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Strukturen und Prozesse, die einem selbstbestimmten Leben in Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung entgegenwirken

Eine Analyse stationärer Einrichtungen der Behindertenhilfe in Bezug auf Überlegungen von Goffman und Foucault

AutorAndreas Franz
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl77 Seiten
ISBN9783668126831
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2015 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1,0, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (Institut für Sonderpädagogik), Sprache: Deutsch, Abstract: Der Autor untersucht Strukturen und Prozesse in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe, die einem selbstbestimmten Leben der dort lebenden Menschen entgegenwirken. Dabei geht er zunächst auf aktuelle Entwicklungen im sonderpädagogischen Diskurs ein, eher er die Situation der in Wohnheimen für Menschen mit geistiger Behinderung lebenden Menschen mit der Situation von Straffälligen und Deliquenten in Foucaults 'Überwachen und Strafen' und der Situation der Insassen in Goffmans 'totalen Institutionen' vergleicht.

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Leseprobe

2 Behinderung


 

Obwohl der Begriff „Mensch mit Behinderung“ in der Regel auf ein gewisses Maß an Verständnis und Kenntnis stößt und dabei einen Menschen einer bestimmten Personengruppe scheinbar klar zuweist, ist der eigentliche Terminus „Behinderung“ weit davon entfernt, klar und definitiv bestimmt zu sein (vgl. Wüllenweber 2004). Während „Behinderung“ zunächst meist aus einer medizinisch-physischen Perspektive betrachtet wurde, beziehen sich heutige Definitionsversuche vermehrt auf die sozial-gesellschaftliche Ebene. (vgl. Kulig 2006)

 

Für das Verständnis dieser Arbeit ist es nicht notwendig, einen tiefen und umfassenden Einblick in verschiedene Definitionsansätze zu besitzen. Um die Situation der Menschen in einem Wohnheim besser begreiflich zu machen, reicht der Fokus auf die Behinderung als eine soziale Konstruktion aus. Die Lebensumstände eines Menschen lassen sich weniger anhand einer Klassifizierung oder einem zugeteilten Grad einer Behinderung festmachen, als durch einen Blick auf dessen vermeintliche Wahrnehmung und in welchem Verhältnis er zu seiner Umwelt steht. Dennoch sollen zunächst klassische Zugänge zum Behindertenbegriff aufgezeigt werden.

 

2.1 Begriffsannäherung


 

Zunächst soll an dieser Stelle gezeigt werden, was offiziell verankerte Bestimmungen über den Begriff „Behinderung“ sagen. Die Weltgesundheits-organisation WHO stellte 2001 die sogenannte „internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“[3] vor. Kern dieser Veröffentlichung ist die Unterteilung in drei Bereiche von „Behinderung“. 1) impairments betrifft organische Schädigungen und funktionelle Störungen 2) activity bestimmt das Maß der persönlichen Verwirklichung 3) participation beschreibt die Teilhabe am Leben der Gesellschaft.(vgl. Bleidick 2001, S.59)

 

Die WHO veröffentlicht ebenfalls die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD), die Behinderung auf einer rein medizinischen Ebene betrachtet. Das ICD-10 kategorisiert anhand des ermittelten IQs eines Menschen in unterschiedliche Schweregrade der Behinderung (leichte Geistige Behinderung, mittelgradige geistige Behinderung, etc.).

 

In Deutschland definierte das neunte Sozialgesetzbuch im Kapitel 1 §2 „Behinderung“ folgendermaßen:

 

 „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“ (SGB IX 2015[4])

 

Die schon erwähnte Entwicklung weg von der Fokussierung auf die Schädigung, dem medizinisch-organischen Aspekt und dem Defizit im Allgemeinen lassen diese Annäherungsversuche, gerade im Hinblick auf die Thematik dieser Arbeit, als ungenügend erscheinen. Vermehrt orientiert man sich heute an einer zunehmend soziologischen Perspektive, die den Menschen mit Behinderung im Kontext seiner Umgebung sieht.

 

2.2 Behinderung als (soziale) Konstruktion


 

Die Soziologie, die sich mit dem Thema seit Mitte des 19. Jahrhunderts befasst, betrachtet die „Behinderung“ als ein soziales Konstrukt. (vgl. Fornefeld 2009) So sind es unter anderem „interaktionistische oder systemtheoretische Sichtweisen, die Behinderung in Abweichung von gesellschaftlichen Normen, als Folge von Stigmatisierungsprozessen und Negativzuschreibungen“ (Dederich 2009) darstellen. Neben dem interaktionistischen und systemtheoretischen Ansatz befasst man sich innerhalb der Soziologie auch mit gesellschaftstheoretischen und soziologisch-sozialpolitischen Theorien bezüglich des Phänomens „Behinderung“ (vgl. Fornefeld 2009).

 

Die soziologisch-sozialpolitische Perspektive sieht die Behinderung in einem Zusammenhang des gesellschaftlichen Auftrags, der durch Hilfeleistung aller Art versucht, Teilhabe herzustellen (vgl. Thimm 1972, Wacker 2008, Fornefeld 2009). Der systemtheoretische Ansatz konstruiert Behinderung „infolge von Störungen in der Kommunikation zwischen sozialen Systemen“ (Fornefeld 2009). So entsteht sie in einer gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktion über Kommunikation, in derer man keine Verhaltensabstimmung erreicht. Individuen erschaffen eine gemeinsame, problembehaftete Wirklichkeit infolge ihrer Beobachtungen, womit sie immer abhängig vom Beobachter sind (vgl. Osbahr 2000). Aus einer gesellschafts-theoretischen Perspektive kommend, tritt Behinderung immer dann auf, wenn ein Mensch aufgrund der zugeschriebenen Behinderung anders behandelt wird. Ein Kind, das aufgrund einer hirnorganischen Schädigung nicht in eine „normale“ Grundschule aufgenommen werden kann, wird durch die Einschulung in eine Förderschule erst „behindert gemacht“.

 

Der interaktionistische Ansatz ist der vielleicht prominenteste soziologische Verstehensansatz. Ausgehend von Theorien von Goffman führt Speck Überlegungen aus, die Behinderung als ein Ausdruck von Devianz werden lässt: In einer (normativen) Gesellschaft, die bewusste und unbewusste Übereinkünfte getroffen hat, was als „normal“ oder als „normales“ Verhalten gilt, kann es zu Abweichungen von einer bestimmten Norm kommen. Diese Abweichung ist aber keineswegs objektiv quantifizierbar, sondern hängt von der Perspektive des Gegenübers/ Betrachters ab: „Interaktionstheoretisch gesehen liegt ein abweichendes Verhalten (Devianz) dann vor, wenn es von anderen als solches definiert wird. (Speck 2003) Stellt man bei seinem Gegenüber eine „negative“ Abweichung fest, wird möglicherweise das eigene Verhalten auf eine Art und Weise angepasst, die dem Anderen zu verstehen gibt, man befinde sich durch die Abweichung in einer bedürftigen oder auf Hilfe angewiesenen Situation. Dies wiederum führt zu einer Wechselwirkung, welche beide Menschen in die jeweilige Rolle des „Behinderten“ („dem Abweichler“) und des „Nicht-Behinderten“ („Nicht-Abweichler) drängt. Aufgrund der Zuschreibung verhält sich der nun konstruierte Mensch mit Behinderung möglicherweise gemäß dem, was von einem Menschen mit Behinderung erwartet wird (abhängig, bedürftig, minder-intellektuell, etc.). Dieser Ansatz impliziert, dass „Behinderung“ nur dort existieren kann, wo es eine Norm, einen Richtwert gibt, von welchem dann abgewichen werden kann.

 

In diesem Zusammenhang spricht Speck vom „Stigma“. Hat ein Mensch ein sogenanntes Stigma, so ist er „in unerwünschter Weise anders, als wir es antizipiert hatten“ (Goffman 1967). Das Stigma wird „im Sinne einer Eigenschaft gebraucht, die in einer bestimmten Relation zur Normalität zu einem diskreditierenden Stereotyp wird.“ (Speck 2003) Auch wenn diese Eigenschaft nur einen geringen Teil des Charakters ausmacht, kann Stigmatisierung zu einer veränderten Wahrnehmung des Ganzen führen. „Was eine solch stigmatisierte Person von der normalen her am deutlichsten und stärksten erfährt, ist die Nicht-Akzeptierung, das Vermissen von normalem Respekt und normaler Beachtung.“ (Speck 2003)

 

Stigmatisierung und Zuschreibung von Devianz tragen nicht nur dazu bei, Menschen als „behindert“ zu etikettieren, einer Personengruppe zuzuordnen und Menschen ohne Behinderung ein vermeintlich angemessenes Verhalten gegenüber dem Stigmatisierten zu ermöglichen, sondern haben großen Einfluss auf die Identität des sogenannten Menschen mit Behinderung. Goffman entwickelt daher die soziale Identität, die sich wiederum in die virtuelle und aktuale unterteilt. Das Stigma entsteht durch eine Abweichung zwischen der virtuellen (beschreibt, wie man als Mitglied einer Gruppe zu sein hat) und der aktualen (wie man von Außen gesehen wird) Identität. (vgl. Goffman 1967)

 

Auch wenn diese Ausführungen nur bedingt eine Annäherung an den Begriff „Behinderung“ leisten konnten, ist dadurch immerhin ersichtlich geworden, dass sich die Bedeutung je nach Perspektive und Ebene ändert. Umso erstaunlicher scheint es daher zu sein, dass es sich bei den sogenannten „Menschen mit Behinderung“ um eine so klar abgegrenzte und bestimmte Personengruppe handelt, über die ein großer Konsens besteht. In Anbetracht dessen soll Behinderung daher nicht als eine unbewegliche Charaktereigenschaft betrachtet werden, sondern primär als Konstruktion sozialer und gesellschaftlicher Zuschreibung.

 

2.3 Geistige Behinderung


 

Ähnlich wie der Begriff der „Behinderung“ ist „geistige Behinderung“ kein klar definierter Begriff. Die Debatte über „geistige Behinderung“ ist geprägt von unterschiedlichen Verstehens- und Definitionsansätzen (vgl. Trescher 2015). Große Übereinkunft herrscht über die Tatsache, dass es als ein komplexes Phänomen betrachtet werden sollte und es „die“ geistige Behinderung nicht gibt (vgl. Stöppler 2014). Speck sagt, der Begriff „soll Menschen kennzeichnen, die auf Grund komplexer Dysfunktionen der...

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