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E-Book

Seelische Rückzugsorte verlassen

Therapeutische Schritte zur Aufgabe der Borderline-Position

AutorJohn Steiner
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl155 Seiten
ISBN9783608106718
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Mit seinem Konzept der seelischen Rückzugsorte hat John Steiner neue Wege in der Therapie von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen aufgezeigt. Hier veranschaulicht er, wie die therapeutische Arbeit gestaltet werden kann, wenn man den Patienten zum Verlassen dieser Rückzugsorte veranlassen will. John Steiner eröffnet neue Möglichkeiten zur Behandlung von stark belasteten Patienten, die sich in eine selbstgewählte Isolation gleichsam wie in ein Versteck zurückgezogen haben. Er beschreibt die Herausforderungen, die sich daraus für die therapeutische Beziehung ergeben: - wenn sich Therapeut und Patient in einen Machtkampfverwickeln, - wenn Verlustängste überhand nehmen, - wenn Trauer und Schuldgefühle unerträglich werden, - wenn Fortschritte in der Behandlung erneut mit Gefühlender Verlegenheit und Beschämung einhergehen. Mit detaillierten klinischen Beispielen bietet »Seelische Rückzugsorte verlassen« einen einzigartigen Einblick in die therapeutischen Schritte.

John Steiner ist Lehranalytiker der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft und nach langjähriger Tätigkeit als Consultant Psychotherapist an der Tavistock Clinic in London heute in freier Praxis tätig. Er gilt als einer der interessantesten Theoretiker für das Verständnis pathologischer Persönlichkeitsstrukturen.

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Leseprobe

KAPITEL 1
Hilflosigkeit und Machtausübung in der analytischen Sitzung


Angewiesen und hilflos zu sein ist eine der Erfahrungen, die wir am meisten fürchten, der wir aber ausgesetzt sind. Wenn niemand da ist, der unser Rufen hören, unsere Not erkennen und ihr abhelfen kann, haben wir Angst, verlassen und verfolgt zu werden. Diese Angst entstammt der frühkindlichen Hilflosigkeit und langen Abhängigkeit und äußert sich unmittelbar in dem Bedürfnis, ein für uns verfügbares und innerlich zugängliches Objekt zu finden. Der Patient braucht ein Objekt, das sich von ihm erreichen und beeindrucken lässt und das seine Ängste aufnehmen kann, ein Objekt also, das emotional auf ihn eingeht und ihn versteht, statt zu agieren. Wenn die Angst des Patienten sehr groß ist, vermittelt er seine Not durch projektive Identifizierung auf einem konkretistischen Niveau. Diese konkretistischen Projektionen erschweren in der Analyse das Containment, weil sie eher Handlungen als Verständnis auslösen.

Ein Containment findet daher immer nur teilweise statt. Misslingt es, werden massive Abwehrmanöver in Gang gesetzt, am häufigsten in der Form, dass die Bedürftigkeit verneint und durch eine narzisstische Form der Objektbeziehung ersetzt wird. Das bedürftige, hilflose und allein gelassene Selbst wird nach außen projiziert und verleugnet, und der Patient identifiziert sich mit einem elterlichen Objekt, von dem er Hilfe erwartet und nicht annimmt, dass dieses Objekt selbst Hilfe braucht. Hat der Patient dagegen diese Helferrolle übernommen, fühlt er sich verpflichtet, sich um ein vernachlässigtes und vorwurfsvolles Objekt zu kümmern, das Hilfe einfordert, sodass oft manische und omnipotente Mechanismen eingesetzt werden, um die eigene Verzweiflung in Schach zu halten. Die scheinbare Hilfsbereitschaft des Patienten anderen gegenüber zielt dann in erster Linie darauf ab, sich um sein eigenes verwundetes Selbst zu kümmern. Diese Wendung hat selten Erfolg und wird vom Objekt meistens auch nicht gewürdigt. Wenn seine Bemühungen misslingen, reagiert der Helfer in der Regel voller Groll, ist frustriert und wütend.1

Gelingt es dem Patienten nicht, seiner Helferrolle erfolgreich zu entsprechen, gerät seine narzisstische Überlegenheit, die er für die Aufrechterhaltung seines Gleichgewichts braucht, in Gefahr. In einer solchen Situation kann der Patient möglicherweise nur noch über seinen Unmut und seine Wut sprechen, was es dem Analytiker erschweren kann, diese Gefühle aufzunehmen und zu akzeptieren, statt auf sie zu reagieren. Wahrscheinlich waren es Umstände wie diese, die Betty Joseph beschreiben ließen, wie ein Teil des in der Sitzung anwesenden Patienten »in Wirklichkeit dafür [sorgte], daß ein anderer, bedürftigerer oder potentiell ansprechbarer und aufnahmefähiger Teil abgespalten bleibt« (Joseph 1975, S. 116). Weil es dem Analytiker wichtig ist, seinen Patienten zu erreichen, wird er möglicherweise frustriert sein und sich genötigt fühlen, eine aktive Rolle zu übernehmen.

Das Bedürfnis des Patienten, die Rolle des rational Helfenden beizubehalten, kann sich als sehr hartnäckig erweisen und zu einer Auseinandersetzung über die Frage führen, wer eigentlich die Situation bestimmt. Im Erleben des Patienten wird seine Überlegenheit durch die Analyse bedroht; sollte er unterliegen, fürchtet er, zusammenzubrechen und in eine Hilflosigkeit zurückversetzt zu werden, gegen die er sich durch seinen Narzissmus zu schützen versuchte. Er fürchtet, dass der Analytiker ihm die Kontrolle entreißen und sich selbst in eine überlegene Position bringen könnte, sodass er, der Patient, beschämt, missbraucht, ausgenutzt und verwundbar zurückbleiben würde. Manchmal erweckt es den Anschein, als stünden beide, Patient wie Analytiker, unter dem Druck, jeweils die überlegene Position eines Helfers für sich zu beanspruchen, was zu einem Kampf um Macht und Einfluss führt.

Mittlerweile wissen wir, wie narzisstische Beziehungen in Übertragungs-Gegenübertragungs-Interaktionen wiederbelebt werden (Money-Kyrle 1968, 1971; Racker 1957), aber der Analytiker merkt vielleicht nicht immer, in welchem Ausmaß er selbst involviert ist. Wenn er den Machtkampf wahrnimmt, erfasst er manchmal, wie er in einer Inszenierung gefangen ist und eine Rolle in der Abwehrorganisation des Patienten übernommen hat. Vielleicht kann er dann seine Containerfunktion wieder ausüben und versuchen, die unbewussten Mitteilungen des Patienten aufzunehmen und zu verstehen.

Klinisches Material


Ich werde diese Themen am Beispiel eines Patienten,2 Herrn B.s, schildern, der oft schwer zu erreichen war. Ich möchte zeigen, wie ich mich in dieser Situation veranlasst fühlte, ihn aktiv erreichen zu wollen. In solchen Zeiten war es eher der Analytiker als der Patient, der den Wunsch nach Kontakt hatte, was manchmal bedeutete, dass ich mich bemühte, ihn zu erreichen, obwohl klar war, dass ich dazu wieder einmal nicht in der Lage war. Es dauerte eine Weile, bevor ich erkannte, dass ich mich sehr ähnlich wie der Patient verhielt. Er war entschlossen, nicht nur gegenüber seiner Familie, sondern auch mir gegenüber hilfreich zu sein, aber trotz dieser Anstrengungen ließ sich kein sinnvoller Kontakt zwischen uns herstellen. Ich spürte, dass ich ihn nicht erreichen konnte, und realisierte erst später, dass auch er mich nicht erreichen konnte.

Zunächst möchte ich beschreiben, wie der Kampf um die Frage, wer in unserer Beziehung der Dominierende war, in der Analyse viel Raum einnahm, und dann auf Momente eingehen, in denen eine andere Stimmung entstand, in der ich mich zurücknehmen und aufnahmebereiter sein konnte. Diese »anderen« Momente waren durch eine Traurigkeit geprägt, die etwas mit dem Wissen um Verluste zu tun hatte. Sie kamen zustande, wenn ich erkannte, dass meine übertriebene Aktivität mein Gefühl innerer Hilflosigkeit überdeckte. Ich konnte sehen, dass es von meiner Seite zu einer Kollusion mit der Phantasie des Patienten, etwas omnipotent wiederherstellen zu können, gekommen war und dass auch ich versucht hatte, einem Desaster zuvorzukommen, und den Patienten wieder zur Vernunft bringen wollte. Danach war ich in der Lage, mir einzugestehen, dass ich den Patienten nicht vor seinem Ausagieren bewahren konnte, was zur Folge hatte, dass mein Gefühl der Hilflosigkeit einer Traurigkeit Platz machte. Ich hatte meinen Patienten verloren und musste diesen Verlust betrauern, nicht nur den Verlust meines Patienten, sondern auch den meiner eigenen Omnipotenz.

Ich möchte nicht viele Informationen über Herrn B.s Hintergrund geben und nur mitteilen, dass er von dem Wunsch beherrscht war, beruflich erfolgreich zu sein. Obwohl er Ende 30 war, wirkte er wie ein Adoleszenter, der in einer Phantasiewelt gefangen war, die ihm Ruhm und Reichtum bescheren sollte und in der es kein Versagen gab. Seit dem Tod seines Vaters vor etwa zehn Jahren war die Beziehung zu seiner Mutter schwierig. Er stritt sich immer wieder heftig mit Familienmitgliedern und Kollegen, denen er Heuchelei und Verrat vorwarf. Wiederholt berichtete er in dramatischen und ausschweifenden Schilderungen, wie schrecklich er missverstanden werde, und sprach über seinen Hass auf alle, die ihm keine Wertschätzung entgegenbrachten. Er wollte unbedingt respektiert werden; gelang ihm dies nicht, drohten ihm Hilflosigkeit und Beschämung. Es war schwer einzuschätzen, wie zutreffend seine Schilderungen waren; sie wirkten oft so sehr dramatisiert und unrealistisch, dass ich das Bedürfnis hatte, ihn vor der darin zum Ausdruck kommenden grandiosen Omnipotenz zu schützen. Gleichzeitig schienen seine Pläne zur Wiederherstellung der familiären Verhältnisse etwas Grundlegendes über die Art und Weise zu vermitteln, wie er sich um seine Objekte kümmern wollte – genauso sollten diese sich dann auch ihm gegenüber verhalten. Wurden seine Anstrengungen, anderen zu helfen, frustriert, schmiedete er bewusste Rachepläne, in denen es oft darum ging, durch beruflichen Erfolg Macht zu erlangen, um dann die Rolle des gütigen Alleinherrschers einnehmen zu können.

Seine dramatisierten und ausufernden Berichte über die häuslichen Interaktionen standen in auffälligem Kontrast zu der Tatsache, dass er auf die Analyse und das Setting überhaupt nicht reagierte. Andere Patienten, das Klingeln an der Tür oder seines Telefons oder alltägliche Vorkommnisse wurden nicht erwähnt. Er war überrascht, als ich meinte, er könnte auf etwas, was ich sagte, auf meine Wochenenden und Urlaube, auf Fehler und Agieren von meiner Seite, also auf Dinge, die ihm sicherlich zu schaffen machten, irgendwie reagieren.

Besonders entmutigend war, dass er meine Deutungen offensichtlich nicht verstand und nicht auf sie reagierte. Er bestand darauf, dass meine Bemerkungen ihm eine konkrete Hilfe sein sollten, wenn sie denn irgendeinen Nutzen haben sollten. Er sagte, er verstehe, was ich meine, wenn ich ihn auf etwas hinwies, dass er aber schlicht nichts dabei empfinde. Besonders ungeduldig reagierte er auf Deutungen im Zusammenhang mit Urlauben, die ihm, wie er meinte, doch nur willkommen seien, weil er dann nicht zur Analyse kommen müsste. Er war lediglich mit der schrecklichen Beziehung zu seiner Mutter beschäftigt, die ihm so viel Kummer bereitete. Im Vergleich dazu bedeutete ihm meine Arbeit anscheinend wenig.

Ich hatte den Eindruck, dass ein bedürftiger, potentiell ansprechbarer und empfänglicher Teil bei ihm abgespalten und nicht zu erreichen war. Er schien auch nicht in der Lage zu sein, mich zu erreichen und mir seine Gefühle wirklich zu vermitteln. Er verhielt sich, als denke er, nur durch die Identifikation mit mächtigen, aber unzuverlässigen und nicht zur Verfügung stehenden inneren...

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