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Wer ist Charlie?

Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens

AutorEmmanuel Todd
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl236 Seiten
ISBN9783406686344
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Mittwoch, 7.Januar 2015: Zwei Maskierte dringen in das Büro des Satiremagazins 'Charlie Hebdo' ein und schießen einen Großteil der Redaktionsmitglieder nieder - als Rache für Mohammed-Karikaturen. In den folgenden Tagen verkünden Millionen solidarisch 'Ich bin Charlie'. Der französische Soziologe Emmanuel Todd gehörte nicht zu diesen Charlies. Sein provozierender Befund, der in Frankreich zu hitzigen Debatten geführt hat: Unter dem Deckmantel eines Kampfes für die Freiheit haben sich Demokraten und Antidemokraten untergehakt, um gegen den Islam zu demonstrieren. Nicht um die Freiheit generell ging es, sondern um die Freiheit, den Islam zu verhöhnen. Diese These bildet den Auftakt dafür, eine höchst aufschlussreiche Landkarte der aktuellen politischen Mentalitäten in Frankreich und Europa zu zeichnen. Fremdenhass, Antisemitismus, Islam-Verteufelung, Europa-Skepsis, autoritäre Politikvorstellungen, Putin-Verehrung, Israel-Kritik und Amerika-Feindschaft: Das sind die Zutaten, die je nach Region und religiöser Prägung ganz unterschiedliche, aber stets gefährliche Mischungen ergeben. Emmanuel Todd zeigt, welche wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Faktoren die Demokratie an den Rand des Abgrunds führen, und ruft dazu auf, zu den wahren Werten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zurückzufinden. 'Todd wird seinem Ruf als Querdenker gerecht und analysiert das wahre Gesicht hinter der schönen nationalen Empörung.' Marguerite Baux, LUI 'BLASPHEMIE' Schlagzeile in Libération zum Erscheinen des Buches 'Hier findet man den Todd, den man seit vielen Jahren mit Vergnügen liest: den Wissenschaftler, der immer weiter nachfragt, den Spezialisten für lange Kontinuitäten ...' Patrice Trapier, Le Mond

<p>Emmanuel Todd, einer der prominentesten und meistdiskutierten Soziologen Frankreichs, arbeitet seit 1984 am Institut national d&rsquo;&eacute;tudes d&eacute;mographiques. Weltbekannt wurde er, als er 1976 in &quot;La chute finale&quot; den Zusammenbruch der Sowjetunion voraussagte. Seine B&uuml;cher &quot;Weltmacht USA. Ein Nachruf&quot; (2002) und &quot;Die unaufhaltsame Revolution&quot; (mit Youssef Courbage, 2008) wurden in Deutschland unmittelbar nach Erscheinen zu Bestsellern.</p>

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Leseprobe

Einleitung


Aus dem zeitlichen Abstand heraus ist inzwischen deutlich geworden, dass Frankreich im Januar 2015 von einer Art Massenhysterie erfasst wurde. Das Massaker an Redakteuren des Satiremagazins Charlie Hebdo, an Polizisten und Kunden eines jüdischen Supermarkts löste eine in der Geschichte des Landes einzigartige Reaktion aus. In der Hitze des Augenblicks über diese zu reden wäre unmöglich gewesen. Einhellig geißelten die Medien den Terrorismus, feierten den bewundernswerten Charakter des französischen Volkes und hoben die Freiheit und die Republik in den Himmel. Charlie Hebdo und seine Mohammed-Karikaturen wurden geheiligt. Die Regierung kündigte staatliche Zuschüsse an, um dem Wochenmagazin nach den Todesschüssen zur Wiederauferstehung zu verhelfen. Die von der Regierung zusammengerufenen Massen, die mit Bleistiften aus Papier als den Symbolen der Pressefreiheit durch ganz Frankreich zogen, jubelten Bereitschaftspolizisten und auf Dächern postierten Scharfschützen zu. Schwarz auf Weiß hatte das Logo «Je suis Charlie» – Ich bin Charlie – die Bildschirme, die Straßen und die Speisekarten in den Restaurants erobert. Mit einem großen C auf der Hand kamen Jugendliche aus dem Collège nach Hause. Sieben- oder Achtjährige, die ihre Grundschule verließen, mussten Rede und Antwort stehen, was sie von den schrecklichen Ereignissen hielten und wie wichtig es sei, frei Karikaturen zeichnen zu dürfen. Per Dekret verfügte die Regierung Sanktionen. Die Weigerung eines Gymnasiasten, die verordnete Schweigeminute einzuhalten, galt als stillschweigende Billigung des Terrors und als mangelnde Bereitschaft, sich der nationalen Gemeinschaft anzuschließen. Und wie Ende Januar bekannt werden sollte, setzten manche auf merkwürdige Maßregelungen: Acht- oder Neunjährige mussten sich bei der Polizei einem Verhör unterziehen. Ein Aufblitzen des Totalitarismus.

Ununterbrochen hämmerten TV und Presse den Franzosen ein, dass sie einen «historischen» Augenblick der Einhelligkeit erlebten: «Wir sind ein Volk, Frankreich ist im Unglück vereint, wiederauferstanden durch und für die Freiheit.» Und natürlich äußerte sich allenthalben eine obsessive Angst vor dem Islam. Politische Journalisten begnügten sich nicht mit der Versicherung der Imame und französischen Muslime, dass Gewalt inakzeptabel sei und es sich bei den Terroristen um gewissenlose Täter handele, die ihre Religion verrieten. Wie alle hatten sie die rituelle Formel «Ich bin Charlie» zu sprechen, die inzwischen zum Synonym für «Ich bin Franzose» geworden war. Zum Zeichen ihrer vollständigen Integration in die nationale Gemeinschaft mussten sie sich dazu bekennen, dass Blasphemie in Form von Mohammed-Karikaturen zur nationalen Identität gehörte. Sie war sogar Pflicht. Auf den TV-Bildschirmen erklärten Journalisten in pädagogischer Manier gelehrt den Unterschied zwischen dem (schlechten) Akt, der zum Rassenhass anstachelt, und der (guten) Verspottung der Religion. Es schmerzte, Jamel Debbouze, einer herausgehobenen Figur der französischen Kultur, zuzuhören, der sich auf TF1 dieser Weisung unterwarf. Er sei gekommen, um sich zum Islam zu bekennen, zu seiner Treue zur Jugend in den Vorstädten, seiner Liebe zu Frankreich, zu seiner nichtmuslimischen Frau und zu seinen Kindern aus gemischter Ehe, die die Zukunft Frankreichs darstellten. Freundlich und gequält versuchte er seinem Inquisitor zu erläutern, dass Blasphemie für einen Muslim schwierig sei, weil sie nicht zu seiner Tradition gehöre. Der Franzose jedoch darf nicht nur blasphemisch werden, er muss es sogar. Voltaire dixit. Ich fühlte mich unwillkürlich an die Verhöre erinnert, in denen die Inquisitoren nachhakten, ob bekehrte Juden wie echte Christen auch wirklich Schweinefleisch äßen.

Der Neustart von Charlie Hebdo mit staatlicher Unterstützung stellte den Höhepunkt der nationalen Reaktion auf die Tragödie dar. Wieder war auf dem Titelblatt Mohammed zu bewundern, diesmal mit penislanger Nase und einem zweigeteilten Turban, der an Hoden erinnerte. Diese elegante Zeichnung prangte auf einem Hintergrund aus Grün, der Farbe des Islam, aber einem stumpfen, matten Grün, so ganz anders als die prachtvollen und erhabenen Grüntöne, die muslimische Sakralbauten zieren.[1]

Jeder Historiker der Langzeitperspektive, der mit – bilderfreundlichen oder ikonoklastischen – religiösen Krisen ver-traut ist, muss zwangsläufig erkennen, dass eine historische Wende vorliegt, wenn der französische Staat der bildhaften Darstellung Mohammeds in Form eines Penis Kultstatus verleiht. Tatsächlich durchlebt Frankreich eine religiöse Krise in der Tradition all jener, die in seiner Geschichte und der Europas nach dem Untergang des Römerreichs aufeinander gefolgt waren. In diesem Punkt können wir uns durchaus den Medien anschließen, die die Demonstration vom 11. Januar als «historisch» bezeichneten: Diesen Begriff bemühten sie eindringlich, repetitiv, obsessiv und beschwörend – also auf religiöse Weise.

Damals lehnte ich jedes Gespräch und jede Debatte über die Krise ab.

Nicht hinterm Berg hielt ich mit meiner Meinung allerdings 2005, als in den Problemvierteln die große Revolte tobte. Damals machte ich deutlich, dass diese Jugendlichen, die allenthalben Autos in Brand setzten, absolut französische Wesensart verkörperten. Ihre offiziell strafbaren Aktionen waren für mich nur das Einfordern jener Gleichheit, die einen der beiden französischen Grundwerte darstellt. Auch hob ich das vorbildliche Verhalten der Polizei hervor, die sich mit dem Einsatz von Schusswaffen gegen die Kinder der Vorstädte ebenso zurückhielt wie einst im Mai 1968, als sich der Zorn der bürgerlichen Jugend entladen hatte. 2005 war Frankreich tolerant und frei, auch wenn die Krawalle natürlich und gerechtfertigterweise feindliche Reaktionen auslösten. Reden nützte. Weder die Regierung noch die Journalisten oder die Masse der Gesellschaft ließen sich zu Panikreaktionen hinreißen. Ein Hang zur Hysterie war nicht zu erkennen. 2005 waren wir als ein Volk noch zu bewundern. Emotionen blieben Privatsache. Die Älteren behielten ihre Ängste für sich, ohne dass dadurch die freie Meinungsäußerung unmittelbar bedroht wurde, was 2007 zur Wahl von Nicolas Sarkozy zum Präsidenten führte. Das Durchschnittsalter seiner Wähler lag höher als dasjenige von allen anderen rechten Präsidenten vor ihm.

Dagegen hätte im Januar 2015 eine kritische Analyse der Vorgänge kein Gehör gefunden. Wie hätte man sagen können, dass die nun wirklich nicht «bewundernswerte» Mobilisierung der Massen einen Mangel an Besonnenheit und Würde im Umgang mit der Tragödie offenbarte? Dass man Charlie Hebdo nicht in den Himmel heben musste, um deutlich zu machen, dass man den Terroranschlag verurteilte? Dass das Recht, die eigene Religion zu verhöhnen, nicht mit demjenigen auf Verhöhnung der Religion anderer zu verwechseln sei, vor allem nicht im schwierigen sozioökonomischen Umfeld der gegenwärtigen französischen Gesellschaft: Eine wiederholte systematische Blasphemie, die sich gegen Mohammed, die zentrale Figur der Religion einer schwachen und diskriminierten Gruppe, richtet, müsste unabhängig von dem, was die Gerichte meinen, als das bewertet werden, was sie ist: als Aufstachelung zum religiösen, ethnischen oder rassistischen Hass.

Wie gegen den Marsch der tugendhaften Ignoranz angehen, zu sagen wagen, dass die Demonstranten mit ihren Stiften aus Papier als Freiheitssymbole insofern die Geschichte beleidigten, als in antisemitischer und nationalsozialistischer Zeit Karikaturen von Juden mit dunkler Haut und Hakennase die Vorboten der physischen Gewalt waren? Wie ganz ruhig, und mit der gebotenen Zeit für eine Beweisführung, erklären, dass die französische Gesellschaft im Jahr 2015 keine Reflexion über den Islam, sondern eine Analyse über ihren globalen Stillstand benötigte? Wie deutlich machen, dass die Brüder Kouachi und Amedy Coulibaly durchaus Franzosen waren, Produkte der französischen Gesellschaft, und dass der Rückgriff auf die Symbole des Islam denjenigen, der sie benutzt, noch nicht zum echten Muslim machte? Dass die Attentäter nur die seitenverkehrte und in gewissem Sinn pathologische Widerspiegelung der moralischen Dürftigkeit unserer gewählten Führer waren, die sich eher um maximale Ruhestandsgehälter kümmern als darum, die Jungen vor exzessiver Ausbeutung durch Niedriglöhne zu schützen oder sie aus der marginalisierenden Arbeitslosigkeit zu holen?

Wie in der Hitze des Augenblicks darauf hinweisen, dass sich François Hollande mit seiner verordneten Großdemonstration in die Gefahr begab, die Brüder Kouachi zu glorifizieren und einer Tat, die eher...

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