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E-Book

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Die bizarre Geschichte der Finanzen

AutorJohn Lanchester
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl302 Seiten
ISBN9783608104943
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Unterhaltsam und verständlich entwirrt der Autor des Welterfolgs »Kapital« jedem Laien, warum die Finanzwelt und die globale Welt seit Jahren erschüttert werden und die Ursachen noch immer nicht behoben sind. Der Sündenfall begann, als Finanzjongleure die Tatsache verschleierten, dass jedes finanzielle Abenteuer irgendwann von irgendjemandem bezahlt werden muss. Dabei macht er aus seiner sehr britischen Euroskepsis keinen Hehl und umreißt Vorschläge, wie eine politische Einigung Europas gelingen und Europa stärken könnte, um die Finanzkrise gemeinsam zu überwinden. »Gestern«, so heißt ein sarkastischer Witz, »standen wir vor dem Abgrund. Heute sind wir einen Schritt weiter.« Dazu will es John Lanchester nicht kommen lassen - er plädiert dafür, einen Schritt zurückzutreten und entschlossen zu handeln, um nicht alles, was seit dem Fall der Mauer erreicht wurde, verloren gehen zu lassen.

John Lanchester geboren 1962 in Hamburg, wuchs im Fernen Osten auf und arbeitete in England als Lektor beim Verlag Penguin Books, ehe er Redakteur der »London Review of Books« wurde. Daneben war er für Zeitungen und Zeitschriften wie »Granta« und »The New Yorker« tätig sowie als Restaurantkritiker für »The Observer« und Kolumnist für »The Daily Telegraph«. Er gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern und führenden Intellektuellen Englands. Dorothee Merkel lebt als freie Übersetzerin in Köln. Zu ihren Übertragungen aus dem Englischen zählen Werke von Edgar Allan Poe, John Banville, John Lanchester und Nickolas Butler.

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Leseprobe

Einleitung


Der Stadtneurotiker hat viele wunderbare Momente, aber in meiner Lieblingsszene taucht zum ersten und einzigen Mal Annies jüngerer Bruder Duane Hall auf, gespielt von Christopher Walken, der mit diesem Film seine lange, glanzvolle Karriere als Darsteller besonders seltsamer Charaktere begann. Während eines Besuchs auf dem Familiensitz der Halls trifft Alvy Singer – alias Woody Allen – auf Duane, der ihm völlig unvermittelt folgende Fantasie erzählt: »Manchmal, wenn ich nachts … auf der Straße fahre … sehe ich, wie zwei Scheinwerfer – sehr schnell – auf mich zukommen. Dann habe ich diesen plötzlichen Drang, das Steuer herumzureißen und frontal in das entgegenkommende Auto zu rasen. Ich kann die Explosion förmlich spüren. Das Geräusch von zersplitterndem Glas. Die … Flammen, die aus dem herausquellenden Benzin aufsteigen.« Aber erst Alvys Antwort macht die Szene so wunderbar: »Ah ja. Nun, ich muss jetzt – ich muss jetzt gehen, Duane, weil man mich auf dem Planeten Erde zurückerwartet.«

Diesen Drang, ein Auto in die entgegenkommenden Scheinwerfer zu lenken, habe ich nie geteilt. Aber ich muss zugeben, dass mir hin und wieder ein Gedanke durch den Kopf geht, der gar nicht so weit davon entfernt ist. Das geschieht nie, wenn ich in der Stadt bin oder viel Verkehr herrscht oder wenn sich außer mir noch jemand im Auto befindet. Brause ich aber mutterseelenallein auf der leeren Landstraße dahin, höre Radio und sind keinerlei Hindernisse in Sicht, was bei dem heutigen Verkehr selten genug geschieht, dann huscht mir gelegentlich ein ganz flüchtiger Gedanke durch den Kopf, den ich bisher nie in die Tat umgesetzt habe und hoffentlich auch nie umsetzen werde: Was würde wohl geschehen, wenn ich in diesem Augenblick den Rückwärtsgang einlege?

Wenn man diese Frage einem Autonarren stellt, ist seine erste Reaktion, einen vollkommen irritiert anzustarren. Und als Nächstes schaut er noch irritierter. Dann erklärt er, dass in einem solchen Fall der Motor des Autos praktisch explodieren würde: Teile würden sich gegenseitig zersprengen, Stangen durch die Luft fliegen, der Vergaser in tausend Stücke zerbersten, es gäbe einen fürchterlichen Krach und Gestank und Qualm und man käme von der Straße ab, würde sich schwer verletzen und mit hoher Wahrscheinlichkeit sterben. Diese Erklärung überzeugt mich dermaßen, dass mir der Gedanke, den Rückwärtsgang einzulegen, immer nur blitzartig durch den Kopf zuckt, ungefähr eine halbe Sekunde lang, etwa alle zwei oder drei Jahre. Und ich bin mir sicher, dass ich es niemals tun werde.

Während der ersten drei Jahre des neuen Jahrtausends sauste der gesamte Planet fröhlich durch die Gegend, mit einer Geschwindigkeit, die ungefähr 120 Stundenkilometern auf freier Straße bei herrlichem Wetter entspräche. In den Jahren zwischen 2000 und 2006 war die Weltöffentlichkeit mit Gesprächsthemen wie der Wahl George W. Bushs, den grauenhaften Terroranschlägen vom 11. September 2001, dem »globalen Krieg gegen den Terror« und den Konflikten in Afghanistan und im Irak beschäftigt. Aber während all dies geschah, fand gleichzeitig noch etwas vollkommen anderes statt, etwas sehr Folgenschweres, das zwar nicht völlig unbeachtet blieb, aber erstaunlich wenig Aufmerksamkeit erregte: Das Gesamtvermögen der Welt verdoppelte sich nahezu. Im Jahr 2000 betrug das gesamte BIP der Erde – die Summe der weltweiten Wirtschaftsleistungen – 36 Billionen Dollar.1 Ende 2006 belief es sich auf 70 Billionen.

In den Industrieländern erregte das Platzen der Internetblase im März 2000 so große Aufmerksamkeit – die »größte Kapitalvernichtung der Weltgeschichte«, wie man es damals nannte –, dass niemandem auffiel, wie schnell die westlichen Volkswirtschaften sich wieder gefangen hatten. Der Aktienmarkt entwickelte sich danach zwar relativ stockend, aus Gründen, die ich in der Folge noch erläutern werde, aber andere Bereiche der Wirtschaft florierten. Das Gleiche galt für den Rest der Welt. Im Jahr 1999 wies ein Leitartikel des Economist darauf hin, dass der Ölpreis nunmehr auf 10 Dollar pro Barrel gesunken war, und warnte feierlich: Womöglich würde es dabei nicht bleiben, denn es gab gute Gründe anzunehmen, dass er sogar auf 5 Dollar pro Barrel sinken würde. Haha!

Im Juli 2008 war der Erdölpreis auf 147,70 Dollar gestiegen und folglich wurden die Ölförderländer mit Geld nur so überschwemmt. Von der arabischen Welt über Russland bis nach Venezuela ähnelten die staatlichen Schatzämter einer Szene bei den Simpsons, in der Monty Burns und sein Assistent Smithers sich gegenseitig mit Dollarbündeln bewerfen und »Geldschlacht!« rufen. Der Erdölbedarf war deshalb so stark gestiegen, weil in vielen Entwicklungsländern, insbesondere in Indien und China, ein beispielloses Wirtschaftswachstum zu verzeichnen war. In beiden Ländern tauchte plötzlich eine rasant wachsende, überaus konsumfreudige neue Mittelschicht auf. Das Bruttoinlandsprodukt in China wuchs pro Jahr durchschnittlich um 10,8 Prozent, in Indien waren es 8,9 Prozent. In nur 15 Jahren wuchs in Indien die Mittelschicht – und damit ist derjenige Bevölkerungsteil gemeint, der es geschafft hatte, sich aus der Armut zu befreien – von 147 Millionen auf 246 Millionen Menschen an; in China wurden aus den ursprünglichen 174 Millionen gar 806 Millionen – möglicherweise die größte wirtschaftliche Leistung eines einzelnen Landes in der Weltgeschichte. Das persönliche Einkommen wuchs dort zwischen 1978 und 2004 um 6,6 Prozent pro Jahr, vier Mal so schnell wie der weltweite Durchschnitt. Mittlerweile erhalten 30 Millionen chinesische Kinder Klavierunterricht. Zwei Fünftel aller indischen Schuljungen im Gymnasialalter bekommen zusätzlich zu ihrer Schulausbildung Nachhilfeunterricht. Wenn Länder, deren Wirtschaft derart floriert, insgesamt eine Bevölkerung von 2,25 Milliarden Menschen haben, steht der gesamte Planet mit einem Mal vor einer vollkommen neuen wirtschaftlichen Perspektive. Hunderte Millionen Menschen sind nun deutlich wohlhabender geworden und haben die dazugehörigen Ansprüche entwickelt. Die Ölpreise sind gestiegen, die industrielle Produktion ist gestiegen, der Preis von Grund- und Rohstoffen ist gestiegen und die Wirtschaft (fast) eines jeden Landes floriert. Wer weiß, denken die Optimisten, wenn es mit der Weltwirtschaft so weitergeht, könnte es uns vielleicht tatsächlich gelingen, bis 2015 einige der Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen zu erreichen, wie zum Beispiel, den Anteil der Bevölkerung, die weltweit Hunger leidet, zu halbieren, oder den Anteil der Bevölkerung, deren Einkommen unter einem Dollar pro Tag liegt.1 Als diese Ziele formuliert wurden, schien das utopisch, aber da die Welt nun um 34 Billionen Dollar reicher geworden war, entstand plötzlich der Eindruck, als könne dieses Ziel tatsächlich erreicht werden.

Und dann war es ganz so, als wäre die Weltwirtschaft eines Tages hingegangen und hätte beschlossen, es könne, da sie doch gerade so wunderbar die Straße entlangsauste, keinen besseren Augenblick geben, um einmal diese Sache mit dem Rückwärtsgang auszuprobieren. Das Ergebnis … nun, aus heiterem blauen Himmel, einem Himmel, der den meisten Leuten noch nie zuvor so klar und blau erschienen war, gab es einen katastrophalen Unfall mit Totalschaden. Unglaublich viele Menschen stellten sich seither immer wieder eine einzige Frage: Was ist passiert?

Ich habe den Verlauf der Wirtschaftskrise nun seit mehreren Jahren verfolgt. Meine Beschäftigung mit diesem Thema begann im Rahmen der Hintergrundrecherche für meinen Roman Kapital, und rasch wurde mir klar, dass ich hier gerade die interessanteste Geschichte entdeckt hatte, die mir je untergekommen war. Während meiner anfänglichen Nachforschungen brach die Northern Rock Bank zusammen, und es wurde nur zu offensichtlich, was ich damals in einem Zeitschriftenartikel schrieb: »Wenn unsere Gesetze nicht dahingehend erweitert werden, dass die supermächtigen, superkomplexen und potentiell superriskanten Anlageinstrumente kontrolliert werden können, dann werden diese eines Tages eine finanzielle Katastrophe von globalen Ausmaßen verursachen.« Und im Zusammenhang mit der für alle deutlich erkennbaren Immobilienpreisblase schrieb ich, dass ich es sehr verständlich fände, »wenn man zu der Überzeugung gelangt, dass ein wie auch immer gearteter Crash kurz bevorsteht«. Ich hatte zwar recht, aber es war schon zu spät: Alle Grundlagen für die Krise waren bereits geschaffen – obwohl ich es damals wie heute verblüffend finde, wie träge die Regierungen weltweit handelten und es versäumten, sich auf das kolossale Debakel, das sich im Herbst 2008 ereignete, vorzubereiten. Hauptsächlich aber habe ich dieses Buch deshalb geschrieben, weil das Geschehene einfach unglaublich interessant ist. Es ist eine höchst erstaunliche Geschichte, voller Emotionalität und Dramatik, und ihre Verzweigungen mit mathematischen, ökonomischen und psychologischen Themen sind entscheidend für die Ereignisse der letzten Jahrzehnte. Und aus irgendwelchen mysteriösen Gründen sind diese Zusammenhänge der allgemeinen Öffentlichkeit vollkommen unbekannt.

Man spricht gern von den »Zwei Kulturen«, den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften. Gerade im Jahr 2009 tauchte das Thema immer wieder auf, denn da war es genau 50 Jahre her, dass C. P. Snow diese Wendung zum ersten Mal in einer Rede benutzte. Dabei bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob die Anschauung, es gebe einen tiefen Graben zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, immer noch genauso zutrifft wie vor einem halben Jahrhundert. Ein ganz normaler Leser, der sich über naturwissenschaftliche Grundsätze kundig machen will, kann...

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