Die Empfindlichkeit des Seins
Sind wir Frauen empfindlich? Das liegt vermutlich im Auge des Betrachters. Bist du empfindlich? Natürlich nicht, oder? Allein wenn man bedenkt, wie viel du organisieren kannst, wie viel Arbeit du dir aufladen kannst, wem du noch schnell einen Gefallen tust, wie viele Freundschaften du aufrecht erhältst mit Telefonaten, Ratschlägen und Taten. Von Empfindlichkeit keine Spur. Alles was uns abverlangt wird, wird erledigt, sofern es tatsächlich im realistischen Bereich ist.
Oftmals sind wir auch noch bereit, jenseits unserer Kraft zu gehen. Hast du schon einmal in deinem Leben von jemandem den Satz gehört: „Wie du das alles geregelt kriegst!“ oder „Du bist aber taff / tough!“. Spätestens jetzt weißt du dann, dass deine Außenwirkung anders ist, als das was du in deinem Inneren fühlst. Das kann den Vorteil haben, dass du dadurch bestätigt bekommst: Niemand erkennt so einfach deine Schwächen. Damit lässt es sich natürlich arbeiten. Unter Umständen kannst du diesen Vorteil nutzen und dich unter diesem Deckmäntelchen freier entwickeln. Du könntest innere Unsicherheit locker überspielen, weil du dir sicher sein kannst, dass, auch wenn du dich im Inneren fühlst als ob du gleich vor Aufregung umfällst, es nach außen hin niemand erkennt. Und wenn es dir niemand ansieht, dann brauchst du in Zukunft in solchen Situationen auch nicht aufgeregt zu sein, denn offenbar wirkst du lässiger als erwartet. Der gesamte Stress, die Aufregung zu vertuschen und damit in noch größere Aufregung zu geraten, fällt komplett weg! Das kann ganz schön sein.
Es kann aber auch große Nachteile haben: Es wird kaum jemand Rücksicht auf dich nehmen! Die Menschen um dich herum kommen gar nicht auf die Idee, dass es in dir drinnen eine unglaublich zarte und sehr sensible Seite gibt. Wie auch!?
Niemand vermutet, dass du auf jedes Wort achtest, das dir gesagt wird, besonders wenn die Worte dich betreffen. Du hast sozusagen die Goldwaage fest in dir installiert! Da kommt jedes Wort drauf und danach entscheidest du, ob diese Aussage neutral, positiv oder gar negativ bewertet wird. Nüchtern betrachtet ist es nahezu unmöglich, eine neutrale Aussage zu treffen, zumindest nicht bei empfindlichen Frauen. Positiv geht. Aber nur, wenn du innerlich bereit bist, das Positive daran zu glauben. Schnell vermutet die Frau, dass hinter einer positiven Aussage oder gar hinter einem Kompliment ein niederer Hintergrund steckt. Auch wenn sie sich möglicherweise im ersten Impuls darüber freut, gehen doch schnell einige Fragen durch den schönen Kopf: Warum sollte ihr jemand einfach ein Kompliment machen? Was soll das Kompliment bewirken? Der Absender des Kompliments möchte sicher entweder flirten oder im beruflichen Rahmen sie dazu motivieren, für den Absender eine Arbeit zu übernehmen.
Bitte beobachte dich selbst in deinem Alltag, wie du auf Komplimente reagierst. Nimmst du sie einfach an und freust dich oder bedankst dich dafür? Oder versuchst du, das Kompliment zu vermindern, indem du sofort abwinkst und etwas sagst wie: „Ach, dieses Kleid habe ich schon lange!“ oder noch besser: „Das Kleid war reduziert! Schnäppchen!“.
Viele Frauen neigen dazu, freundliche Worte mit wirklichen Killer-Aussagen zu zerschmettern und wundern sich im Anschluss, dass die Komplimente immer rarer werden. Das wiederum nehmen sie persönlich. Da geht ein ganz neues Themenfeld auf und sie fragen sich: „Bin ich es nicht wert, dass er mir auch einmal etwas Nettes sagt?“. Oder sie denken voller sentimentaler Sehnsucht: „Früher hat er sich noch Mühe gegeben und mir ab und zu ein Kompliment gemacht...“.
Manchmal entsteht der Eindruck, als ob wir Frauen es uns zur Mission gemacht haben, Gründe zu suchen, die uns bestätigen, dass wir nichts wert sind, dass wir von niemanden auf dieser Welt einfach angenommen werden und dass niemand unsere wirklich guten Seiten erkennen mag. Es ist wie eine Art Sammelbehälter, welcher immer wieder von uns angefüllt werden will. Oder sind es wir, die wir diesen Sammeleimer auffüllen wollen?
Nein! Sind wir natürlich nicht! Eigentlich suchen wir ständig nach Situationen, um genau diesen Eimer zu zerstören. Wir suchen nach Männern, die uns aus dem Defizit erretten! Wir suchen nach Männern, die unseren wahren Wert erkennen und uns einfach lieben! Nur, wie sollen die Jungs das machen, wenn wir ihnen noch nicht einmal ein Kompliment als Wahrheit abnehmen, sondern es sofort im Kopf in kleinen Schritten zerbröseln?
Nun kommen wir zur Rubrik „Alarm!“, „Höchste Sprengstoff-Gefahr!!“, „Negative Aussagen“, oder nennen wir es ganz modisch: „Kritik“.
Selbstverständlich haben wir den Anspruch an uns selbst, dass wir mit Kritik ganz konstruktiv umgehen können. Aber noch schöner ist es, wenn keiner etwas in diese Richtung sagt. Innerlich tut es uns weh und vor allem verfolgt es uns, manchmal über Wochen, Monate, Jahre! Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zugeben, dass selbst das Argument: „Na ja, es kommt aber auch auf die Formulierung an!“ nicht wirklich zieht. Kritik ist Kritik! Und sie hört sich zwar besser an, wenn sie auf die Art: „Liebling, du weißt, ich finde dich toll, aber könntest du bitte deine viele Kosmetik und das Schminkzeug nicht so großflächig im Bad verteilen?“ formuliert wird.
Aber was ist da deine erste und zweite Reaktion?
Ist es ein klares: „Hm, hat er vielleicht Recht? Muss ich doch mal ins Badezimmer gehen und schauen, wo ich überall etwas stehen habe. Ich räume es weg und er ist wieder glücklich.“. Vermutlich nicht! Ist die erste Reaktion in deinem Kopf: „Waaas? Der Herr verteilt in der gesamten Wohnung seine Socken und will mir etwas über meine Kosmetik im Bad erzählen?? Ich bleibe damit wenigstens in einem Raum, während seine Socken sich überall finden können!“. Welche Variante kommt dir bekannter vor?
Das sind die ersten Reaktionen, nicht schön, aber auch nicht von großer Bedeutung. Dramatischer hingegen sind die zweiten Reaktionen. Frau neigt ja zum Nachdenken! Und dieses weitere Nachdenken sieht in vielen Fällen so aus: „Wenn er das schon sagt, weil ihm im Bad zu viel Kosmetik ist, dann will er doch eigentlich etwas ganz anderes sagen. Vermutlich bin ich ihm zu viel und er merkt es erst an den Creme-Töpfen. Als nächstes ist es eine andere meiner Sachen. Eigentlich hat er genug von mir, wenn ihn solche Kleinigkeiten so beschäftigen, dass er es auch sagt. Sonst ist ihm doch auch alles egal.“.
Das ist die vordergründige zweite Reaktion, dummerweise gibt es aber auch noch eine, die im Hintergrund tickt und ganz selten auf den tatsächlichen Wahrheitsgehalt überprüft wird. Folgende Gedankenketten sind da am Werk: „Wenn ich jetzt schon auf meine Kosmetik im Bad angesprochen werde, dann bin ich ihm lästig. Es gibt keinen Ort, an dem ich willkommen und erwünscht bin. Nirgendwo darf ich so sein, wie ich tatsächlich bin. Auch nicht bei diesem Mann hier.“. Die Frau zieht sich innerlich zurück und baut auf der Stelle eine Art Schutzmauer auf. Sie nimmt sich in diesem traurigen, gekränkten Zustand einfach vor, dass sie zukünftig alle ihre Sachen eher auf kleinem Raum lässt und sich besser unsichtbar macht. Ab da wird die Angelegenheit brandgefährlich! Denn ab jetzt baut sie sich auch einen Filter ein. Ab da hört sie in jede Aussage rein, ob sie einen weiteren Hinweis findet, der ihre Vermutung bestätigt, dass sie gar keine Daseinsberechtigung in dieser Wohnung hat. Und wehe ihm, er äußert sich in der nahen Zukunft in einer ähnlichen Form über ihre Schuhsammlung (welche bekanntlich jede Frau braucht!) oder die Masse an Handtaschen (deren Kauf jeden Therapeuten ersetzt!).
Daraus entwickeln sich die klassischen Fälle von Explosionen, die für die Männer überhaupt nicht nachvollziehbar sind. Je nach Frauentyp kann statt der Explosion auch ein Schweigen der Dame daraus werden. Das wirklich Schlimme daran ist: Im Kopf der Frau ist es eine Tatsache. Sie stuft sich selbst als absolut neutral ein und beurteilt die Sachlage genau so. Dadurch hinterfragt sie Dinge nur noch im weitesten Sinne. „Womit habe ich das verdient?“. Ich möchte damit sagen: Sie leidet tatsächlich.
Der erfahrene Therapeut würde an der Stelle ein offenes Gespräch vorschlagen. Frag doch mal deinen Schatz: „Was möchtest du mir mit der Kritik sagen? Dass du mich nicht mehr erträgst oder nur meine Art, Creme-Töpfe überall zu verteilen?“.
Ich möchte wetten, dass dieser Mann aus allen Wolken fällt, da er erst gar nicht auf die Idee gekommen wäre, es könnte auch anders verstanden werden. Hätte er dich gemeint, dann hätte er es gesagt. Sagt er Kosmetik, meint er Kosmetik. Sagt er Schuhe, meint er Schuhe. Nicht mehr und nicht weniger.
Die Erfahrung zeigt, dass der Mann auf eine solche klärende Frage aus allen Wolken fällt und natürlich seine Aussage relativiert oder wenigstens beteuert, dass es ihm wirklich und wahrhaftig nur um die Kosmetik ging.
Tja, die Damen! Um das anzunehmen, da müsste man den Männern eben auch einfach glauben! Das funktioniert aber schon bei den Komplimenten nicht! Wie soll es denn in diesem Fall funktionieren?
Da...