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E-Book

Zuhause in Fukushima

Das Leben danach: Porträts

AutorJudith Brandner
VerlagVerlag Kremayr & Scheriau
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783218009164
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Kei Kondo hat seinen Bio-Bauernhof verloren. Sadako Monma musste ihren Kindergarten schließen. Der Arzt und Diplomat Ryohei Suzuki kehrte nach der Katastrophe nach Fukushima zurück, um im dortigen Krankenhaus zu arbeiten. Judith Brandner erzählt in diesem Buch in sensiblen Porträts, wie sich die Katastrophe von Fukushima auf die dort lebenden Menschen auswirkt. Manche haben aus diesem gravierenden Einschnitt neue Energien und Lebenskraft geschöpft, andere sind nahe daran, an der Situation zu zerbrechen. Sie sind Flüchtlinge im eigenen Land, persönliche und berufliche Einschränkungen gehören heute zu ihrem Alltag. Manche sind KünstlerInnen, die ihre Bekanntheit dafür einsetzen, um den Menschen in der Region zu helfen. Auch Journalisten sind unter den Porträtierten, einer arbeitet heute als Undercover-Journalist, u.a. als Arbeiter im Kraftwerk Fukushima, um über die tatsächliche Situation berichten zu können. Es sind Geschichten, die man nicht so schnell vergisst.

Judith Brandner, Japanologin, Journalistin und Autorin. Seit 1984 Radiojournalistin und Radiomacherin, hauptsächlich für ORF/Ö1, aber auch für SRF/DRS2, SWR2, Deutschlandradio und HR. Moderiert regelmäßig die Ö1-Sendung 'Radiokolleg' und gestaltet Sendungen für Wissenschaft, Politik, Kultur und Feature. Inhaltliche Schwerpunkte: Japan, Gesellschaft, Zeitgeschichte/Aufarbeitung der NS-Zeit.

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Leseprobe

F U K U S H I M A


DIE BIOBÄUERIN SACHIKO SATO


Wir sitzen in ihrem ungeheizten Büro, ebenerdig in einem abweisenden Betonbau in Fukushima-Stadt, und wärmen uns bei einer Tasse Tee. Welch ein Kontrast zu dem schönen alten Bauernhof, auf dem Sachiko Sato vorher gelebt hat, ein Holzhaus, wie es nicht mehr oft zu finden ist in Japan, mit dunkel glänzenden Fußböden, umgeben von Reis- und Gemüsefeldern und einem Garten. Felder und Garten sind nun von Unkraut überwuchert.

Yamanami heißt der Bauernhof von Sachiko Sato, ein Ort, an dem sich die Berge wie Wellen aneinanderreihen. Sie hat es geliebt, in der Natur und mit der Natur zu leben und auf ihrem Hof den Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten: die Blüte der Bergkirschen im Frühling und das sich täglich verändernde zarte Grün auf den Feldern und Wiesen. „Mein Herz machte Freudensprünge über die Früchte der Erde, die da heranzuwachsen begannen“, schreibt sie in ihrem im Frühjahr 2013 erschienen Buch „Unter dem Himmel von Fukushima“. Es beginnt mit einer Ode an die Jahreszeiten. „Im Sommer aßen wir täglich das Gemüse, das wir im Garten ernteten. Ich bereitete Köstlichkeiten wie Misosuppe mit Auberginen und grünen Bohnen oder eingelegte Gurken zu.“ (Übersetzung J.B.) Den Herbst, schreibt sie, verbinde sie mit den reifen Reisähren, vor allem aber mit dem Duft von Osmanthus fragrans, der gelbblühenden Duftblüte aus der Familie der Ölbaumgewächse. So süß und betörend ist deren Duft, dass er die heftigen Beschwerden mindern konnte, unter denen sie am Anfang ihrer ersten Schwangerschaft litt. Die Chinesen, die die Duftblüte seit mehr als zweitausend Jahren kultivieren, mischen die Blüten grünem Tee bei und erhalten so eine besonders edle Sorte. Im Winter schließlich, wo in der Tohoku-Region im japanischen Norden viel Schnee liegt, ruhen die Reisfelder. Da gilt es, für ausreichenden Vorrat an Brennholz zu sorgen, Reparaturarbeiten an Haus und Hof zu machen und die Vorbereitungen für Neujahr zu treffen: Reis wird gestampft und zu mochi verarbeitet, zu klebrigen Reisküchlein, die traditionell zu Neujahr gegessen werden. Das ist der Zyklus des einfachen bäuerlichen Lebens, das Sachiko Sato Jahr für Jahr geführt hat, mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern. „Es war ein Leben inmitten der Natur, und ich konnte täglich auf meiner Haut spüren, wie wichtig das Leben ist“, schreibt sie.

Der 11. März 2011 war eine Zäsur, die diesen Kreislauf unterbrochen hat. Bald danach habe sie die Veränderungen bemerkt, mit denen die Natur auf die Katastrophe reagierte, schreibt Sachiko Sato in ihrem Buch: „Es war Frühling, doch nur wenige Schwalben waren gekommen! Es war Sommer, doch ich hörte den Ruf der Zikaden kaum. Und im Herbst blieben auch die Spatzen aus, die sich sonst in den abgeernteten Reisfeldern tummelten.“ So ähnlich, assoziiert Sachiko Sato, sei es auch damals gewesen, als die Bucht von Minamata mit Quecksilber vergiftet war (siehe auch Seite 115 ff.): „Zunächst erkrankten die Katzen, dann litt ein großer Teil der Bevölkerung an der Minamata-Krankheit.“ Und so ähnlich wie die Regierung seinerzeit in den 1950er- und 1960er-Jahren verhalte sich das offizielle Japan auch heute im Fall Fukushima: Die Regierung verleugne, dass die Menschen massiv geschädigt worden sind. „Japan ist ein Land“, sagt Sachiko Sato, „das immer und zu jeder Zeit die Wirtschaft und ihre Interessen über das Wohl der Menschen stellt. Japan ist ein Land, das sich für die Gewinne der Großkonzerne stark macht, anstatt das Leben der Bevölkerung zu schützen und alles daranzusetzen, um die Zukunft der Kinder zu sichern.“ Sie erkenne jetzt hinter der Katastrophe von Fukushima auch dieselben Strukturen wie hinter dem Kupferminenskandal von Ashio: Die Kupfermine von Ashio in der Präfektur Tochigi war ab 1880 Schauplatz der ersten Umweltkatastrophe in Japan. Giftige Abwässer aus der Mine gelangten in zwei nahe gelegene Flüsse. Innerhalb eines Jahrzehnts starb die gesamte Fischpopulation der Flüsse. Dreitausend Fischer verloren ihren Job. Giftschlamm aus der Mine verwandelte die einst an Reisfeldern reiche Gegend in eine unfruchtbare Mondlandschaft. Die Abholzung der umliegenden Wälder zur Expansion der Mine führte zu Entwaldung und in Folge zu Überflutungen. 1907 kam es zu Aufständen der Minenarbeiter. 1973 (!) wurde die Mine geschlossen. Es ist dasselbe Verhalten wie nach der Quecksilberverseuchung in der Bucht von Minamata, nach den Tragödien von Hiroshima, Nagasaki oder Bikini (siehe Seite 23). „Mit Fukushima“, meint Sachiko Sato, „wird uns abermals vor Augen geführt, worüber Rachel Carson schon Anfang der 1960er-Jahre in ihrem Buch ,Der Stumme Frühling‘ geschrieben hat: Der Tag wird kommen, an dem es nichts Lebendiges mehr auf der Welt geben wird, sondern nur mehr Schweigen.“ Das 1962 unter dem Titel „The Silent Spring“ erschienene Werk der US-amerikanischen Zoologin und Wissenschaftsjournalistin gilt bis heute als Bibel der Ökologie-Bewegung. In die Geschichte einer blühenden Stadt verpackt, in der sich eine seltsame, schleichende Seuche ausbreitet, stellt Rachel Carson erstmals den Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel in Frage und macht deren schädliche Auswirkungen auf Mensch und Natur deutlich.

Unser Treffen im kalten Büro in Fukushima-Stadt ist eine ernüchternde Begegnung; vom Elan der optimistischen Sachiko Sato, mit der ich im Herbst 2011 zum Interview ins japanische Parlament marschiert war, ist nichts mehr zu spüren. Damals war sie voller Hoffnung auf den baldigen Atomausstieg in Japan gewesen. Damals hatte sie auch noch an einen tieferen Sinn der Atomkatastrophe geglaubt, einen Sinn, den sie von der Bedeutung der Schriftzeichen ableitete, mit denen Fukushima geschrieben wird: fuku shima – die Glücksinsel, die Insel voller Glück. „Wenn dieser Ort, dessen Name zum Synonym für das Unglück geworden ist, weltweit zu einem Umdenken und einem Ausstieg aus der Atomtechnologie führen würde, trägt er seinen Namen zu Recht!“, meinte sie damals. Nun wirkt sie müde und niedergeschlagen, es ist, als trage sie die trostlose Stimmung in Fukushima alleine auf ihren Schultern. Wir sitzen da und schauen uns auf ihrem Notebook Fotos an, die sie kürzlich in der Nähe ihres Bauernhofes gemacht hat: Große schwarze Plastiksäcke, aufgestapelt an einem Waldesrand. Dekontaminiertes Material, vorübergehend zwischengelagert. In der Präfektur Fukushima vergreisen und veröden ganze Landstriche. Die Regierung setzt alles daran, die Leute rückzuführen. Deshalb wird dekontaminiert, werden die Evakuierungszonen wieder und wieder neu eingeteilt und evakuierte Gemeinden für Rücksiedler freigegeben. „Weil die radioaktive Belastung dort unter dem gesundheitsgefährdenden Niveau liegt“, sagt Sachiko Sato. Sie geht trotzdem nicht zurück auf ihren Hof.

Hausfrau, Mutter und Bäuerin war Sachiko Sato, ehe sie mit über fünfzig Jahren zur Aktivistin wurde. In Kawamata-Machi, rund fünfundvierzig Kilometer vom AKW entfernt, hat sie einmal natürlichen, biologischen Landbau betrieben. Ihr Lehrmeister war der aus Nara stammende Bauer, Autor und Lehrer Yoshikazu Kawaguchi, Pionier und führender Vertreter der Natürlichen Anbaumethode. In der von ihm gegründeten Akame-Schule für Natürlichen Anbau gibt er sein Wissen weiter. Der 1939 geborene Kawaguchi lehnt nicht nur chemische Spritzmittel, Unkrautvernichtungsmittel oder Dünger auf seinen Feldern vehement ab, sondern Eingriffe in die Natur an sich. Er pflügt nicht, weil dadurch „Gras und Insekten wie Feinde behandelt werden“, wie er sagt. Die Philosophie dahinter ist es, menschliche Interventionen so gering wie möglich zu halten, auf dass sich die Saat selbst entwickeln möge. Feldfrüchte werden entsprechend ihrem Umfeld und den Gegebenheiten der Region angebaut. Das ist so einfach, wie es klingt: In warmem Klima werden nur Pflanzen gezüchtet, die warmes Klima mögen, in kälteren Regionen nur Pflanzen, die Kälte vertragen. Kawaguchis Methode räumt den Pflanzen den Platz ein, den sie brauchen, und verfolgt das Prinzip, sie möglichst in Ruhe zu lassen, damit sie ungestört wachsen und sich entwickeln können. Die Welt käme durcheinander, meint Yoshikazu Kawaguchi, wenn wir Menschen nach Gutdünken Insekten in nützlich oder schädlich einteilen wollten. „Es gibt keine ,Nützlinge‘, es gibt keine ,Schädlinge‘, alle Lebewesen haben ihren Platz“, ist sein Credo. Und so wie die Menschen nicht alleine leben könnten, sondern die Gesellschaft brauchten, so müsse auch der Reis in einem Reisfeld mit anderen Pflanzen koexistieren, damit er sich gut entwickle. Selbstverständlich verträgt sich diese Philosophie nicht mit Radioaktivität. Sachiko Sato, die auf mehr als dreißigjährige Erfahrungen als Bäuerin zurückblicken kann, hat ebenfalls eine Schule für Natürlichen Anbau ins Leben gerufen, um das erworbene Wissen über die Natur an die nächste Generation weiterzugeben. In der Praxis kann sie es nun nicht mehr erproben.

Im April 2011 maß Sachiko Sato auf ihrem Hof eine radioaktive Belastung von 2,5 Mikrosievert. Das Erdbeben hatte auch den Brunnen versiegen lassen. Da war ihr klar, dass es für sie als Biobäuerin dort keine Zukunft mehr gibt. Ihre Familie, ihre Kinder brachte Sachiko Sato am Tag nach dem Unfall im AKW in Sicherheit. Sie gehört zu den wenigen Menschen in Japan, die für den Tag X akribische Vorbereitungen getroffen haben. Seit 1986 ist Sachiko Sato gerüstet. Im Jahr der Atomkatastrophe von Tschernobyl war ihr ältester Sohn vier Jahre alt, mit ihrer ältesten Tochter war sie gerade schwanger. Tschernobyl rüttelte sie auf. Ihr eigenes Nichtwissen über die Gefahren der Atomtechnologie gab ihr zu denken und sie begann zu studieren, wie sie sagt. Sie verfolgte die Nachrichten,...

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