Deutschen Jugendlichen ist heutzutage weitgehend das möglich, wofür ihre Mütter und Großmütter in den siebziger Jahren im Zuge der sexuellen Befreiungstendenzen der 60er und 70er Jahre gekämpft haben. Spricht man von dem Umgang deutscher Mädchen mit dem Thema Sexualität, so muss erst einmal bewusst werden, dass die „relative Liberalisierung des Sexuellen, die relative Freizügigkeit sexueller Umgangsformen wie die relative Enttabuisierung sexueller Themen im privaten Bereich wie öffentlichen Bereich“[69], eine erst etwa 35 jährige Geschichte hat. Auch übt die christliche Religion nur noch wenig Einfluss auf das Leben der Jugendlichen aus. Dieses lässt sich auch an den Antworten der nicht-muslimischen Schülerinnen auf die Frage „Wie wichtig ist dir deine Religion?“ erkennen. Hierbei geben 64,5 % beziehungsweise 16,1 % der Mädchen an, dass ihnen ihre Religion egal beziehungsweise unwichtig ist. Nur für jeweils 9,7 % der Schülerinnen ist ihre Religion sehr wichtig oder wichtig.
Wie wichtig ist dir deine Religion?
„Wann und wie Jugendliche sexuelle Beziehungen aufnehmen, entscheiden sie selbst – weitgehend frei von den Kontrollen und Beschränkungen, mit denen noch ihre Eltern umgehen mussten.“[70] Heutzutage haben die Jugendlichen also nicht mehr mit großen Einschränkungen und Verboten seitens ihrer Eltern zu kämpfen, doch stattdessen stehen sie der großen Aufgabe gegenüber, „sich selbstständig und eigenverantwortlich orientieren und entscheiden zu müssen.“[71]
Aber sind die deutschen Mädchen tatsächlich so frei wie es ihnen oft zugeschrieben wird oder haben sie, ähnlich wie Mädchen, die aus der Türkei stammen, doch mit gewissen Einschränkungen zu kämpfen?
Im Folgenden möchte ich auf die sexuelle Sozialisation und die Sexualaufklärung in Deutschland eingehen sowie klären, inwiefern Mädchen in der Pubertät Erfahrungen im sexuellen Bereich machen.
Wie schon in der Beschreibung der sexuellen Sozialisation türkischstämmiger Mädchen erwähnt, ist die Familie die primäre Instanz in der Vermittlung von Normen und Werten bezüglich der Sexualität. Je nachdem, wie die Familie hiermit bewusst und unbewusst umgeht, überträgt sich dieses auch auf das Kind. Vor allem „die Gesprächs- und Streitkultur des Elternhauses und die familialen Vorbilder für Geschlechterverhältnisse sind die wichtigsten Indikatoren für das Gelingen sexueller Beziehungen.“[72]
Viele Eltern zeigen ihren Töchtern gegenüber heutzutage eine liberale, permissive sexuelle Moral und Haltung. Als Beispiel hierfür kann genannt werden, dass „69 % der Eltern ihrer Tochter erlauben, dass sie gemeinsam mit deren Freund zu Hause übernachten.“[73] Dabei ist das Vermitteln von sexuellen Freiheiten auch für die Eltern nicht immer leicht. So „ringen viele Eltern um eine Balance zwischen dem als notwendig angesehenen Schutz der Tochter und dem Gewähren eines Raumes für sexuelle Erfahrungen.“[74] Die Mehrzahl der Eltern verbinden mit den Freiheiten, die sie ihren Töchtern gewähren daher auch bestimmte Bedingungen, wie die Vermeidung von Schwangerschaften oder gesundheitlichen Risiken. So beschreibt Frau B. von der Beratungsstelle Haus im Hof, dass „ die Mütter mit ihren Töchtern zum Frauenarzt gehen, um über Verhütung zu sprechen und ihnen möglicherweise die Pille oder ein anderes Verhütungsmittel verschreiben zu lassen. Deutsche Eltern sind in der Hinsicht eher so, dass sie ihre Töchter dabei unterstützen wollen, sicher zu verhüten, damit Schule, Beruf und Karriere nicht von Anfang an durchkreuzt werden.“[75] Frau B. betont im Interview jedoch auch, dass das Sprechen in der Familie über Themen, die die Sexualität betreffen, „individuell, schichtabhängig und bildungsabhängig ist.“[76]
Von den befragten deutschen/ nicht-muslimischen Schülerinnen gaben 48,4 % an, dass sie mit beiden Elternteilen über Sexualität, Liebe, Schwangerschaft usw. offen reden können. 32,3 % können hierüber nur mit der Mutter reden, während 3,2 % der Mädchen nur mit ihrem Vater hierüber sprechen. Lediglich 16,1 % gaben an, dass es ihnen nicht möglich ist über diese Themen mit den Eltern zu sprechen.
1. Kannst du mit deinen Eltern über Sexualität, Liebe, Schwangerschaft usw. offen reden?
„Die Offenheit in der Familie spielt eine wichtige Rolle bei der Bewältigung von Verunsicherungen hinsichtlich der Veränderungen des eigenen Körpers. So ist beispielsweise von großer Bedeutung, inwiefern Mädchen vor der ersten Menstruation über diese einfühlsam informiert und auch Ängste vorab genommen wurden. Generell gilt also für das Erleben der körperlichen Veränderungen, dass das Wissen um die Körpervorgänge zum Abbau von Verunsicherungen führt.“[77]
Nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) „geschieht der Aufklärungsprozess eher beiläufig.“[78] Das bedeutet, dass entweder dann aufgeklärt wird, wenn ein Anlass hierfür gegeben ist oder dann, wenn die Kinder Fragen stellen. Eltern sollten also Voraussetzungen schaffen, die es ermöglichen, dass ihre Kinder das Gefühl haben, mit ihnen über alles sprechen zu können ohne dass es ihnen peinlich ist. Gleichzeitig müssen Eltern aber auch akzeptieren, dass ihre Töchter ihnen gerade in der Pubertät auch mal nicht alles erzählen möchten. „Müttern wird nicht nur vielfach die Kompetenz, sich bei Liebesdingen und sexuellen Fragen in die eigene Situation hineinzuversetzen, abgesprochen („das würde die nicht verstehen“), häufiger noch ist die Nähe zur eigenen Mutter, die ein so persönlicher Erfahrungsaustausch mitbringen würde, von den Jugendlichen nicht gewünscht.“[79] Mit zunehmendem Alter und sobald Jugendliche erste eigene sexuelle Erfahrungen machen, beginnen sie daher bei Fragen zur Sexualität eher ihre Freundinnen und Freunde, also ihre Peers ins Vertrauen zu ziehen, auch wenn Eltern weiterhin enge Vertrauenspersonen sind.
Welche Rolle die peer-group in der sexuellen Entwicklung deutscher Mädchen einnimmt, möchte ich daher im Folgenden Abschnitt erläutern.
Auch wenn grundlegende Wertorientierungen durch die Herkunftsfamilie vermittelt werden, sind die Freundinnen und Freunde wichtige Vermittler in der Orientierungsphase des Jugendalters. Für den sexuellen Lernprozess in der Pubertät sind soziale Einbindungen in die Gleichaltrigengruppe, in die so genannte peer-group, daher besonders wichtig. Die peer-group bietet andere Erfahrungsräume, nimmt andere Stellungen ein, gibt andere Rückmeldungen als die Welt der Erwachsenen beziehungsweise die der Eltern. Dieses ist vor allem wichtig für die Entwicklung eines gelungenen Selbstkonzepts, für die Bildung einer eigenen Identität und das Lernen sozialer Fertigkeiten.
„Das Angebot an Informationen, Bildern, sexuellen Einstellungsmustern und Verhaltensweisen ist unüberschaubar vielfältig“[80]. Im Austausch mit Gleichaltrigen setzen sich Jugendliche mit verschiedenen Formen der Sexualität auseinander und lernen dadurch auch, sich ihre eigene Meinung zu bilden und sich zurecht zu finden. Auch werden im Gespräch mit den besten Freundinnen sexuelle Unsicherheiten und Beziehungsprobleme besprochen und relativiert. Auch die befragten deutschen/ nicht-muslimischen Schülerinnen gaben mit 29,1 % an, dass sie oft über sexuelle Dinge oder Probleme sprechen. 61,3 % gaben an, dass sie hierüber manchmal reden, während es 9,6 % der Mädchen verneinten. Auch an diesen Ergebnissen lässt sich erkennen, dass Themen, die die Sexualität betreffen, einen großen Raum in den Gesprächen von weiblichen Jugendlichen einnehmen.
Wenn du mit deinen Freundinnen/ Freunden zusammen bist, sprecht ihr dann über sexuelle Dinge oder Probleme?
Die meisten Mädchen wenden sich, wenn sie in der Pubertät „Liebeskummer“ oder andere Sorgen haben, an die beste Freundin und werden dadurch getröstet und abgelenkt. „Auf solche aufbauende Unterstützung vertrauen zu können, stärkt die emotionale Sicherheit, neue Erfahrungen oder Beziehungen wagen zu können.“[81] Gleichzeitig ist es aber auch häufig so, dass viele Mädchen ihre Peer-Kontakte „vernachlässigen“, wenn sie ihren ersten festen Freund haben und dann nur noch mit ihrem Partner zusammen sein möchten.
Innerhalb von „Cliquen“ entstehen häufig die ersten festen Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen. Die Peergroups sind ideale Gelegenheitsräume für eine erste Kontaktaufnahme und zum näheren Kennenlernen. Oftmals noch „spielerisch“ „erleichtern bzw. provozieren jugendtypische […] Spiele wie Flaschendrehen den ersten Schritt körperlicher...