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Wohnformen für Menschen mit geistiger Behinderung unter dem Aspekt der Inklusion und Selbstbestimmung

AutorKatrin Fischer
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl86 Seiten
ISBN9783656818649
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2014 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1,3, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Sprache: Deutsch, Abstract: Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es zu erörtern, ob das Wohnen tatsächlich zur Erfüllung des wahren Wesens des Menschen beitragen kann. Im Speziellen werde ich versuchen, die Frage mit Hinblick auf geistig behinderte Menschen zu beantworten. Nach der Ratifizierung der 'UN-Konvention über die Rechte für Menschen mit Behinderung' im Jahr 2009 ist Deutschland verpflichtet, diese Ziele mit Leben zu füllen, sprich, die Behindertenrechtskonvention (BRK) in deutsches Recht umzusetzen. Laut BRK kommt auch dem Bereich Wohnen für Menschen mit Behinderung große Beachtung zu. So sollen - gemäß Art. 19 der Konvention - behinderte Menschen selbstbestimmt und gleichberechtigt entscheiden, wo und mit wem sie wohnen möchten; das heißt, sie können unabhängig von ihrem Hilfebedarf ihren Lebensort und eine ihnen entsprechende Wohnform (z.B. Betreutes Einzelwohnen oder Wohnheim) auswählen. Meine langjährige Erfahrung in der Arbeit im Betreuten Einzelwohnen, bei unterschiedlichen Trägern in Berlin, ließ mich verschiedene konzeptionelle Umsetzungen des Betreuungsangebotes in der Eingliederungshilfe kennenlernen. Der Berliner Senat hat zwar eine einheitliche Leistungsbeschreibung für das Hilfeangebot im Bereich 'Betreutes Einzelwohnen für Menschen mit geistiger, körperlicher und/oder mehrfacher Behinderung' geschaffen. Bei der Umsetzung des Angebotes, in der breiten und mitunter schwer überschaubaren Landschaft der Behinderten- und/oder heilpädagogischen Hilfen, müssen wir aber noch immer mit den Nachwirkungen längst überwunden geglaubter Leitprinzipien und Menschenbilder bei der Umsetzung institutioneller Hilfen kämpfen. Aus meiner Tätigkeit im Betreuten Einzelwohnen möchte ich ein Erlebnis besonders hervorheben: Die gegen den Willen des Betroffenen geplante Unterbringung eines geistig behinderten älteren Mannes in ein Wohnheim für Demenzkranke. Nur durch meinen engagierten, mitunter zermürbenden Einsatz konnte eine Fehlplatzierung im letzten Moment verhindert werden. Letztlich war es diese Erfahrung, die mich für das Thema der vorliegenden Arbeit und für die Bedeutsamkeit der selbstbestimmten Wohnortwahl, sensibilisiert hat.

seit 2014 Dozentin an Berliner Fachschulen für Sozialpädagogik und Heilerziehungspflege

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Leseprobe

2 Begriffe und Theoretische Grundlagen


 

2.1 Geistige Behinderung


 

Die besondere Problematik des Begriffes „geistige Behinderung“ liegt darin, dass es sich nicht um irgendeine psycho – psychische Beeinträchtigung handelt, wie z.B. die Unfähigkeit zu hören oder zu sehen. Die mit dem Begriff bezeichneten Menschen waren im Lauf der Geschichte fast immer belastenden Vorurteilen und Stigmatisierungen ausgesetzt. Diese negative Sonderstellung drückte sich in Bezeichnungen wie Idiotie, Kretinismus oder Schwachsinn aus – und hatte die Exklusion oder gar die totale Eliminierung der Betroffenen aus der Gesellschaft zur Folge.[14]

 

Der Begriff „Geistige Behinderung“ drückt etwas Negatives, ein Defizit, ein Handicap, ein Manko aus, noch dazu eines, das gesellschaftlich erheblich stigmatisiert, weil damit eine intellektuelle Unzulänglichkeit beschrieben wird. Dadurch kann der Eindruck entstehen, alles was diesen Menschen betrifft, sei defizitär.[15] Das Unzulängliche tritt so sehr in den Vordergrund, das es für den ganzen Menschen bestimmend wird. In den Hintergrund tritt dagegen alles, was letztlich den Menschen in seiner Gesamtheit zum Menschen macht, hinsichtlich seiner Entwicklungschancen, seiner Fähigkeiten, Bedürfnisse, seine Lebensinteressen und seinen Wert und seine Würde als Menschen.[16]

 

Ein wichtiger Fortschritt war, an Stelle der pauschalen Substantivierung „Geistigbehinderte“ den Terminus „Menschen mit geistiger Behinderung“ einzuführen. Damit sollte zum Ausdruck kommen, dass die geistige Behinderung nur eine bestimmte Eigenart dieses Menschen ist und der Mensch primär ein MENSCH ist. Ein Mensch mit einer geistigen Behinderung ist nicht nur behindert – und der pädagogische Anknüpfungspunkt liegt nicht in der Behinderung, sondern in seinem zu verwirklichendem Potenzial.[17]

 

2.1.1 Geistige Behinderung – Begrifflichkeit und Klassifikation


 

Geistige Behinderung kann als ein komplexes Phänomen betrachtet werden, dass sich aus unterschiedlichen Komponenten und Bestandteilen zusammensetzt, die in jedem Individuum auf eigene Weise miteinander verbunden sind. Die Ausprägung einer geistigen Behinderung ist immer ganz individuell. Verschiedene Wissenschaftszweige setzen sich auf unterschiedliche Herangehensweise mit diesem Phänomen auseinander. Soziale und individuelle Wirkfaktoren geben in ihrem Zusammenspiel ein Gesamtbild dessen ab, was sich als geistige Behinderung in einer bestimmten Ausformung manifestiert.[18] Alle Bestrebungen, die soziale Eingliederung von Menschen mit geistiger Behinderung durch weniger stigmatisierende, defizitorientierte Begrifflichkeiten (wie „geistige Behinderung“) zu unterstützen und durch einen euphemistischen Terminus zu ersetzen, sind geschichtlich gesehen bisher gescheitert.

 

Die Bundesvereinigung „Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V.“ führte 1958 den Begriff „geistig behindert“ in den offiziellen Sprachgebrauch ein. Begünstigt durch die Tatsache, dass Eltern geistig behinderter Kinder diesen Begriff prägten, und nicht etwa „bloße Fachleute“[19], konnte er sich in allen Fachbereichen durchsetzen.[20] Der Deutsche Bildungsrat verwendete 1973 folgende Definition des Begriffs:

 

 „Als geistig behindert gilt, wer infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so sehr beeinträchtigt ist, dass er voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf.“[21]

 

Man kann nicht von der geistigen Behinderung und auch nicht von einer zugehörigen einheitlichen Persönlichkeitsstruktur sprechen. Es gibt Menschen mit einer geistigen Behinderung, die keineswegs als solche gleich erkennbar ist, aber auch solche, bei denen die Behinderung auch optisch sichtbar wird.[22] Die geistige Behinderung eines Menschen ergibt sich letztlich aus dem Zusammenwirken medizinisch beschreibbarer Störungen und verschiedenen sozialen Faktoren.

 

So beruht jede geistige Behinderung auf einer physischen Basis, ursächlich auf einer Schädigung des Gehirns. In der Folge davon gibt es Auswirkungen auf die unterschiedlichsten mentalen und körperlichen Funktionen.

 

Eine geistige Behinderung wird nach dem allgemeinen Intelligenzniveau und nach dem Grad der sozialen Adaptabilität psychometrisch und klinisch definiert. Nach dem Klassifikationsschema der ICD – 10 wird eine Intelligenzminderung als

 

„ein Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung geistiger Fähigkeiten definiert; besonders beeinträchtigt sind Fertigkeiten, die sich in der Entwicklungsperiode manifestieren und zum Intelligenzniveau beitragen, wie Sprache, Kognition, soziale und motorische Fähigkeiten. Eine Intelligenzminderung kann allein oder in Kombination mit jeder anderen körperlichen oder psychischen Störung auftreten“.[23]

 

Die Klassifikation nach ICD – 10 unterscheidet zwischen einer leichten, mittelgradigen, schweren und einer schwersten Form der geistigen Behinderung (Tab. 1).

 

 

Tab. 1 : Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD – 10, Kapitel V (F), WHO 2000)

 

Letztlich ist eine auf statistischen Messungen beruhende Einteilung eine willkürliche, deren Wert eher einer Orientierung dient und die nicht starr angewendet werden sollte. Bei Intelligenzminderung treten in der Regel auch Verhaltensstörungen (psychische Störungen) auf. Dieses Zusammenwirken ist nach dem ICD-10 mit geistiger Behinderung gleichzusetzen. Im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung weisen intelligenzgeminderte Personen drei- bis viermal so viel zusätzliche psychiatrische Störungen auf. Beim Anpassungsverhalten liegen in der Regel Beeinträchtigungen vor.[24]

 

2.1.2 Kritik am Begriff „Geistige Behinderung“


 

Die Definition des Begriffes „Geistige Behinderung“ bereitet besondere Schwierigkeiten, wenn man die unterschiedlichen Behinderungsarten in Betracht zieht, begründet dadurch, dass es sich meist nicht um eine einzelne beeinträchtigte Funktion handelt, sondern um eine komplexe Behinderung, die sich auf den gesamten Menschen und seine Persönlichkeit auswirkt.

 

Dabei erscheint vor allem das Adjektiv „geistig“ fragwürdig. Wie definiert man in diesem Zusammenhang das Wort geistig? In der deutschen Sprache hat das Wort „Geist“ eine vielfache Bedeutung. Sie reicht von „Verstand“ über „Gespenst“ und „Weingeist“ bis zum „Weltgeist“.[25] Die Elternvereinigung „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ (1958) handelte – vor dem Hintergrund der damaligen gesellschaftlichen Situation – aus einer gutgemeinten Absicht heraus. Wenn man vom „Geist“ als der dem menschlichen Fühlen und Denken zugrundeliegenden Kraft ausgeht, so kann er eigentlich nicht behindert sein. Also greift auch die Gleichsetzung von „Geist“ mit Intelligenz, kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten zu kurz.[26]

 

Betroffene, aber auch einige Fachleute wie z.B. GEORG FEUSER, fordern aufgrund seiner stigmatisierenden Wirkung einen vollständigen Verzicht auf den Begriff. FEUSER drückt dies sehr radikal aus, indem er sagt: „Geistigbehinderte gibt es nicht!“ Der Begriff bezeichnet ihm zufolge lediglich eine gesellschaftliche und fachliche Realität, keinesfalls aber die Individualität des Menschen, der mit dieser Beschreibung gemeint ist. FEUSER sieht in diesem Klassifizieren eine enge Verbindung zum sozialdarwinistischen und rassistisch-eugenischen Denken. Letzteres liegt vor, wenn eine an einem Menschen als klassifizierbar wahrgenommene Erscheinung dazu führt, einen Rückschluss auf sein Wesen und seine Eigenschaften vorzunehmen. In einem weiteren Schritt käme es zu einer Bewertung durch die dominierenden gesellschaftlichen Normen.

 

Während dieses Prozesses kommt es letztlich zur Feststellung der Andersartigkeit, was FEUSER als verheerend erachtet.[27] Das Netzwerk People First Deutschland e.V. empfiehlt und verwendet daher die Begrifflichkeit „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ (siehe Kapitel 2.3.2).

 

2.1.3 Behinderungsbegriff der Behindertenrechtskonvention


 

Die UN-BRK enthält keine konkrete, abschließende Definition des Begriffs Behinderung. Sie konkretisiert den persönlichen Anwendungsbereich der Konvention und beschreibt das ihr zu Grunde liegende Verständnis von „Behinderung“. In der Präambel heißt es:

 

 „…dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs -und umweltbedingten Barrieren entsteht.[28]

 

Wer zur Gruppe von Menschen mit Behinderungen gezählt wird, ist in Artikel 1, Satz 2...

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