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E-Book

Vom Irrtum lernen

Behandlungsfehler und Verantwortung in der psychoanalytischen und psychotherapeutischen Praxis

AutorRalf Zwiebel
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl245 Seiten
ISBN9783608109931
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Bis zu 20% aller psychoanalytischen und psychotherapeutischen Behandlungen verlaufen erfolglos, nicht selten kommt es dabei zu unerwünschten Nebenwirkungen und Schädigungen. Der Autor stellt die Frage nach der Beteiligung des Psychotherapeuten und seiner Verantwortung für das Scheitern und entwirft eine Fehler- und Irrtumstheorie für die psychoanalytische und therapeutische Praxis. Das Buch beschreibt sowohl die Standards professionellen therapeutischen Handelns als auch die Besonderheiten der psychoanalytischen Praxis aus einer ethischen Sichtweise.   Ralf Zwiebel unterscheidet und untersucht zwei grundlegende Bereiche: In den ersten fallen Behandlungsfehler und Verfehlungen, für die der Therapeut die alleinige Verantwortung trägt. Hier geht es darum, eine für die Praxis handhabbare und valide Fehlerkultur zu entwickeln. In den zweiten Bereich gehört die spezifische innere Arbeitsweise des Analytikers, die einer Dynamik von Gelingen und Scheitern unterliegt. Irrtümer, Täuschungen und Fehlleistungen gehören unvermeidlich zum analytischen Prozess dazu. Obwohl nicht erwünscht, stellen sie doch eine unverzichtbare Quelle des Verstehens und Arbeitens dar. Dieses Buch richtet sich an: - PsychoanalytikerInnen - PsychotherapeutInnen

Ralf Zwiebel, Prof. Dr. med., ist Lehranalytiker am Alexander- Mitscherlich-Institut Kassel (DPV, IPV), war Professor für Psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel. Er ist heute in eigener psychoanalytischer Praxis tätig.

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Leseprobe

Kapitel 2

Entwurf einer psychoanalytischen Fehler- und Irrtumstheorie


»Zu viel – nicht genug«


Im Eingangskapitel habe ich die ethische Dimension in einem weiten und in einem engen Sinne unterschieden. Außerdem lässt sich die Ethik der direkten analytischen Begegnung und die Ethik des gesamten Umfeldes genauer unterscheiden und betrachten – die Unterscheidung von Drinnen und Draußen. Außerdem wurde noch die Innen- und die Außenperspektive angesprochen und betont, dass der folgende Text vor allem aus der Innenperspektive geschrieben ist: als Reflexion der eigenen langjährigen psychoanalytischen Praxis. In diesem Kapitel sollen die zentralen Thesen der ethischen Dimension in dem engeren Sinn (am Beispiel der »unerwünschten Ereignisse«) beschrieben und in einem ersten Überblick diskutiert werden. Die späteren Kapitel sind als Vertiefungen aufzufassen. Ich verstehe dies als einen Vorschlag für eine psychoanalytische Fehler- und Irrtumstheorie, in der die ethischen Fragen in ihrer komplexen Dimension differenziert werden. Es sei dabei noch einmal die Feststellung aus dem ersten Kapitel aufgegriffen, die sich in dem Motto der Jahrestagung der Europäischen Psychoanalytischen Vereinigung 2015 ausdrückt, das nämlich »Zu viel – nicht genug« lautete: Lange Zeit hat die psychoanalytische Gemeinschaft ethische Fragen eher nicht genug und nicht intensiv genug behandelt (es wurde schon an die späten Gründungen von Ethikkommissionen, an die eher spärliche Literatur und begrenzte Ausbildungsangebote hingewiesen), gleichzeitig gibt es aber auch ein »Zu viel« an immer wieder auftauchenden und belastenden Fragen, ob unsere Praxis eine »richtige«, eine »reine« oder eine »verfälschte« Praxis sei, Fragen, die eine in jedem Fall implizite ethische Dimension haben. Welcher Psychoanalytiker kennt nicht die manchmal quälende Frage, ob seine Praxis ausreichend gut sei, welche seiner Entscheidungen sich als falsch, schädlich oder als Fehler herausstellen, auch immer mit dem Bewusstsein, dass es keine endgültige klärende Instanz gibt, dass der Zweifel und die Ungewissheit gleichsam zur existentiellen Situation des Psychoanalytikers gehören. Es mag dies eine sehr subjektiv gefärbte Erfahrung sein, aber ich selbst erlebte und erlebe immer wieder in klinischen Diskussionen, in Publikationen oder auch kollegialen Gespräche einen moralischen Unterton, den ich manchmal erst im Nachhinein als ein »Zu viel« empfinde. Man kann sicherlich auch vermuten, dass eine moralistische Haltung und Einstellung auch als Abwehr gegenüber der Unsicherheit oder dem Zweifel zu verstehen ist, wie man nämlich eine klinische Situation aus ethischer Sicht zu beurteilen habe. Dies alles mag dazu beitragen, dass das »Selber Denken« nicht immer leicht ist und eine Tendenz zu beobachten ist, sich an die Meister des Faches, an die Autoritäten, anzuheften, die das Versprechen nach einer klaren und sicheren Antwort zu verkörpern scheinen – ohne Frage auch eine Idealisierung der Meister unseres Faches, die aber für die praktische Arbeit mit ihren ethischen Herausforderungen vielleicht sogar eher hinderlich ist.

Die Bipolarität psychoanalytischen Denkens


Ich beginne mit einigen kurzen Überlegungen zur grundlegenden Bipolarität psychoanalytischen Denkens.9 Dabei erinnere ich daran, dass der heutige, durchschnittliche moderne Psychoanalytiker weniger als Vertreter einer Schule, sondern in seiner konkreten Praxis als ein Psychoanalytiker betrachtet wird, der ein individualisiertes Arbeitsmodell entwickelt, das eine Legierung aus offiziellen Theorien, persönlicher Aneignung und klinischen Erfahrungen darstellt (Sandler 1983, Tuckett 2007, Will 2008, Zwiebel 2013). In meinem eigenen Arbeitsmodell stellt sich Analytiker-Werden und Analytiker-Bleiben in der konkreten Sitzung, im Verlauf einer einzelnen Behandlung und im Laufe eines Analytiker-Lebens als eine komplexe und schwierige Aufgabe dar, die ich unter dem Aspekt der Entwicklung und dem Bewahren einer analytisch-therapeutischen Position zu beschreiben versuche. Diese lässt sich als das Wirken einer multiplen Bipolarität von »Persönlichem Pol« und »Technischem Pol« verstehen, die grundsätzlich in einer oszillierenden, balancierenden Schwebe gehalten werden muss und nicht dauerhaft in den einen oder anderen Pol im Sinne einer Polarisierung aufgelöst werden darf (Zwiebel 2007, 2013). Einfühlung und konzeptualisierende Distanzierung, Asymmetrie und Gegenseitigkeit, Assoziieren und Fokussieren, Abstinenz und Mitagieren, Wissen und Nicht-Wissen, Aktivität und Passivität, Absichtslosigkeit und Zielorientierung, Anonymität und Selbstoffenbarung, Anfänger-Geist und Experten-Geist sind zentrale Polaritäten dieser analytisch-therapeutischen Position. Für die Frage nach der ethischen Dimension unserer psychoanalytischen Praxis ist eine weitere Bipolarität von besonderer Bedeutung, nämlich das von Freud beschriebene Junktim von Forschen und Heilen:

»In der Psychoanalyse bestand von allem Anfang ein Junktim zwischen Heilen und Forschen, die Erkenntnis brachte den Erfolg, man konnte nicht behandeln, ohne etwas Neues zu erfahren, man gewann keine Aufklärung, ohne ihre wohltätige Wirkung zu erleben« (Freud 1927, S. 293 ff.).10

Mir scheint, dass in diesem Junktim oft zu wenig dessen bipolare Grundlage gesehen wird, nämlich die Aufgabe, eine oszillierende Balance zwischen zwei durchaus gegensätzlichen Tendenzen herzustellen: Die forschende Grundhaltung (Leuzinger-Bohleber 2007) zielt auf Erkenntnis und Wahrheit, die Heilung auf die Wirksamkeit des Verfahrens mit der immer mitgedachten Vermeidung negativer Wirksamkeiten, also auch möglicher Schädigungen des Analysanden. Die Gegensätzlichkeit zeigt sich darin, dass für den Pol der Forschung eine klare, objektive und distanzierte Beobachtungshaltung gefordert ist, für den Pol der Heilung das persönliche, empathische Engagement des Psychoanalytikers. Leicht gerät man dabei in eine Dynamik des »Entweder-Oder« und damit aus dem notwendigen In-der-Schwebe-Halten des »Sowohl-als-Auch« heraus. In Freuds berühmtem Wort vom »furor sanandi« zeigt sich die Gefahr einer Dysbalance in dieser schwierigen oszillierenden Bipolarität, indem nämlich eine Polarisierung in Richtung »Heilung« stattfindet (auch im Sinne von unbewussten Rettungsphantasien), die aber gerade dadurch gefährdet werden kann. Bei der polarisierten Betonung der Forschung mag eine kalte, unempathische und rigide Haltung dem Analysanden gegenüber resultieren, die im extremen Fall sogar traumatisierend erlebt werden kann. Im ersten Kapitel war schon von einer anderen Bipolarität die Rede, nämlich von Flüchtigkeit und Dauer, die man beispielsweise auf die Frage des Verstehens oder der Einsicht beziehen könnte.11

Die Bipolarität von Forschen und Heilen


Wenn ich im Folgenden von dieser Bipolarität von Heilen und Forschen ausgehe, dann lassen sich bezüglich der ethischen Dimension psychoanalytischer Praxis zwei Prämissen postulieren: Zum einen ist noch einmal an die grundlegende ethische Dimension unserer Praxis zu erinnern, die sehr viel umfassender ist, als es gewöhnlich vermutet wird. Auf die recht weit gefasste Definition von M. Gabriel, der unter Ethik das systematische Nachdenken über die Begründung der Prinzipien unseres Handelns angesichts des Umstands versteht, dass wir zum Guten und zum Bösen fähig sind, habe ich schon hingewiesen (Gabriel 2015, S. 110). Hier klingt eine weitere basale Bipolarität an, die die ganze psychoanalytische Theorie durchdringt: die Dualität von libidinösen und aggressiven Kräften im menschlichen Leben. Zum anderen lässt sich vermuten, dass die Beachtung dieser Bipolarität von Forschen und Heilen eine gewisse Differenzierung zwischen zentralen, aber schwierigen Begriffen in den ethischen Diskussionen wie Täuschung, Irrtum, Illusion auf der einen Seite und einem für die Psychoanalyse aufgeladenen Begriff des Fehlers, des Behandlungsfehlers, der Nebenwirkungen ermöglicht: Erstere gehören danach eher in den Bereich der »Forschung«, Letzterer in den Bereich der »Heilung«, allerdings immer das Freud’sche Junktim im Sinne einer Verzahnung oder gegenseitigen Verschränkung im Auge behaltend, das die Überlegungen oft so komplex und unübersichtlich machen. Vor allem in diesem zweiten Bereich der »Heilung« fallen dann auch Phänomene, die man als »unerwünschte Ereignisse« (Linden & Strauß 2013, S. 20) bezeichnen könnte: Abbrüche,...

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