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'Euthanasie' - zum Umgang mit vergehendem menschlichen Leben

Historische Einsichten - ethische Sondierungen

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783170264137
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Im September 1940 erfolgten die ersten Verlegungen von Menschen mit Behinderung im Rahmen der sogenannten Aktion 'Gnadentod' aus den Einrichtungen der Diakonissenanstalt Neuendettelsau. Weitere Verlegungen von über 1200 Menschen folgten, über 900 von ihnen wurden in staatlichen Heil- und Pflegeanstalten und in der Anstalt Hartheim bei Linz ermordet. Diesem Teil ihrer Geschichte gegenüber weiß sich die Diakonie Neuendettelsau in besonderer Verantwortung, nicht nur in der historischen Aufarbeitung, sondern auch in den gegenwärtigen Herausforderungen zum Thema 'Euthanasie'. Die hier virulenten ethischen Fragestellungen in Medizin und Pflege nehmen weiter an Bedeutung zu.

Prof. Dr. h.c. Hermann Schoenauer ist Rektor der Diakonie Neuendettelsau.

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Leseprobe

Hans-Walter Schmuhl

Rassenhygiene, Eugenik, „Euthanasie“ – die historischen Grundlagen und Entwicklungen


In der Epoche des fin de siècle – also in den drei Jahrzehnten von Mitte der 1880er Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs – kam nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Teilen Europas und Nordamerikas und mancherorts in Lateinamerika, Asien und Australien ein neuer Gedanke auf: die Eugenik oder – wie man im Deutschen sagte – die Rassenhygiene. In Großbritannien hatte Francis Galton, der Vetter Charles Darwins, ein genialer Privatgelehrter, der sich durch eine Reihe höchst origineller Einsichten, Erfindungen und Entdeckungen in der Statistik und Physik ebenso einen Namen machte wie in der Daktyloskopie, Meteorologie und Botanik, seit Mitte der 1860er Jahre die Grundzüge einer neuen Lehre entworfen, die sich – so Galtons klassische Definition – mit „allen Einflüssen“ beschäftigte, „denen es möglich sei, die angeborenen Eigenschaften einer Rasse zu verbessern und zu höchster Vollkommenheit zu entwickeln.“ Für diese neue Lehre prägte er im Jahre 1883 den Begriff national eugenics. In Deutschland bildete sich – weitgehend unabhängig von Galtons Eugenik – in den 1890er Jahren die Rassenhygiene heraus: Wilhelm Schallmayers 1891 veröffentlichtes Buch „Über die drohende körperliche Entartung der Kulturmenschheit“ und vor allem Alfred Ploetz’ Werk „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen“, erschienen im Jahr 1895, legten den Grund dazu.

Zu dieser Zeit begann der Siegeszug der eugenischen Idee rund um den Erdball, anfangs allerdings ganz unscheinbar: Das internationale Netzwerk der Eugeniker und Rassenhygieniker umfasste am Vorabend des Ersten Weltkriegs nur wenige hundert Männer und Frauen – zu dieser Zeit war die Eugenik eher noch die Sache sektiererischer Grüppchen am Rande der Gesellschaft. Das änderte sich nach der Zäsur des Ersten Weltkriegs von Grund auf. Seit 1918 rückten Eugenik und Rassenhygiene in die Mitte der Gesellschaft. Sie hinterließen ihre Spuren in Forschung und Lehre der Wissenschaften vom Menschen, in juristischen, philosophischen, theologischen und medizinischen Diskursen, in der öffentlichen Meinung, in den Programmen politischer Parteien und den Forderungskatalogen einflussreicher gesellschaftlicher Interessengruppen, in der staatlichen Gesetzgebung zur Bevölkerungs-, Einwanderungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik. Dieser Trend gilt, wohlgemerkt, nicht nur für Deutschland. Die deutsche Rassenhygiene hatte in der internationalen eugenischen Bewegung zwar großes Gewicht, bis 1933 galten den deutschen Rassenhygienikern jedoch die Vereinigten Staaten von Amerika wegen ihrer Vorreiterrolle bei der eugenischen Sterilisierung als gelobtes Land.

Gehen wir wieder zurück in die Epoche des fin de siècle. In den 1890er Jahren formierte sich im wilhelminischen Deutschland – parallel zur Grundlegung der Rassenhygiene – ein auf vielfältige Weise mit dieser verflochtener, aber doch eigenständiger Diskurs um Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen und Tötung von nicht einwilligungsfähigen Patienten. 1895 forderte Adolf Jost in einer – so wörtlich – „sozialen Studie“ so klar und eindeutig wie kaum je zuvor ein „Recht auf den Tod“ nicht nur für Todkranke auf deren Verlangen, sondern auch für „geisteskranke Anstaltsinsassen“. Bei diesen sprächen „das Mitleid und das Interesse der Gesellschaft“ dafür, ihr Leben zu beenden. Auch dies war kein singulär deutsches Phänomen – ein ähnlicher Diskurs lässt sich etwa auch in den USA nachweisen. Dort propagierte W. Duncan McKim im Jahre 1899 die „Euthanasie“ nicht nur als „sanften Tod“ für unheilbar kranke, Schmerz leidende Menschen, sondern auch als „künstliche Selektion“, „um die menschliche Rasse umzuzüchten“. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten solche Forderungen weder diesseits noch jenseits des Atlantiks eine Chance.

Zugleich ist eine begriffsgeschichtlich höchst spannende Verschiebung des Wortfeldes „Euthanasie“ zu beobachten. Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts meinte der Begriff „Euthanasie“ nämlich Sterbebegleitung ohne Lebensverkürzung. Er stand für die Lehre von der Pflege sterbender Menschen wie etwa die sachgemäße Lagerung, Körperpflege und Ernährung Sterbender und ärztliche Tätigkeiten am Sterbebett wie das Verabreichen schmerzstillender Mittel. Zu dieser Zeit deckte der Begriff „Euthanasie“ mithin ungefähr das ab, was wir heute als Palliativmedizin und palliative care bezeichnen. Der Gedanke der Sterbehilfe, also der Tötung auf Verlangen oder der gezielten Anwendung lebensverkürzender Mittel, wurde in den ärztlichen Standeslehren des 19. Jahrhunderts von der überwiegenden Mehrheit der Autoren zurückgewiesen (auch wenn es in der Praxis durchaus Fälle von Sterbehilfe gegeben zu haben scheint). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts – so ergibt eine Analyse der Artikel in den gängigen Konversationslexika – weitete sich das Bedeutungsfeld des Begriffs „Euthanasie“ so stark aus, dass es – was das Recht des Arztes über Leben und Tod anging – geradezu zu einer Umkehrung kam. Gegen Ende der 1920er Jahre war das Wort zu einem Synonym für schmerzlose Tötung geworden. Diese Verschiebung des Wortfeldes ist eine unmittelbare Folge der moralphilosophischen Diskussion um Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen und „Vernichtung lebensunwerten Lebens“.

Dieser zuletzt genannte Begriff wurde durch die richtungweisende Schrift des Strafrechtlers Karl Bindung und des Psychiaters Alfred Hoche über „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ aus dem Jahre 1920 geprägt. Er meinte die Tötung von geistig schwer behinderten oder unheilbar psychisch erkrankten Menschen aus wirtschaftlichen Gründen. Dass dieser Aspekt in Deutschland derart in den Vordergrund rückte, hatte mit der besonderen Situation des Deutschen Reiches nach dem verlorenen Weltkrieg zu tun, doch spielte er auch anderswo in den Debatten um die „Euthanasie“ durchaus eine Rolle. Insgesamt wird man sagen können, dass die Akzeptanz der Sterbehilfe, der Tötung auf Verlangen und der „Früheuthanasie“, der Tötung behinderter Neugeborener, in der Zwischenkriegszeit nicht nur in Deutschland stetig zunahm. Eine Gallup-Umfrage aus dem Jahre 1937 ergab, dass 45 Prozent der befragten Amerikaner die „Früheuthanasie“ befürworteten. Und die US-„Euthanasie“-Debatte strahlte auch international aus: So plädierte der französische Medizin-Nobelpreisträger Alexis Carrel, der lange in den USA gelebt und gearbeitet hatte und sich später dem Vichy-Regime zur Verfügung stellen sollte, 1935 für eine „Einrichtung zur Euthanasie, die mit geeignetem Gas ausgestattet“ werden sollte, um abnormale Menschen „auf menschliche und wirtschaftliche Weise“ zu beseitigen. Ein 1938 von der amerikanischen „Euthanasie“-Gesellschaft vorgelegter Gesetzentwurf zur Freigabe der Tötung auf Verlangen hatte in den Parlamenten verschiedener US-Bundesstaaten angesichts des massiven Widerstandes katholischer und konservativ-protestantischer Kreise keine Chance. Mit einem noch radikaleren Gesetzentwurf zur Tötung von „Idioten, Imbezillen und kongenitalen Monstrositäten“ wagten sich die „Euthanansie“-Aktivisten gar nicht erst an die Öffentlichkeit, doch berieten sie noch 1943 darüber. Mittlerweile hatte das nationalsozialistische Deutschland den ersten und bislang einzigen systematischen Massenmord an geistig behinderten und psychisch erkrankten Menschen in der Weltgeschichte ins Werk gesetzt.

Noch einmal kehre ich in der Epoche des fin de siècle zwischen der Mitte der 1880er Jahre und dem Beginn des Ersten Weltkriegs zurück. Wie kam es, dass sich in verschiedenen Staaten parallel Diskurse um Eugenik und „Euthanasie“ entfalteten? „Diskurs“ sei hier im engeren Sinne verstanden als eine „herrschende Redeweise“, die festlegt, über welche Themen in welcher Form und in welchen Begriffen gesprochen werden kann – und worüber geschwiegen werden muss. Wenn sich in unterschiedlichen politischen Systemen Diskurse parallel entwickeln, deutet dies darauf hin, dass hier gleiche – oder doch vergleichbare – wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rahmenbedingungen wirken. Zu fragen ist demnach nach der besonderen Signatur jener „Sattelzeit“ des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die gemeinhin unter dem Begriff fin de siècle gefasst wird. Welche Grundzüge dieser Zeit schufen die Bedingungen der Möglichkeit, dass sich die Diskurse um Eugenik und „Euthanasie“ herausformen konnten?

Nehmen wir also die Jahrzehnte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und ihren „Zeitgeist“ genauer unter die Lupe. Ich möchte einen kurzen Exkurs vorausschicken, der verdeutlichen soll, was ich mit „Zeitgeist“ meine. Der Begriff wird häufig benutzt – was er aber eigentlich bedeuten soll, bleibt zumeist unklar. Oft ist er kaum mehr als die bündige Umschreibung der geballten Vorurteile des Betrachters über seine eigene oder eine vergangene Zeit. Die Geschichtswissenschaft hat den Begriff „Zeitgeist“ daher lange Zeit gleichsam mit spitzen Fingern angefasst – solange sich Geschichtswissenschaft in strengem Sinne als Historische Sozialwissenschaft verstand, hielt sie sich lieber an scheinbar handfeste soziale Strukturen und Prozesse, die menschliche Handlungen bestimmen. Zwar trägt jeder einzelne Mensch sein Teil zu sozialen Prozessen...

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