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E-Book

Ehe alles zu spät ist

Kirchliche Verzagtheit und christliche Sprengkraft

AutorErwin Teufel
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783451804519
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Ein Politiker von echtem Schrot und Korn, in einer Situation, in der die einen resignieren oder kuschen, andere 'Marsch zurück' blasen und wieder andere dem Christentum überhaupt nichts mehr zutrauen. Dabei ist unsere Gesellschaf heute mehr denn je auf Werte des Christentums angewiesen. E. Teufel sagt, wo es brennt - und wie der Brand zu löschen wäre, damit es kein Flächenbrand wird - ehe es ganz zu spät ist: Kritisch und klug, selbstbewusst und engagiert: ein Buch, das hilft, klar zu sehen.

Erwin Teufel, Dr. h.c. mult., geb. 4. 9. 1939 in Zimmern ob Rottweil, war von 1991 bis 2005 Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg und Vorsitzender der CDU in Baden-Württemberg. MItglied des Deutschen Ethikrats . Bis 2008 war er Mitglied im ZK der deutschen Katholiken. Ehrensenator u.a. der Universitäten Freiburg und Tübingen. Zahlreiche Auszeichnungen.

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Leseprobe

III. Eine dramatische Entwicklung – Wenn die Kirche aus der Zeit fällt


Der erste Schritt besteht darin, genau hinzusehen und die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Die Kernfrage ist also: Was ist die Wirklichkeit für die Katholische Kirche?

Das sind die Fakten: Die Katholische Kirche in Deutschland verliert Jahr für Jahr mehr Mitglieder. 2008: 121 155 Kirchenaustritte, 2009: 123 681, 2010: 181 123, 2011: 126 488. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor.

Diese große Zahl der Abwendung von Gliedern unserer Kirche muss jeden besorgt machen. Der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke kommentiert 2010 in der Herder Korrespondenz (2011 S. 482) die Austrittszahl als zutiefst beunruhigend. Sie zeige ein bitteres und trauriges Bild von der Lage der Katholischen Kirche in Deutschland. Zum einen habe die Aufdeckung des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Kleriker und in kirchlichen Einrichtungen die Katholische Kirche besonders hart getroffen – und zwar mit vollem Recht angesichts ihres hohen moralischen Anspruchs und des Leids der Opfer. Hinzu komme aber seit Jahren eine wachsende Distanzierung vieler Menschen von den offiziellen Kirchen. Die Kirche müsse nun ernsthaft nach den Konsequenzen fragen. Umso notwendiger sei der kürzlich angelaufene Dialogprozess.

Auch das gehört zu den Fakten: 1978 hatten wir in Deutschland noch 25 000 Priester, 2011 nur noch 13 500. Von 1990 bis 2010 ging die Zahl der Priester in Deutschland von 19 707 auf 15 136 zurück. Die Zahl der Neupriester in allen 27 deutschen Diözesen ging 2008 auf 95 zurück, 2010 waren es nur noch 81, 2011 86 Neupriester.

Weltweit haben nach Angaben der italienischen Jesuiten-Zeitschrift „Civiltà Cattolica“ in den vergangenen 40 Jahren etwa 69 000 katholische Priester ihren Dienst aufgegeben, die meisten, weil sie heiraten wollten.

Es ist also nicht mehr als eine nüchterne Feststellung, wenn ich sage: Wir haben in Deutschland und in vielen anderen Ländern einen Seelsorgenotstand.

Und was sind die Konsequenzen? Wie steuern wir dem entgegen? Das einzige, was wir uns einfallen lassen, sind immer größere Seelsorgeeinheiten. Ein Bischof sagte mir: „Was soll ich denn anderes tun. Alles andere liegt nicht in meiner Macht.“

Wie sieht die Realität aus? In einer größeren Stadtpfarrei, in der ein Schulkamerad von mir Pfarrer war, hatte er am Anfang für über 8000 Katholiken noch einen Kaplan und Vikar. Dann war er allein. Und schließlich bekam er noch vier Pfarreien dazu. Ein anderer hat außer der Kerngemeinde eine Seelsorgeeinheit von sechs Pfarreien. Die Pfarrer sind völlig überlastet. „Ich bin bald nur noch auf dem Friedhof“, sagte mir kürzlich ein Freund, der Priester ist.

Die Zahl der aktiven Priester geht nicht nur zurück. Die Statistik zeigt auch eine starke Überalterung.

Die Pfarrer versuchen mit großem Engagement zu helfen. In aller Regel kommen sie der Diözesanverwaltung entgegen und gehen nicht, wie die Beamten, mit 65 Jahren in den Ruhestand, sondern erst mit 70 Jahren oder noch später. Viele Pfarrpensionäre helfen Woche für Woche in Gemeinden aus und übernehmen Gottesdienste. Aber die Tendenz ist offensichtlich. In dem Bistum, das ich am nächsten kenne, in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, sehen die Zahlen so aus: 20 –23 Priester sterben im Jahr und 1 oder 2 Neupriester kommen nach. Das Bistum Rottenburg hatte in guten Jahren 40 Neupriester, in normalen Jahren 32, 2012 waren es zwei, 2011 einer. Und die Diözese unterhält immer noch ein Priesterseminar.

Im Münchner Priesterseminar, in das ich während meiner Münchener Zeit zweimal eingeladen war, waren 24 Studenten für sechs Jahrgänge, und darunter waren auch noch Ordensangehörige. Das ist doch ein absoluter Notstand. Er schreit doch nach einer Lösung.

In manchen Diözesen werden Priester aus Afrika oder Asien eingesetzt. Es ist wahr: Deutschland ist in mancherlei Hinsicht ein Missionsland geworden, und oft tun diese Priester ihren Dienst mit großem Engagement und mit Erfolg. Aber nicht nur im Bayerischen Wald oder in ländlich geprägten Gebieten wirken nicht selten auch Priester, die zur Seelsorge an den Menschen, für die sie eingesetzt werden, gar nicht in der Lage sind, weil sie deren Mentalität nicht kennen oder sich schon aus sprachlichen Gründen nicht so verständlich machen können, wie das nötig wäre. So werden dann auch wohlmeinende Menschen dieser Kirche immer mehr entfremdet. Kein Wunder, dass auch in traditionell kirchlichen Gemeinden die Gotteshäuser leerer werden. Priester sind für die Menschen da. Die Verwaltung der Sakramente allein beschreibt ja nicht den priesterlichen Dienst.

Natürlich: Kirche lebt von den Sakramenten und hat ihren Kern in der Feier der Liturgie. Aber auch hier sprechen die Zahlen eine deutliche und alarmierende Sprache. Es gibt sogenannte „Zählsonntage“ in allen deutschen Diözesen. Nach dieser Erhebung haben 1960 im Schnitt noch 46 Prozent der Katholiken am Sonntag den Gottesdienst besucht, im Jahr 2011 waren es nur noch 12,3 Prozent. Die Zahl der kirchlichen Eheschließungen ist in den letzten 20 Jahren bundesweit auf die Hälfte gesunken. Auch die Zahl der Taufen, der Krankensalbungen und der kirchlichen Beerdigungen geht zurück. Am stärksten ist der Schwund, wenn man die Zahl der Beichten betrachtet.

Selbstverständlich beschreiben solche Zahlen nur die äußere Seite der Rückgänge. Die Statistik wird nicht den vielen gerecht, die sich nach wie vor aktiv beteiligen. Aber die Gesamtentwicklung ist klar: ein ständiger Rückgang in einem besorgniserregenden Umfang.

Was würde ein Weltunternehmen, das im internationalen Wettbewerb steht, bei einer Kundenentwicklung in ähnlichem Ausmaß machen? Es hätten längst alle Alarmglocken geläutet, und in Führungskonferenzen auf jeder Ebene würde die Situation analysiert, und in der Folge hätte man längst organisatorische und praktische Konsequenzen gezogen. Ein solches Unternehmen hätte verbesserte Produkte und Dienstleistungen angeboten, Investitionen getätigt und Delegation von Verantwortung veranlasst, Kundenbefragung durchgeführt, in Werbung investiert, es hätte Präsenz vor Ort und Kundennähe gezeigt. Würde ein Unternehmen bei einem gravierenden Rückgang der Kunden, der Produkte, des Umsatzes oder der Erlöse nicht so handeln, dann wäre es in kurzer Zeit vom Markt der Anbieter verschwunden, es wäre „weg vom Fenster“. Ein Weltunternehmen wie Nestlé, der größte Nahrungsmittelkonzern der Welt, beschäftigt in 443 Produktionsstätten in 81 Ländern 328 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In der Weltzentrale in Vevey/Schweiz beschäftigt Nestlé nur 1800 Mitarbeiter, einschließlich der Forschung. Alle anderen sind dezentralisiert, in den Produktionsstätten und nahe an den Kunden. Nestlé bietet keine Einheitsprodukte für alle Länder, sondern auf die Mentalität und Essgewohnheiten und unterschiedlichen Geschmacksrichtungen bezogene länderspezifische Produkte an. Neben der Qualität der Produkte ist also Dezentralisierung und Nähe zu denen, die man mit den Produkten ansprechen will, das Erfolgsgeheimnis.

Was will ich damit sagen? Sicherlich nicht, dass die Kirche sich nach Art eines Wirtschaftsunternehmens organisieren müsse. Aber es gibt Analogien, die mit Kommunikation und Resonanz, mit Wahrnehmung der Wirklichkeit und mit notwendigen Konsequenzen zu tun haben. Salopp formuliert: Die Kirche hat ein gutes Produkt, aber wir bringen es nicht mehr an den Mann und an die Frau, und erst recht nicht mehr an die junge Generation, weil wir nicht auf die Bedürfnisse, Erwartungen, Sehnsüchte der Menschen eingehen, an die wir uns doch richten, und weil wir nicht ihre Sprache sprechen.

Zu den ganz großen Stärken des Christentums in seiner Geschichte gehört die Anpassungsfähigkeit an fremde Kulturen und seine Inkulturation. Unter Inkulturation versteht man nicht Anbiederung. Sie ist vielmehr Voraussetzung der missionarischen Kraft: Kirche muss das Eigene einer Zeit, einer Kultur in der Art, in der sie sich den Menschen dieser bestimmten Zeit oder dieser bestimmten Kultur zuwendet, angemessen zur Geltung und zum Ausdruck bringen.

Ein Blick in die Geschichte zeigt das: Das Christentum wurde in das Judentum hineingeboren. Jesus war Jude und alle Apostel waren Juden und die erste Gemeinde in Jerusalem bestand aus Juden. Wäre es dabei geblieben, wäre die christliche Gemeinde eine jüdische Sekte geworden. Aber Paulus hat sich auf dem ersten Konzil, dem Apostelkonzil um 49 nach Chr. in Jerusalem gegen Petrus durchgesetzt. Wer Christ werden wollte in den großen Städten des Mittelmeerraums, musste sich nicht beschneiden lassen. Er musste nicht Jude werden, wenn er Christ werden wollte. Diese Entscheidung war die Grundlage für den großen Missionserfolg der jungen Kirche.

Das Christentum hat eine zweite große Anpassung zustande gebracht, einen „Paradigmenwechsel“ (Hans Küng) zur führenden Kultur seiner Zeit an allen Ufern des Mittelmeers, dem Griechentum. Paradigmenwechsel meint die Veränderung des Blickwinkels, eine grundlegend neue Einstellung, die auch eine Weiterentwicklung ermöglicht. Die Schriften des Neuen Testaments wurden in griechischer Sprache verfasst. Sie wurden so attraktiv für viele Intellektuelle, die der griechischen Sprache mächtig waren. Griechischer Geist hat die ersten Konzile geprägt. Das Christentum ist nicht unbeeinflusst geblieben, sondern hat die Sprache, den Geist der griechischen Philosophie integriert und auch teilweise „getauft“, also neu verstanden und gedeutet.

Das Christentum hat auch den großen Paradigmenwechsel aus den Katakomben des römischen Reichs und aus den großen Christenverfolgungen Roms in der Konstantinischen Wende geschafft und wurde zur...

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