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E-Book

Zeuge vor Ort

Korrespondent in der DDR '89/90

AutorPeter Brinkmann
Verlagedition ost
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783360510273
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Peter Brinkmann, zu dieser Zeit BILD-Journalist in Ost-Berlin stellte Günter Schabowski die entscheidende Frage, die zum Fall der Mauer führen sollte: Ab wann gilt die neue Reiseregelung? Schabowski stotterte: Unverzüglich, ab sofort. Der in der DDR akkreditierte Westjournalist, Mitglied der SPD seit den 60er Jahren, war im letzten Jahr des Landes Zeuge der dramatischen Veränderungen. Brinkmann sprach mit allen wichtigen Personen, berichtete von den wichtigen Schauplätzen und wurde somit selber Teil der Geschichte und exklusiver Zeuge des Umbruchs und Untergangs der DDR. Seine Erinnerungen sind ein Geschichtsbuch der lebendigen Art.

Peter Brinkmann, Jahrgang 1945, Bundeswehroffizier, Studium von 1968 bis 1975, danach Journalist bei der 'Welt' in Bonn, Wirtschaftsredakteur bei 'Bild' in Hamburg, im Herbst 1989 als erster Korrespondent der Bild in der DDR-Hauptstadt akkreditiert. Später Chefkorrespondent des 'Berliner Kurier' und Moderator bei TV Berlin.

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Leseprobe

Nach der Pressekonferenz

Bereits 19.05 Uhr jagt Associated Press (AP), die amerikanische Nachrichtenagentur mit Hauptsitz in New York, die Nachricht hinaus: »DDR öffnet Grenze«.

Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) brütet eine halbe Stunde darüber, ob man das so sagen könne, denn eine solche Aussage hatte Schabowski eigentlich nicht gemacht. 19.41 Uhr verbreitet sie jedoch auch: »Die DDR-Grenze zur Bundesrepublik und nach West-Berlin ist offen«.

Die Tagesschau der ARD 20 Uhr bringt als Spitzenmeldung die von Schabowski verkündete neue Reiseregelung und untertitelt die Nachricht mit dem Schriftzug: »DDR öffnet Grenze«.

Von allem bekomme ich nichts mit.

Ich eilte unmittelbar nach Schabowskis Stotterarie hinaus, um mit meinem Funktelefon Tiedje in Hamburg anzurufen. Doch ich sitze mit meinem schweren Kasten im Funkloch und bekomme im C-Netz keine Verbindung zur Redaktion. Das hätte ich mir denken können. Auch die hilfsbereiten Damen von der Telefonvermittlung im Pressezentrum, die gleich neben dem Saal ihren Dienst verrichten, schaffen es nicht, mich konventionell durchzustöpseln. Es ist kein Durchkommen nach Westdeutschland. Das liegt nicht etwa daran, dass alle Westkorrespondenten telefonieren, sondern weil es nur ganz wenige Leitungen zwischen der DDR und der BRD gibt.

Ich fahre in mein Hotel, drücke dem Mann an der Rezeption fünfzig D-Mark in die Hand und bitte ihn, mir ein Taxi für die ganze Nacht zu besorgen. Dann eile ich in mein Zimmer, ziehe die wärmste Hose an, die ich mitgebracht habe und streife ein zweites Hemd und einen Pullover über das Hemd, was ich bereits trage. Schließlich zwänge ich mich in meine Lederjacke. Auch wenn es vermutlich heiß werden wird in dieser Nacht, sind die Temperaturen auf dem Thermometer ziemlich niedrig. Ich bin kein Hypochonder, aber man muss das Schicksal ja nicht unbedingt herausfordern.

Gegen 20 Uhr steht das Taxi vor dem Hotel, auf dem Asphalt liegt eine neblige, feuchte Ruhe. Dem Fahrer drücke ich einen Schein in die Hand und sage, er solle zur Mauer fahren. Und aufpassen, dass wir in keinen Stau geraten.

Er schaut mich ungläubig an. Der Blick sagt alles: Wat, Stau? Um diese Zeit? Und laut: »Zu welchem Grenzüberjang soll ick Se schoffieren?«

»Erst einmal Bornholmer Straße«, sage ich.

Wir fahren die Schönhauser Allee hinauf, der Prenzlauer Berg schläft. Auch am Grenzübergang ist alles ruhig. Ich steige aus und frage einen Grenzer, ob er Meldungen oder Befehle bekommen habe, schließlich gebe es eine neue Reiseverordnung. Der Offizier schweigt, wie er es gewohnt ist. Da ich nicht nachgebe, quält er sich schließlich ein »Nee« heraus und »Keine besonderen Vorkommnisse«.

Ich steige wieder ins Taxi. »Heinrich-Heine-Straße«, sage ich. Auch am Übergang nach Kreuzberg, über den ich vor wenigen Stunden erst eingereist war, herrscht tote Hose.

Wir fahren weiter zum Ausländerübergang in der Friedrichstraße, dem berühmten Checkpoint Charly. Nichts!

Ich schwitze in meiner dicken Gewandung. Es ist auch Angstschweiß dabei. Sollte ich mich so geirrt haben? Na, wenigstens hatte ich in Hamburg nicht die Pferde scheu gemacht, tröste ich mich, und unternehme einen letzten Versuch.

»Noch einmal Bornholmer Straße.«

»Da waren wir doch schon«, sagt der Taxifahrer genervt, legt aber trotzdem den Gang ein. Bezahlt ist bezahlt.

Was ist denn hier plötzlich los?! Ich sehe Massen, die sich wie am 1. Mai auf der Karl-Marx-Allee vorwärts in Richtung Grenze bewegen. Ich lasse halten, wir kommen ohnehin nicht weiter. »Warten Sie bitte«, sage ich, und tauche in den Strom ein. Der staut sich offenkundig vorn an der Brücke oder besser: vor den Grenzanlagen davor. Ich drängle mich bis vor an den Schlagbaum, dahinter liegen versetzt die Betonriegel, die man in Schlangenlinien umfahren muss, wenn man hinüber will. Die Fußgänger, so es sie gibt, müssen durch die Baracken zur Personenkontrolle. Es gibt dort aber keine Passanten. Nur einige tausend Ostberliner, die sich fast bis hinüber zur Schönhauser stauen.

Ich sehe die Grenzer, die merklich unruhig sind. Einige Offiziere eilen nervös hin und her. Sie sind ganz offensichtlich von der Situation überrascht, was darauf hindeutet, dass sie noch immer keine Befehle bekommen haben. Ich fühle mich auf einmal unwohl, um nicht zu sagen: Ich habe Angst. Was passiert, wenn die durchdrehen? Haben sie nicht Weisung, jeden Grenzdurchbruch zu verhindern – notfalls mit der Waffe? Seit 28 Jahren wurde an dieser Grenze geschossen, waren Menschen gestorben. Und selbst wenn diese Soldaten Nerven behielten: Die Massen schoben und drücken von hinten. Überall auf der Welt waren schon Menschen bei Aufläufen, in Fußballstadien und an Pilgerstätten zu Tode gedrückt und getrampelt worden. Warum nicht auch hier?

Die Leute vorn rütteln am Drahtgitterzaun, heben ihn aus den Halterungen und schieben ihn beiseite, um nicht daran zerquetscht zu werden. Bloß weg hier, denke ich, und wende mich zum Gehen. Plötzlich gibt es einen Schrei. Er steigt aus Hunderten Kehlen und rollt nach hinten fort. Was ist das? Ich sehe, wie ein Schlagbaum in den nächtlichen Himmel steigt und sich die Menschen in Bewegung setzen. Es ist, als habe man einen Stöpsel aus der Badewanne gezogen. Die Massen drängen, laufen, schreien und rennen auf die Brücke zu.

Offensichtlich hat jemand Weisung erteilt, den Übergang zu öffnen und die Kontrollen einzustellen …

Alles strömt nach Westen, ich bin der Einzige, der gegen den Strom schwimmt und sein Taxi sucht.

Jahre später spreche ich mit dem Mann, dem wir die einzigen bewegten Bilder von diesem Moment verdanken.18 Georg Mascolo war mit seinem Team von Spiegel-TV in Ostberlin unterwegs, weil sie auf der Pressekonferenz mit Schabowski keinen Platz mehr bekommen hatten, wenngleich Mascolo sagt, er habe nicht dort sein wollen, »wo die Funktionäre waren. Ich wollte da sein, wo die normalen Menschen waren: in der Kneipe, auf der Straße und in der Nähe der Grenze. Also da, wo Mauer und Menschen dicht beieinander waren.«

Nunja, eine bessere Begründung für einen Kneipengang lässt sich in jener Nacht kaum finden.

»Ich war mit dem Team – Kameramann Rainer März und seinem damaligen Assistenten Germar Biester – in eine Kneipe an der Bornholmer Straße gefahren und wir nahmen die Bilder auf, die dann exklusiv um die Welt gingen. Niemand sonst hatte sie gemacht. Das wussten wir aber an dem Abend nicht.«

So etwas nennt man in der Tat Journalistenglück, was ja bekanntlich immer eine Verbindung von Zufall und Instinkt ist. »Und das hatten wir nur deswegen, weil wir nicht an der Hotel-Bar auf ein Ereignis gewartet haben, sondern uns in eine Kneipe unweit der Mauer in der Bornholmer Straße bewegt hatten«, sagt Mascolo und hat damit nicht unrecht.

Wurde in der Kneipe über die Pressekonferenz geredet?

»An der Theke gab es kein anderes Thema als Schabowskis Erklärung. Allerdings waren auch die DDR-Bürger so ratlos wie wir, was die Aussage bedeutete. Als die ersten entschieden, es herauszufinden, indem sie einfach an die Grenze marschierten, schlossen wir uns an. Schließlich standen wir direkt am Schlagbaum – und prompt gab es Ärger mit den Grenzern. Um die Szenerie zu filmen, überstiegen wir die Sperre und standen auf dem Übergang. Einer verlangte die Pässe und drohte, uns in den Westen auszuweisen. Ich stritt noch mit ihm herum, als neben uns der Riegel des Schlagbaums gelöst wurde. Die Menschen drängten hindurch.«

Das war das erste Loch in der Mauer, urteilte Mascolo mit dem Wissen von heute. Denn auch an den Grenzübergängen Oberbaumbrücke, Friedrichstraße, Sonnenallee und anderswo passierten Tausende in dieser Nacht die Grenze. Aber wohl kaum derart spektakulär und geschichtsträchtig wie an der Bornholmer Straße, was nicht zuletzt den Aufnahmen dieses Kamerateams geschuldet ist. Und natürlich den nachgelassenen Zeugnissen. Es gab zum Beispiel – wie überall – einen Kommandeur der Grenzübergangsstelle, GÜST genannt. An der Bornholmer Straße war das Oberstleutnant Harald Jäger, der in den Medien alsbald zum Helden hochstilisiert wurde. Auf sich allein gestellt, hatte er die gültige Dienstvorschrift ignoriert und entschieden, den Übergang zu öffnen.

Jäger musste sich dann von einem Unterstellten sagen lassen: »Tja, das war’s denn wohl!«

»Was meinst du?«

»Na, was meine ich wohl? Das war’s mit der DDR.«19

Das traf hundertprozentig zu!

Nach etlichen Minuten Suche finde ich mein Taxi wieder.

»Checkpoint Charly«, sage ich atemlos und werfe mich auf den Sitz. Der Wolga quietscht und ächzt und setzt sich in Bewegung. Auf der Straße sind mehr Menschen unterwegs als während der Rushhour.

Am Grenzübergang in der Friedrichstraße warten rund 50 Menschen vor dem Tor, etwa zehn PKW stehen vor dem Schlagbaum. Eine dunkle Limousine dreht eine Schleife, drinnen sitzen sowjetische Offiziere, die durch die Scheiben starren. Dann fahren sie wieder ab.

Ich steige aus und gehe auf den Grenzoffizier zu, der sich mir in den Weg stellt. Ich bin kühn angesichts der soeben in der Bornholmer Straße getätigten Beobachtungen und herrsche ihn an: »Machen Sie auf – die Grenze ist überall offen!«

Er hält das für eine Provokation.

»Rufen Sie doch bei Ihrem Kollegen in der Bornholmer Straße an.« Ich verlege mich aufs Verhandeln.

Der Uniformierte...

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