Warum spielen wir? – Geschichte und Funktion des Spielens und seine Rolle in der Sozialisation
Der Wunsch nach spielerischer Betätigung wohnt dem Menschen bereits seit mehreren tausend Jahren inne. Steinzeitliche Höhlenmalereien, deren Entstehung auf die Zeit zwischen 3.000 und 20.000 v. Chr. datiert wurden, zeigen ihre Bewohner bereits beim geselligen Spiel, was darauf schließen lässt, dass die Entstehung des Spielens mit dem Aufkeimen menschlicher Zivilisation in Zusammenhang steht. Mit der anthropologischen Entwicklung ging adäquat auch die Fortentwicklung der spielerischen Betätigung einher. Seit der Antike, in der das Spiel mitunter als Erfindung der Götter zelebriert wurde, entstand bis in die Moderne hinein eine breite Palette von Spielformen. Würfel-, Karten-, Brett-, Ball- und Geschicklichkeitsspiele sind neben Gesellschafts-, Kampf-, Magie-, Glücks- und Rollenspielen bis heute von Bedeutung für den Menschen. Die seither mit der industriellen und technischen Evolution entstandenen Möglichkeiten medialer Adaption gipfelten schließlich in der erfolgreichen Verbreitung vielfältiger Video-, Konsolen- und Computerspiele. Um zu verdeutlichen, warum das Spielen von derart essentieller Bedeutung für den Menschen ist, ist es sinnvoll, sich zunächst näher mit dem Begriff des Spiels auseinanderzusetzen. Der Kulturanthropologe JOHAN HUIZINGA beschrieb es als
„eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘.“[29]
Er verstand es somit als eine grundlegende menschliche Tätigkeit, die in erster Linie Kreativität sowie, besonders im Wettkampf, Energie und Kraft freizusetzen vermag, darüber hinaus aber auch über das Potenzial verfügt, verfestigte Strukturen zu durchbrechen und Innovation hervorzubringen.[30] Viele Untersuchungen auf dem Gebiet der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften erweitern diese Erklärungsansätze um eine Reihe von Funktionen, nach denen das Spielen mit der Erfüllung ureigener Bedürfnisse des Menschen und seiner, besonders in den Phasen der Pubertät bzw. der Adoleszenz entscheidend voranschreitenden, individuellen Entwicklung auf kognitiver, emotionaler und psychosozialer Ebene in Zusammenhang steht.
ROUSSEAU erkannte bereits im 18. Jahrhundert, dass Kinder im Spiel Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit trainieren.
GUT MUTHS warnte davor, das Spielen zu unterbinden, da man sonst „mit negativen Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Kindes rechnen [muss:] sie werden störrisch, unduldsam und eigensinnig.“ Ein seitdem wiederkehrender Erklärungsansatz ist die Theorie der Katharsis (siehe Suchtspezifische Veränderungen im sozialen Netzwerk), nach der das Spiel als Verarbeitungsmethode überschüssiger geistiger und körperlicher Energie verstanden wird. Heute ist man sich in der Fachwelt vorwiegend darüber einig, dass spielerische Aktivität vor allem der geistigen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter dienlich ist.[31]
Nach ERIKSONs Stufenmodell psychosozialer Entwicklung haben Kinder bis zum Eintritt in die Phase der Pubertät vorwiegend partizipative Bedürfnisse. Sie wollen anderen zuschauen, das Gesehene selbst ausprobieren und einfach am Geschehen teilhaben. Sie drängen nach Möglichkeiten der Teilhabe, nach Lösungskonzepten für die Herausforderungen der sie umgebenden Welt. Sie geraten in diesem Bestreben jedoch auch immer wieder in Situationen, die sie (noch) nicht autonom lösen können, was sie emotional mit der Erfahrung von Unzulänglichkeit oder Minderwertigkeit konfrontiert. Mit dem Eintritt ins Jugendalter gewinnen die Ausbildung einer eigenen Identität, deren Modifikation und die Suche nach der einzunehmenden sozialen Rolle an Bedeutung. Jugendliche wollen – nicht zuletzt aufgrund der Beschränkungen, denen sie sich bis dahin immer wieder ausgesetzt sahen (z.B. Machtgefälle zwischen Eltern und Kind) – vor allem Autonomie erfahren und diese auch erproben. Darüber hinaus ist die Pubertät typischerweise eine Zeit des Bruchs mit den Normen und Werten des Elternhauses (schrittweise Ablösung) und eine Zeit gravierender körperlicher, psychisch-emotionaler sowie gesellschaftlich-sozialer Veränderungen.
Spiele bieten dem Jugendlichen die Möglichkeit, seine Entwürfe sozialer Rollen und Identitäten in einer Art vor-realem Testlauf auszuprobieren, das heißt, deren Funktionalität und Akzeptanz in einem geschützten (weil noch nicht durch die Gefahr ernsthafter Sanktionen problematisierten) Rahmen umzusetzen und sie gegebenenfalls zu modifizieren. Insbesondere moderne Mehrspieler-Computerspiele bieten ihren Nutzern meist vielfältige Möglichkeiten zum selbstbestimmten Handeln. „Hier gewinnen sie einen Spielraum, in dem sie das Bewusstsein haben dürfen, Macht und Herrschaft durch Kontrolle ausüben zu können. Die Spieler nutzen die Spiele zwar [auch] als Mittel gegen Langeweile und mangelnde Anregungen in ihrer Lebenswelt. Im Wesentlichen dienen sie jedoch zur Selbstmedikation gegen Misserfolgsängste, mangelnde Lebenszuversicht und gegen das Gefühl, ihr eigenes Leben nicht beherrschen und kontrollieren zu können.
Damit erhält der Computer die Funktion eines Mister feel good: Die intensive Auseinandersetzung mit den Spielen soll ein gutes Gefühl machen.“[32]
Eine besondere Rolle im Prozess der Identitätsentwicklung spielt darüber hinaus die Gruppe der Gleichalterigen, die so genannte Peer Group. Sie ist eine wichtige Instanz im Sozialisationsprozess des Jugendlichen, da er sich an ihr orientieren (zum Beispiel hinsichtlich der allgemeinen Gruppenregeln und –standards) und damit nach und nach vom Elternhaus ablösen kann.
Außerdem dient sie ihm als Bezugsgruppe in Belangen, über die im familiären Gefüge kein Austausch erfolgt oder erfolgen kann. Erfahren Medien in der Peer Group große Akzeptanz bzw. Befürwortung, so wirkt sich das entscheidend auf die eigene Neigung, dieses Medium zu nutzen, aus (vgl. Abb. 1.1.a).
Abb. 1.1.a Einfluss der Peer Group
Es bilden sich Gruppen von Gleichgesinnten. Mit ihnen entstehen völlig neue, über das Medium Computerspiel verbundene, Gemeinschaftsstrukturen. Gespielt wird nicht mehr im realweltlichen Verbund einiger weniger, sondern in einer virtuellen Spielwelt über teils riesige Netzwerke (siehe LANs als multifunktionale Interaktionsräume). „Natürlich bedient sich solch jugendliche Performance der jeweils neuesten Technik, das gehört zum jugendlichen Selbstverständnis und war schon beim Film und Radio so. (…) Insofern sind Jugendliche immer Pioniere von Medien gewesen (…). Deshalb apostrophieren Jugendforscher Medien nicht nur als wichtige Faktoren der Sozialisation für Jugendliche, also als Mittler zwischen dem jugendlichen Individuum und der Gesellschaft, sondern zugleich auch als Vehikel jugendlicher Selbstsozialisation, mithin als Katalysatoren der Findung und Profilierung des Jugendlichen als zeitgemäßes Individuum im sozialen Hier und Jetzt.“[33]
SÜSS verweist zudem auf einen Entwicklungstrend unter vor allem älteren Jugendlichen, ihre soziale Identität aus einer Vielzahl medialer Vorbilder zusammensetzen (so genannte Patchwork-Identität), was sich in „sehr individualisierten Formen von Medienpräferenzen und Selbstinszenierungen“ ausdrücken kann.[34] Diese Entwicklung kann gegebenenfalls als Reaktion auf eine charakteristisch postmoderne Orientierungslosigkeit gedeutet werden.
KRAUS sieht in Umbruchserfahrungen – wie etwa dem Gefühl des Nichteingebundenseins, dem Erfahren des Gültigkeitsverlusts traditioneller Identitätsbildungsschemata, dem Wandel der Geschlechterrollen und der sozialen Verhältnisse oder auch der Erfahrung der Pluralisierung der Lebensformen – Auslöser jugendlicher Identitätsdiffusion, die sie dazu bewegen, über die verfügbaren Medien nach für sie relevanten Schemata der Identitätsbildung zu suchen und in geschützten Umgebungen experimentell eigene Identitätsentwürfe anzuwenden.[35]
Die Stellung von Computerspielen in der heutigen Gesellschaft
Die JIM-Studie 2008 ergab, dass – unabhängig von Alter, Geschlecht und Bildungsstufe – mittlerweile zwischen 94 und 99% aller Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren mindestens einmal pro Monat einen Computer nutzen. Besonders das Internet ermöglicht den Nutzern ein breites Spektrum von Möglichkeiten in den Bereichen Kommunikation und Unterhaltung.
Mehrspielerfähige Onlinespiele werden von 33% der Jungen und 5% der Mädchen praktiziert, Spiele für einen Spieler zu 24 bzw. 7%. Aber auch offline spielen 48% der Jungen und 13% der Mädchen Computerspiele. Die von den Spielern angegebene Nutzungsdauer dieses Mediums variiert zwischen 91 und 120 Minuten bei den Jungen bzw. 47 und 55 Minuten bei den Mädchen. In anderen Studien zum Medienkonsum Jugendlicher zeichnet sich eine weit umfangreichere Nutzung von Computerspielen ab. Besonders unter Nennung der Spielgenres der Online-Rollenspiele oder gewalthaltiger Schießspiele ist immer wieder von...