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Uneheliche Schwangerschaft und Kindsmord in ausgewählten Texten des Sturm und Drang und der Romantik

AutorSandra Boese
VerlagExamicus Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl85 Seiten
ISBN9783656998921
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2002 im Fachbereich Soziologie - Familie, Frauen, Männer, Sexualität, Geschlechter, Note: 2.5, Freie Universität Berlin, Sprache: Deutsch, Abstract: Vergleich zweier Hauptwerke ('Marquise von O...' von Heinrich von Kleist und 'Die Kindermörderin' von Heinrich Leopold Wagner) bezüglich unehelicher Schwangerschaft, Kindsmord und sozialen Konventionen in der Romantik und Sturm und Drang. uneheliche Schwangerschaft und Kindsmord werden in der empirischen Literatur nur selten thematisiert

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Leseprobe

3.4 Realität und Literatur


Viele Literaten der Sturm-und-Drang-Epoche übten Kritik an der bürgerlichen Moral, welche die sexuelle Keuschheit der Frau vor der Heirat zum höchsten sittlichen Gut erklärte, die sexuelle Betätigung der Männer vor und außerhalb der Ehe aber als durchaus normal ansah oder zumindest tolerierte. Die Stürmer und Dränger hatten sehr deutlich erkannt, dass unter dieser Doppelmoral überwiegend die Frauen litten. In Heinrich Leopold Wagners „Kindermörderin“ und in Johann Wolfgang von Goethes „Urfaust“ töten die verführten Protagonistinnen Evchen und Gretchen ihr neugeborenes Kind, weil sie die gesellschaftliche Schande, die ein uneheliches Kind damals bedeutete, nicht ertragen können. Doch statt ihr zu entgehen, verfallen sie ihr in doppelter Hinsicht. Sie werden als uneheliche Mütter verfemt und sozial deklassiert. Als Kindsmörderinnen sind sie gesellschaftlich nicht mehr tragbar und werden dem Schafott übergeben. Bei diesen Dramen handelt es sich jedoch nicht nur um eine literarische Übertreibung, sondern ferner um eine Realität des 18. Jahrhunderts. Man geht davon aus, dass Goethe die Anregung zur Gretchenhandlung für seinen „Faust“ aus den Prozessakten der Kindsmörderin Susanne Margaretha Brandt 13 entnommen hat. Diese wurde am 14. Januar 1772 hingerichtet. Über das Drama von Heinrich Leopold Wagner sagte Goethe:

„Er hieß Wagner, (...). Er zeigte sich als ein Strebender, und so war er willkommen. Auch hielt er treu an mir, und weil ich aus allem, was ich vorhatte, kein Geheimnis machte, so erzählte ich ihm wie anderen meine Absicht mit »Faust«, besonders die Katastrophe von Gretchen. Er faßte das Sujet auf, und benutzte es für ein Trauerspiel »Die Kindesmörderinn«. Es war das erste Mal, daß mir jemand etwas von meinen Vorsätzen wegschnappte“ 14 .

Goethes Plagiatsvorwurf muss allerdings mit Vorsicht betrachtet werden. Fakt ist, dass beide Dichter in einem engen freundschaftlichen Kontakt standen und dass eine zeitliche

Nähe der Entstehung von der „Kindermörderin“ und „Faust“ besteht. Doch auch Wagner nahm an den Kindsmordprozessen in Frankfurt und Straßburg teil. Lässt man die Plagiatsvorwürfe außer Acht, so ist die Realitätsnähe beider Werke unverkennbar. Nähe sollte jedoch in diesem Falle stark hervorgehoben werden. Hält man die sozialgeschichtlichen Befunde neben die literarische Bearbeitung des Themas Kindsmord, so fallen einem die Divergenzen zwischen Realität und literarischer Darstellung ins Auge. Schon in der Art der Tötung werden extreme Differenzen aufgezeigt. Wenn es den Kindsmörderinnen möglich war, ließen sie ihre Neugeborenen einfach liegen 15 . Es fand also in den meisten Fällen keine aktive Tötung statt, allenfalls erstickten die Mütter ihre Kinder 16 , um das Schreien zu verhindern, das sie verraten hätte. In der Literatur dagegen entstehen schaurige, brutale Bluttaten daraus. In Goethes „Faust“ ertränkt Gretchen das Kind, in „Des Pfarrers Tochter vom Taubenhain“ von Gottfried August Bürger ersticht Frau Rosette den geborenen Sohn.

„Es wand ihr ein Knäbchen sich weinend vom Schoß, Bei wildem unsäglichen Schmerze. Und als das Knäbchen geboren war, Da riß sie die silberne Nadel vom Haar, Und stieß sie dem Knaben ins Herze. (...)

Sie kratze mit blutigen Nägeln ein Grab, Am schilfigen Unkengestade.“ 17

Noch grausamer wird der Kindsmord bei der „Kindermörderin“ von Heinrich Leopold Wagner geschildert, in dem Evchen ihr Baby mit einer Stecknadel in die Schläfe ersticht, die Wunde küsst, das austretende Blut trinkt und den Geschmack des Blutes beschreibt.

„Evchen. (...) (nimmt eine Stecknadel, und drückt sie dem Kind in Schlaf (...).) (...)

Ha! ein Blutstropfen! den muß ich wegküssen, - noch einer! - auch den! (küßt das Kind an dem verwundeten Schlaf.) - Was ist das? - süß! sehr süß! aber hinten nach bitter - ha, jetzt merk ichs - Blut meines eignen Kinds! - und das trink ich?“ (K, 80)

Um der exemplarischen Darstellung Genüge zu tun, sei noch ein viertes Werk von Anton Matthias Aloysius Sprickmann, „Ida“, genannt. Die Protagonistin zerschmettert ihr

neugeborenes Kind an einem Felsen und leckt anschließend Blut und Gehirn von dessen Kopf.

„O Himmel! Mit wütender Macht Geschleudert am Felsen, zerkracht - Sollt's jammern nicht Felsen und Stein? - Des armen Kindes zart Gebein. Es zuckt noch einmal und winselt, so zirpt Ein armes, zerschlagenes Heimchen - und stirbt.

Deß erwacht die Mutter aus ihrer Wut, Fällt hin über's Kind, und leckt von der Stirne Ihm Blut und Gehirne,

Und rauft sich das Haar, und schlägt sich das Blut Mit rasender Faust aus den Brüsten. Das Herz, in mödrischen Lüsten, Lezt und lezt Nach Blut, nach Blut! Halb schon zerfez, Und immer noch Blut In Zehrender Glut.“ 18

In diesen literarischen Beispielen erkennt man die brutale Darstellung der Kindstötung. Blut wird in allen drei Werken hervorgehoben und macht die Handlung noch anschaulicher. Die Mutter wird bei diesem Delikt zum Tier deklariert. Sie leckt die Wunden ihres toten Kindes, lezt nach Blut und ist von Sinnen aufgrund von mödrischen Lüsten 19 . Sie nimmt kannibalische Züge an, indem sie den Lebenssaft und das Gehirn ihres Kindes isst. Die grässlichen Mordphantasien der Autoren dieser Epoche werden offenkundig.

Literarische Gegenbeispiele lassen sich selbstverständlich auch ausfindig machen, doch in nur einem sehr viel geringeren Ausmaße. Es ist in diesem Zusammenhang „Zerbin oder die neuere Philosophie“ von Jakob Michael Reinhold Lenz zu nennen. Marie hat nach ihren Angaben das Kind tot zur Welt gebracht, mehr wird nicht gesagt.

„Sie wollte sich ihrem Schicksal überlassen und das Schlimmste abwarten, ohne (...) ein Wort davon zu sagen. (...) [K]urz, die Frucht ihrer verbotenen Vertraulichkeit kam, nach ihrem letzten Geständnis, tot auf die Welt.“ 20

Diese Darstellung der persönlichen Beziehung zwischen dem toten Kind und der Mutter scheint die realistischste zu sein, da die angeklagten Frauen versuchten jegliche Bindung zum Neugeborenen zu unterdrücken und zu verdrängen. „Sie leugneten, so weit es ging, auch vor sich selbst die Schwangerschaft, trafen keinerlei Vorsorge für die Aufnahme des

Kindes, erlebten den Geburtsakt, der nur eine minimale Unterbrechung der Arbeit darstellte - eine gefährliche und ungeheure körperliche Belastung! -, als Form des Stuhlgangs, vermieden es, das Neugeborene überhaupt anzusehen, wollten sein Geschlecht nicht wissen.“ 21 Die Kindermörderinnen in der Literatur bauen hingegen eine Beziehung zu dem Baby auf. Das führt erst zum Konflikt, welchen das Delikt der Ermordung eines Menschen im psychischen und moralischen Sinne begründet. Evchen in der „Kindermörderin“ von Wagner umsorgt ihr Kind fünf Wochen, bevor sie es ersticht. Natürlich gibt es auch einige Gegenbeispiele, in denen die Frauen schon vor der Geburt den Tod ihres Kindes geplant haben. Ein Beispiel nennt Otto Ulbricht in seiner Abhandlung:

„So sagte z.B. Dorothea Rolff (Stadt Kiel 1803), ,es sey ihre Absicht gewesen, daß das Kind an der Verblutung sterben solle: sie habe zu diesem Zwecke alle ihre Handlungen unternommen, und deshalb auch ihre Schwangerschaft verheimlichtc.“ 22

Sicherlich werden die passiven wie auch die aktiven Tötungen in der Realität vorgekommen sein, doch die Häufigkeit ist schwer nachzuweisen. Die meisten Angaben der Angeklagten sind aus dem Gerichtsprotokoll zu entnehmen. Das bedeutet, dass viele der Aussagen angesichts der drohenden Strafe ebenso gut Schutzbehauptungen gewesen sein können, was im Nachhinein schwer nachweisbar ist.

In den literarischen Bearbeitungen des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts kommen die Protagonistinnen meist aus relativ gesicherten Verhältnissen. Aufgrund dieser gesellschaftlichen Integration entsteht der Druck, zum Beispiel von der dörflichen Bevölkerung, auf die werdende Mutter. Die soziale Reputation ihrer Familie und ihrer Person ist in Gefahr. Damit gekoppelt sind die finanzielle und berufliche Sicherheit. Otto Ulbricht stellt jedoch eine ganz andere typische Kindermörderin-Figur dar. Aus schleswig-holsteinischem Material des 18. Jahrhunderts 23 lassen sich ganz andere Schlüsse ziehen. Bei Kindermörderinnen handelte es sich meist um Frauen zwischen 20 und 30 Jahren (Durchschnittsalter fast 25 Jahre), welche bei einem Bauern als Dienstmagd beschäftigt waren, aus der ländlichen Unterschicht und ärmlichen familiären Verhältnissen kamen. Meist waren sie Halb- oder Vollwaisen. Weiterhin hatte die typische Kindsmörderin einen guten Ruf, welcher sowohl ihr Verhalten als Dienstmagd

20 Jakob Michael Reinhold Lenz, S. 290

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