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»Sie können mir den Kopf abschlagen, aber nicht meine Würde nehmen«

Ruqias tödlicher Kampf auf Facebook

AutorHala Kodmani
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783423433631
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Mutig in Rakka Ruqia Hassan war eine junge muslimische Lehrerin. Sie lebte in Raqqa und postete unter Pseudonym gegen Assad und den Islamischen Staat. Bis sie verraten wurde. Für ihre Kritik wurde sie vom IS ermordet. Hala Kodmani hat das Lebensumfeld von Ruqia genau recherchiert, immer wieder streut sie deren Original-Facebook-Einträge in den Text ein. So gelingt es ihr, die junge Frau authentisch darzustellen: ihren Ängsten, Hoffnungen, der Liebe zu ihrem Land und der wachsenden Wut Ausdruck zu verleihen.

Hala Kodmani, syrisch-französische Journalistin, erhielt 2013 den Preis der >Association de la presse diplomatique française< für ihre Berichterstattung über Syrien; sie schreibt für >Libération<.Ruqia Hassan war Philosophielehrerin; als »Nissan Ibrahim« postete sie vier Jahre gegen das Assad-Regime und den IS. Als sie ermordet wurde, war sie 30.

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Leseprobe

Kapitel 1 Rakka – ein neues Eldorado?


Anfang der Siebzigerjahre entsteht östlich des Euphrats ein neues Eldorado. Eine kleine Stadt, eingezwängt zwischen dem breiten Strom und der Wüste, zieht mit einem Mal Zehntausende von Menschen an. Syrer aus dem ganzen Land strömen nach Rakka. Ein gewaltiger Staudamm am Euphrat und damit verbundene Bewässerungsprojekte verwandeln die kleine Stadt plötzlich in ein dynamisches Wirtschaftszentrum. Ingenieure, Techniker, Beamte, Arbeiter kommen mit ihren Familien. Geschäfte werden eröffnet, Ärzte lassen sich nieder, Anwälte, Künstler und Handwerker jeglicher Couleur. Wie so viele Kurden, die sich ein anderes Leben wünschen, verlässt auch Mustafa Hassan sein kleines Dorf in der Nähe von Ain al-Arab, dem »Ursprung der Araber«, auch Kobanê genannt. Diesen Ort kennt die Welt seit dem Sommer 2014, als er vom IS angegriffen wurde. Der schnurrbärtige junge Mann aus dieser sehr armen Region ist geschickt in allem, was kräftige Arme erfordert. Er eröffnet eine Ziegelei, und die Geschäfte gehen gut. Die meisten kurdischen Migranten leben in Rumeilah, das noch eine Barackensiedlung ist, als Mustafa Hassan dort ankommt. Überall schießen Behelfssiedlungen aus dem Boden und entwickeln sich schnell zu einem lebendigen Viertel verschlungener Gassen und Gässchen. Auch heute noch ist Rumeilah ein überbevölkerter Stadtteil am Nordrand von Rakka.

Nachbarn, die wie er aus Kobanê stammen, machen Mustafa mit der schönen Hamidah bekannt. Die noch nicht Dreißigjährige ist von ihrem ersten Ehemann geschieden, der zweite ist gestorben. Und so hat Hamidah bereits drei Kinder. Sie bringt sich und die Kinder mit Nähen und Schneidern durch, weil sie so zu Hause arbeiten und immer ein Auge auf die Kinder haben kann. Mustafa und sie heiraten Anfang der Achtzigerjahre, und Hamidah schenkt ihrem Mann in fünf Jahren zwei Mädchen: zuerst Nissan, dann zwei Jahre später ihre jüngere Schwester. Die Familie hält fest zusammen und bleibt in diesem Großfamilien-Umfeld gerne für sich. Rumeilah erlebt zu jener Zeit eine regelrechte Bevölkerungsexplosion. Haushalte mit acht bis zehn Kindern sind keine Seltenheit. Doch im Hause von Mustafa Hassan lässt man die Vordertür nicht offen, wie die Nachbarn das tun, die Kinder spielen nicht auf der Straße. Wie bei Einwanderern, die sich nach Stabilität sehnen und oft einen gewissen Ehrgeiz entwickeln, häufig der Fall, stehen auch im Haus der Hassans Bildung und Arbeit an oberster Stelle. Hamidah leidet ihr Leben lang darunter, dass sie selbst die Schule nicht abschließen konnte, daher legt sie großen Wert darauf, dass ihre Töchter etwas lernen. Mustafa wiederum erzieht seine Kinder nach den religiösen Grundsätzen des Sufismus, der mystischen Strömung des Islam, der auch er angehört und deren wichtigste Prinzipien die Liebe zum Himmel und die Großzügigkeit gegenüber den Mitmenschen sind.

Nissan geht zunächst den Weg, den ihre Familie ihr vorzeichnet. Die hübsche Kleine mit der hellen Haut und den sehr langen braunen Haaren trägt Zöpfe, die ihre Mutter jeden Tag neu flicht. Sie ist ebenso lebhaft wie intelligent und will vor allem eine gute Schülerin sein, zu der sie dann auch wird. Nach der Grundschule wechselt sie in die Mädchenschule Al-Faraby, wo sie die Sekundarstufe I absolviert. Bald wird deutlich, dass Nissan die Literatur liebt, sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, die ihre Tochter gerne als Ärztin oder Apothekerin gesehen hätte. Aber Nissan hat ihre besten Noten nun mal in Geschichte und im Aufsatzschreiben. Es ist also nicht verwunderlich, dass sie nach Abschluss der Sekundarstufe auf den sprachlichen Zweig des Gymnasiums wechselt und dort Abitur macht. Als Teenie verbringt sie lange Stunden lesend auf ihrem Zimmer. Was ungewöhnlich ist, denn in ihrem Umfeld vertreibt man sich die Zeit eher mit Fernsehen oder beim Zusammensein mit Freunden. Nissan jedoch interessiert sich buchstäblich für alles. Sie leiht sich von ihren Lehrerinnen religiöse Bücher ebenso aus wie arabische Gedichtsammlungen. Und die Gedanken, die sie in diesen Büchern aufschnappt, wecken ihr Interesse. Sie liebt alte ägyptische Filme und amüsiert sich mit den arabischen Sitcoms, deren deftiger Humor die traditionelle Gesellschaft aufs Korn nimmt. Beim Kartenspielen schummelt sie gerne, einfach weil sie das Risiko liebt und wissen will, ob man ihr auf die Schliche kommt.

Das Abitur schafft sie mühelos, und natürlich will Nissan jetzt auch studieren. Sie schreibt sich für Philosophie ein. Dazu muss sie nach Aleppo, in die zweitgrößte Stadt Syriens und das wirtschaftliche Zentrum des Landes. Dass die Eltern ihre achtzehnjährige Tochter allein in eine fremde Stadt zum Studium ziehen lassen, ist für das konservative Milieu, aus dem sie stammen, nicht unbedingt üblich. Denn die Mädchen werden von der Pubertät an streng von der Familie überwacht, damit sie bis zur Ehe ihre »Ehre« bewahren. An ihrem Verhalten darf es nichts zu bekritteln geben, denn die Nachbarn sind bei Mädchen nur allzu gern bereit, sich das Maul zu zerreißen. Die zierliche und dabei recht hübsche Nissan trägt also, seit ihr Körper sichtbar weibliche Formen angenommen hat, ein Kopftuch, wenn sie das Haus verlässt, und auch im Sommer lange Ärmel und einen Rock, der ihr bis zum Knöchel reicht. Sie hält den Kleidercode sehr genau ein und achtet darauf, mit wem sie Umgang pflegt. Schon gar nicht reagiert sie auf die Blicke und Kommentare der jungen Männer auf der Straße, die versuchen, sie anzubaggern. Ihre Eltern vertrauen ihr. Und Nissan weiß, wie privilegiert sie ist.

In Aleppo öffnen sich dem jungen Mädchen, das zum ersten Mal den trauten Kokon der Familie verlässt, neue Horizonte. Sie ist im Studentenwohnheim untergebracht und absolviert der Reihe nach alle Pflichtseminare. Sie hat sich, wie die meisten Mädchen, für Geisteswissenschaften eingeschrieben. Nissan schließt Freundschaft mit ihren Kommilitoninnen, die aus ganz Syrien kommen und aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen. Manche, die aus dem fortschrittlichen Bürgertum stammen, tragen nicht einmal Kopftuch. Sie gehen in hautengen Jeans auf die Straße, rauchen und sprechen voller Selbstbewusstsein mit den Jungs, mit denen sie auch ganz offen ausgehen. Andere Kommilitoninnen wiederum kommen wie sie aus bescheidenen Verhältnissen und geben sich weniger westlich. Doch die Mädchen halten zusammen. Sie lernen und diskutieren miteinander, ohne alle Vorurteile oder Schwierigkeiten. Sie können ohne Scheu ihre Meinung äußern und stellen die repressiven gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie groß geworden sind, leidenschaftlich infrage. Nissan genießt diese Diskussionen und findet Gefährtinnen auf ihrem intellektuellen Weg. Sie lernt zu argumentieren und empört sich über jede Form von Ungerechtigkeit, Korruption und Nepotismus, auf die sie in ihrem Land stößt. Obwohl an den Universitäten jede Bildung von politischen Gruppierungen strengstens untersagt ist, so ist das Wort doch zumindest im Freundeskreis frei. Die fleißige Nissan genießt aber auch die geistige Gesellschaft von Sartre oder Plato, die sie beide in arabischer Übersetzung verschlingt.

Nach ihrem zweiten Jahr an der Uni kommt auch ihre Schwester nach Aleppo, um Zahnmedizin zu studieren. Die beiden Mädchen mieten eine kleine Wohnung in einem Viertel nahe der Universität. Nissan findet eine Anstellung als Grundschullehrerin, um die finanziellen Belastungen für ihre Eltern zu verringern. Sie lebt immer noch in Aleppo, als in ihrem vierten und letzten Studienjahr, kurz vor ihrem Abschluss in Philosophie, im März 2011 die syrische Revolution ausbricht.

14. Juni 2014

Immer wenn ich meinen Kopf auf dem Kissen zur Ruhe bette, zieht vor meinem inneren Auge der Strom der Erinnerungen vorbei. Er trägt mich zurück in die glücklichen Tage, die wir als so bitter empfanden … nach Aleppo, wo ich zu Beginn der Revolution unterrichtet habe. Wir konnten am Freitag nicht abreisen [der Freitag ist in Syrien traditionell Ruhetag, Anm. Kodmani], denn da gab es ja die Demonstrationen und die vielen Schießereien. Und doch, wie schön diese Tage waren! Wir hatten Angst, aber wir waren auch tapfer. Liebe, Geld, Macht – all das war uns gleichgültig. Wir hatten uns einer nobleren Sache verschrieben … der Freiheit eines ganzen Volkes!

Eine Aufrührerin erblickt im Frühjahr 2011 das Licht der Welt, zusammen mit einer ganzen Generation. Wie alle Syrer verfolgt Nissan jeden Tag im Fernsehen und in den sozialen Netzwerken die Fortschritte der Revolution in Tunesien, Ägypten, Libyen und im Jemen. Mit ihren Freundinnen in Aleppo debattiert sie lange über die aufregenden Neuigkeiten, die aus den anderen arabischen Ländern zu ihnen dringen. Junge Leute wie sie gehen auf die Straße und rufen laut nach Freiheit und Demokratie. Sie singen und skandieren ihre Parolen und fordern damit die Ordnungskräfte der Diktatoren heraus. Es dauert nicht ganz einen Monat, bis in Tunesien Präsident Ben Ali und Präsident Mubarak in Ägypten »zurücktreten« – wie es die Menge in jenem Winter 2010/2011, der sich bald zum »Arabischen Frühling« entwickeln sollte, gefordert hat.

Die Revolution kommt für die intellektuell gereifte Nissan gerade zum richtigen Zeitpunkt. Sie hat das Gefühl, dass die Ideen und Werte, die sie bislang nur aus Büchern kannte, nun leibhaftig auf die Straße treten. Bald interessiert sie nur noch eines, nämlich die brennende Frage: Wird der Funke der Revolution auch auf Syrien überspringen? Für die jungen Leute, die nie etwas anderes kennengelernt haben als die brutale...

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