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In Ruhe sterben

Was wir uns wünschen und was die moderne Medizin nicht leisten kann

AutorAndreas Heller, Reimer Gronemeyer
VerlagPattloch Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783629320506
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Ein Appell zum humanen Umgang mit Sterbenden Der medizinische Kampf gegen den Tod hat absurde Züge angenommen. Technik und Bürokratie haben sich in Kliniken und Hospizen breitgemacht; das »qualitätskontrollierte Sterben« wird zur Realität. Die beiden Autoren plädieren leidenschaftlich für eine fürsorgliche Begleitung sterbender Menschen. Ihre Kritik gilt jenen Kliniken, die ihre Patienten in vielfach unangemessener Weise langwierigen und schmerzhaften Therapien aussetzen, statt ihnen ein würdiges Sterben zu ermöglichen.

Reimer Gronemeyer, Jahrgang 1939, war als promovierter Theologe zunächst Pfarrer in Hamburg, bevor er sich der Soziologie zuwandte. Seit 1975 hat er einen Lehrstuhl für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen inne. Seine Publikationsliste umfasst mehr als 30 Buchtitel; u.a. 'Sterben in Deutschland' , 'Kampf der Generationen' und 'Wozu noch Kirche?' Reimer Gronemeyer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in zahlreichen Initiativen, Expertengruppen und Organisationen mit den Themen Aidsbekämpfung, Palliativ-Medizin, Hospizbewegung sowie Demenz beschäftigt. Derzeit ist er Vorstandsvorsitzender der Aktion Demenz e.V. und ein viel gefragter Redner auf Tagungen und Kongressen. 2012 ist bei Pattloch 'Der Himmel. Sehnsucht nach einem verlorenen Ort', 2013 'Das 4. Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit' erschienen.

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Leseprobe

1. Kapitel


Was wir uns wünschen und was die Medizin nicht leisten kann

»Die Sorge für den Schwachen schützt den Starken selbst. (…) Der Mensch, der es ablehnt, dem sinkenden Leben gut zu sein und der fortschreitenden Einengung, die es erfährt, zu Hilfe zu kommen, versäumt eine wichtige Chance, zu verstehen, was überhaupt Leben ist, wie unerbittlich seine Tragik, wie tief seine Einsamkeit, und wie sehr wir Menschen miteinander solidarisch sind.«

Romano Guardini

Wir leben heutzutage länger, und wir sterben länger. Wir sterben nicht plötzlich und unerwartet, sondern eher langsam und vorhersehbar. Zudem: Sterben ist längst kein sprachloses Tabu mehr. Eine »Überredseligkeit« (Martina Kern) ist beobachtbar. Wie kommt es, dass jetzt so viel über Sterben und Tod geredet wird? Ist da nichts spürbar als ein allgemeines Zähneklappern, das durch Geschwätz überdeckt werden soll? Werden Sterben und Tod gegenwärtig und – das hat es noch nie gegeben – zum Projekt von Experten, zum Marketingmodell von Klinik- und Pflegeheimketten? Wird Sterben zum Geschäftszweig, und übertönt diese Sterbegeschäftigkeit die Möglichkeit des »eigenen Todes«?

Der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, steht auf der roten Liste. Die verlorene Transzendenz, der Himmel als Horizont des Lebens und Sterbens, ist abgedunkelt und wird durch eine Technokratie ersetzt. Hinter der gegenwärtig erkennbaren Sturzflut von palliativen Angeboten wird eine Heimatlosigkeit des Sterbens erkennbar, die aller lokalen Formen des Umgangs mit dem Lebensende entkleidet ist. Sterben wird hergestellt, wenn nötig geplant, assistiert vollzogen und so zum neutralisierten kontrollierten Verfahren. Dem fügen wir uns ängstlich, manchmal wortlos, oft hilflos und ohnmächtig. Die Möglichkeit zum eigenen Tod wird herausoperiert aus dem Leben. Die moderne Medizin hat uns unfähig gemacht, mit dem Schmerz, der Einsamkeit, den Demütigungen des Alterns und dem Sterben sozial und menschlich umzugehen.

Der medizinische Kampf gegen den Tod hat absurde Züge angenommen. Dieser medizinische Kampf, den Tod zu überwinden, erfordert Einspruch und Widerspruch. Wir brauchen keine neuen Versprechungen von »magischen« (und oft exzessiv teuren) Medikamenten, von der Heilung aller Krankheiten, von der kosmetischen Reparatur der Körper, der Schaffung neuer technischer Identitäten. Die Medizin muss selbst in die Schule des Sterbens gehen. Dort wird sie lernen, das Sterben in ihr Selbstverständnis aufzunehmen. Sie wird erkennen, dass Sterben und Tod immer zentrale Dimensionen menschlichen Lebens bleiben. Erst indem die moderne Medizin eine Beziehung zum Sterben gewinnt, wird sie wieder in Beziehung kommen mit den Sterbenden und gutes Leben bis zuletzt ermöglichen.

Die Kunst des Sterbens ist mit der Kunst des Lebens verschwistert, und wenn die Kunst des Sterbens ausgelöscht ist, dann schwindet auch die Lebenskunst. Anders gesagt: Die Abwesenheit einer sozial getragenen Kunst des Sterbens enthüllt, dass die Kunst des gemeinsamen Lebens verschwunden ist.

Was aber macht unser Leben gut und sinnvoll? Was lässt sich von sterbenden Menschen lernen? Was bedauern sie eigentlich am meisten? Angesichts der radikal verkürzten Lebenszeit, mit der Sterbende konfrontiert sind, gilt das größte Bedauern der Erkenntnis, das eigene Leben nicht gelebt zu haben. Man war gefangen im gesellschaftlichen Spiel, zu tun, was »man« von einem erwartet und was andere von einem wollten. Niemand ist traurig darüber, zu wenig gearbeitet zu haben. Im Gegenteil, die Arbeit war zu dominant im Leben. Es blieb zu wenig Zeit, um mit Freunden und Freundinnen wärmend verbunden gewesen zu sein.[1]

Vom todsicheren Tod her zu leben heißt, wesentlicher zu leben. Entscheidungen darüber, was wichtig und unwichtig ist, wofür Zeit investiert wird und wofür nicht, werden im Sterben klarer. Man muss aber nicht erst schwerkrank und sterbend sein, um verpasste Begegnungen, ungelebte Beziehungen zu bedauern, zu beklagen, dass Dankbarkeit und Freude, Liebe und Lust unausgedrückt blieben. Vielleicht leisten wir uns zu wenig »Verrücktsein«, ein »Wegrücken« von den allgemeinen Erwartungen, den sozialen Konventionen, von den Spielregeln des gesellschaftlichen Leistungsspiels. Achten Sie darauf, den eigenen Lebensfaden zu spinnen, den Intuitionen des Glücks, der Freiheit, der Liebe, der Leidenschaft und der Freundschaft zu folgen?

Was wir aber brauchen, ist die freundschaftliche Sorge anderer. Wir Menschen sind eben überaus sorgebedürftig. Die Fürsorge anderer begleitet unser Leben. Ihr Sorgen ermöglicht unser Leben. Diese Sorge ist ein Geschenk, das wir empfangen und dann erst weitergeben. Am Lebensende sind wir radikal auf eine Umsorge angewiesen, die sich nicht berechnen und verrechnen lässt, nicht im Planungsprojekt einer standardmäßigen gesellschaftlichen Sterbeentsorgung aufgeht. Wir können eben nicht leben und nicht sterben ohne das Wohlwollen, die sorgende Wärme und das Geschenk der »Umsonstigkeit« (wie der Priester und Autor Ivan Illich es genannt hat[2]) freundschaftlich Sorgender.

 

Wovon handelt dieses Buch? Wir haben nicht die Absicht, jene Medizin zu kritisieren, der es um das Heilen geht und die, wenn nichts mehr zu heilen ist, sich um eine gute Zuwendung und Sorge am Lebensende müht. Wir kritisieren aber einen Gesundheitsapparat, der das Lebensende zu einem Behandlungsprojekt macht, in dem eine schwer zu entwirrende Mischung aus Profitinteresse und Standespolitik vorzuherrschen beginnt; bei dem Sterben zu einer Krankheit gemacht wird, die kontroll- und überwachungsbedürftig ist. Dieser Vorgang – die Verkrankung des Sterbens – entzieht sich immer mehr der Kritik, weil die Betroffenen selbst inzwischen gar keine andere Vorstellung mehr haben als diese: dass der Sterbende ein Fall für die Medizin ist, ein Objekt und ein Kunde der Gesundheitsindustrie.

Innerhalb weniger Jahre ist es gelungen, um das Lebensende herum eine palliative Versorgungsindustrie aufzubauen, die dazu tendiert, besinnungslos flächendeckend zu werden. Jeder, der außerhalb des inkludierenden palliativ-medizinischen Komplexes stirbt, wird allmählich zum Irrläufer, zum bedauerlich schlecht Versorgten. Schritt für Schritt ist der, der nicht plötzlich am Infarkt stirbt oder am Steuer seines Autos umkommt, zum selbstverständlichen Adressaten der ambulanten oder institutionellen Fachversorgung geworden. Innerhalb kurzer Zeit ist ein Projekt realisiert worden, das den Sterbenden, der nicht professionell versorgt ist, zum Unglücklichen und bald wohl auch geradezu zum Außenseiter, zum Dissidenten und (bald vielleicht schon) zum Saboteur macht.

 

Es wird heutzutage viel über das Sterben geredet. Aber man hat das Gefühl: Wir wissen biologisch-medizinisch alles, aber zugleich wissen wir über das, was sterben heißt – nichts. Der Gedanke an den Tod ist wie ein Eisklumpen in uns. Wir ahnen gerade noch, dass das Leben mit dem Tod zu tun hat, aber ansonsten schieben wir den unangenehmen Gedanken, dass alles irgendwann ein Ende hat, weg. Das große Geheimnis lassen wir nicht an uns heran. Woran liegt es? Vielleicht ist uns die Frage nach dem Sinn des Lebens schon so abhandengekommen, dass die Sinnlosigkeit des Todes uns nur noch schwach berührt? Je weniger der Mensch sich derartige Gedanken und Gefühle noch leistet, desto leichter lässt sich der Tod vergessen. Nein, verdrängt werden Sterben und Tod nicht mehr, sie werden unablässig beredet, aber sie sind auf das Niveau eines organisatorischen Problems abgestürzt, nicht verdrängt, sondern weggeordnet.

Der Apostel Paulus konnte noch mit provozierender Kühnheit sagen: »Der Tod ist der Sünde Sold!« Pustekuchen! Auch eine so ekstatische Formulierung, wie sie Rainer Maria Rilke gewagt hat: Der Tod sei der »trauliche Einfall der Erde«, taugt allenfalls für die Ansprache eines professionellen Trauerredners. Dass der Tod die »Gipfelung des Lebens« sei – so hat Friedrich Hölderlin zugespitzt –, das können wir nicht einmal zu denken wagen. Gern wird gesagt, dass das palliative Projekt ja nur die Voraussetzung dafür schaffen wolle, dass man seinen eigenen Tod sterben könne. Das wird zur schönen Floskel – wenn die Betroffenen vom Versorgungsrauschen so eingelullt sind, dass die eigenen Gedanken und Empfindungen zum Nebenschauplatz werden –, für die dann die Experten für Spiritualität und Gespräch zuständig sind.

 

Jeder stirbt den Tod, den er verdient. Sollte diese finstere Vermutung stimmen? Dann müsste unsere Zeit, die das Leben vor allem als einen Akt des Verbrauchs von Waren und Dienstleistungen zu verstehen lehrt, auch das Lebensende auf dieses Niveau herunterbringen: Verbraucher und Kunde bis zuletzt. Eingebettet in ein palliatives Rundum-Sorglos-Paket, kann der homo consumens tatsächlich seinem Ende in bedauernder Ruhe entgegensehen: Eine gut organisierte Versorgung, zu der garantierte Schmerzfreiheit ebenso wie professionelle Versorgung und im Zweifelsfall terminale Sedierung gehören, lässt die empörte Frage nach dem Sinn oder Unsinn des Todes nicht mehr aufkommen. Wir bekommen den Tod, den wir verdienen: Mit der Patientenverfügung ausgestattet, im Bewusstsein der Gegenwart von Spezialisten, die Versorgungsbedürfnisse aller Art zu managen wissen – für den Dekubitus der Seele gibt es den Spiritualitätsbeauftragten –, gaukeln wir uns vor, das Lebensende in den Griff zu bekommen.

Der »Triumph der Medikalisierung« – den schon der französische Historiker Philippe Ariès konstatiert[3] – bringt die Gefahr mit...

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