hause so gesprochen wurde. Und wenn sie nachfragten, wurden sie mit einem »Ist nicht so wichtig!« ruhig gestellt. Als ich eingeschult wurde, kamen gehörlose Kinder (wie behinderte Kinder ganz allgemein auch) noch in Sonderschulen. Damals war man beseelt von dem Glauben an medizinischtechnische Lösungen des »Problems« Gehörlosigkeit: Hörgeräte, Trainingsmaschinen für die Aussprache, verschiedenste Computerprogramme und in letzter Zeit auch Operationen – all das richtet sich ausschließlich auf den nicht vorhandenen Hörsinn und lässt den tatsächlichen Spracherwerb als nebensächlich erscheinen.

Audiologen und Mediziner – statt gut ausgebildeten Lehrern und Lehrerinnen – wurden für wichtig erachtet, und Gehörlosenschulen wurden zu Kliniken, die messen, diagnostizieren, behandeln und therapieren sollten und so versuchten, mit allen Mitteln hörende, sprechende Kinder hervorzubringen Das wollten meine Eltern für mich nicht. Sie waren sehr weitsichtig und zukunftsorientiert, loteten gründlich aus, mit welcher Schulbildung ich die größten Chancen haben würde, mein Potenzial zu nutzen. Mir war das damals nicht bewusst und deshalb war ich sehr überrascht, als mich meine Eltern auf die Schule für schwerhörige Kinder schickten. Es gab also feine Unterschiede: gehörlos – oder schwerhörig? Offensichtlich!

Und meine Eltern hatten entschieden, dass ich eine Schule besuchen sollte, an der überwiegend schwerhörige Kinder waren, eben um das schlechte Bildungsniveau der Gehörlosenschule zu meiden. Zum ersten Mal in meinem Leben forderten mich meine Eltern auf, mich als etwas auszugeben, was ich nicht bin – schwerhörig! Das Vorstellungsgespräch übten wir vorab immer wieder. Was tue ich, wenn der Direktor sich hinter mich stellt und ich nicht von seinen Lippen ablesen kann? Meine Eltern wussten, dass das ein beliebter Trick war, um herauszufinden, ob man schwerhörig oder gehörlos ist.

Also drehte ich mich um und sagte irgendetwas, als würde ich das wiederholen, was ich verstanden hatte – selbst wenn es falsch war, wurde ich damit für schwerhörig statt für gehörlos gehalten. Musste die Zukunft mit einer Lüge beginnen? »Tu einfach so, als könntest du hören.« So etwas hatten mir meine Eltern noch nie zuvor geraten, doch ich folgte ihrem Rat – und tat so als ob. Die Finte gelang, ja, sie war notwendig, um mir eine »Bildung unter jedem Niveau« zu ersparen. Das nämlich war es, was mich auf einer Gehörlosenschule erwartet hätte. Kaum zu glauben, aber wahr, denn unter gehörlosen Menschen ist die Analphabetenrate auch heute noch extrem hoch. Nicht überall – in Skandinavien und einigen Teilen Amerikas sieht es anders aus –, aber in Österreich und auch in Deutschland ist das traurige Realität.

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