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E-Book

Das autobiographische Gedächtnis

Die Psychologie unserer Lebensgeschichte

AutorRüdiger Pohl
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl252 Seiten
ISBN9783170295421
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
'Wir sind, was wir erinnern': Das autobiographische Gedächtnis erlaubt mentale Zeitreisen in die eigene Vergangenheit und erfüllt damit wichtige Funktionen für unser gegenwärtiges Selbst. Dieses Buch fasst den Stand der psychologischen Forschung zum autobiographischen Gedächtnis in verständlicher und übersichtlicher Form zusammen. Nach einer Einführung in die Gedächtnispsychologie werden Merkmale, Inhalte und Modelle des autobiographischen Gedächtnisses, die neurophysiologischen Grundlagen, die kognitiven Untersuchungsmethoden, der Entwicklungsverlauf über die Lebensspanne sowie die individuellen und sozialen Funktionen dargestellt. Zum Abschluss werden Ursachen für verfälschte Erinnerungen sowie organische und psychogene Gedächtnisstörungen thematisiert.

PD Dr. Rüdiger Pohl arbeitet am Lehrstuhl für Allgemeine und Differentielle Psychologie der Universität Mannheim.

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Leseprobe

Alles Wissen ist Erinnerung.

(Thomas Hobbes, 1588–1679)

1. Gedächtnis und Informationsverarbeitung


Wenn ich nach meinem Beruf gefragt werde und mit „Gedächtnisforscher“ antworte, erhalte ich oft dieselbe Reaktion: Mein Gegenüber fasst sich in einer theatralischen Geste an den Kopf und stöhnt auf: „Oh, da müssten Sie mal mein Gedächtnis untersuchen! Ich vergesse dauernd was. Ich wäre sicherlich ein lohnendes Versuchsobjekt!“ Dabei funktioniert unser Gedächtnis im Allgemeinen höchst zuverlässig (und sehr unauffällig). Nur in den absolut seltenen Fällen, wo es versagt, werden wir uns seiner schmerzlich bewusst, und wenn sich solche Ereignisse dann auch noch zufälligerweise „häufen“ (zwei oder drei am Tag), werden wir schnell skeptisch, was denn mit unserem Gedächtnis los ist. Die meisten Menschen glauben dementsprechend, ein eher schlechtes Gedächtnis zu haben. Dabei ist es völlig normal zu vergessen, wo man seine Brille hingelegt hat. Meine Frau gerät regelmäßig in Aufregung, wenn ihre Schlüssel „weg“ (in den Tiefen ihrer Handtasche verschwunden) sind. Und unser Nachbar nahm kürzlich eine zweistündige Autofahrt auf sich, nur weil er sich – unterwegs auf der Autobahn – nicht sicher war, zuhause die Kaffeemaschine ausgestellt zu haben. Das sind Beispiele für alltägliches Vergessen, die im Einzelnen zwar ärgerlich, insgesamt aber eher harmlos sind und nichts mit Altersvergesslichkeit oder gar Alzheimer-Demenz zu tun haben, wie manche schnell befürchten.

Wenn man einmal von diesen wenigen Ausnahmen absieht, in denen unser Gedächtnis uns im Stich lässt, ist es doch sehr beeindruckend, welch mächtige und zuverlässige Instanz unser Gedächtnis ist: All unser Wissen, das wir je erworben haben, all unsere Erfahrungen, alle Menschen, die wir kennen, unsere Sprache, unsere motorischen Fähigkeiten, unsere Gefühle, Ideen, Vorstellungen und Wünsche – alles basiert auf dem, was wir „Gedächtnis“ nennen. Es sammelt den ganzen Tag weitere Informationen auf und benutzt die vorhandenen, um die neuen zu verstehen und einzuordnen. Dabei wird das Wissen kontinuierlich verändert und zumeist verbessert. Das ist ein ungemein komplexer und dynamischer Prozess, der schon pränatal beginnt und ein ganzes Leben lang anhält. Und es ist wohl nicht allzu vermessen zu behaupten, dass diese Fähigkeit, Unmengen von Informationen zu speichern und bei Bedarf wieder zu nutzen, eine Grundlage des Menschseins schlechthin darstellt. Keine andere Tierart scheint über ein derart umfangreiches Gedächtnis zu verfügen. Ewald Hering (1834–1918), ein deutscher Physiologe, der durch seine Arbeiten auf dem Gebiet der Wahrnehmung berühmt geworden ist, hat dies sehr eindrucksvoll formuliert (Hering, 1905; zit. nach Fleckner, 1995, S. 158 f.):

So sehen wir denn, daß es das Gedächtnis ist, dem wir fast alles verdanken, was wir sind und haben, daß Vorstellungen und Begriffe sein Werk sind, jede Wahrnehmung, jeder Gedanke, jede Bewegung von ihm getragen wird. Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene unseres Bewußtseins zu einem Ganzen, und wie unser Leib in unzählige Atome zerstieben müßte, wenn nicht die Attraktion der Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die bindende Macht des Gedächtnisses unser Bewußtsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt.

In den letzten 150 Jahren (seit den wegweisenden Selbstversuchen von Hermann Ebbinghaus) hat die Psychologie viel über das Gedächtnis und seine Funktionsweisen herausgefunden (und auch, warum es uns manchmal im Stich lässt). Davon ist in diesem ersten Kapitel die Rede. Mit den hier dargestellten Grundlagen soll das Verständnis für die nachfolgende Fokussierung auf das autobiographische Gedächtnis und seine Merkmale erleichtert werden. Relativ kompakte Darstellungen der Gedächtnispsychologie sind in den Lehrbüchern von Anderson (2001) und Becker-Carus (2004) zu finden. Ausführlichere Darstellungen finden sich bei Baddeley (1990, 1997). Sehr lesenswert ist auch ein von Tulving und Craik (2000) herausgegebener Sammelband.

Die Frage, wie denn Informationen langfristig im Gedächtnis aufbewahrt werden können, hat die Menschheit schon lange bewegt. Dazu wird zunächst der Aufbau des Gedächtnisses als Mehrspeichermodell dargestellt (Kap. 1.1). Für die Thematik des autobiographischen Gedächtnisses ist vor allem die kategorielle Unterteilung des Langzeitgedächtnisses relevant (Kap. 1.2) und nach welchen Organisationsprinzipien dieses aufgebaut ist (Kap. 1.3). Anschließend werden die neurophysiologischen Grundlagen und Funktionsweisen des Gedächtnisses dargestellt (Kap. 1.4). Während der Enkodierung, der Speicherung und auch des Abrufs können Veränderungen der verarbeiteten Information stattfinden (Kap. 1.5). Dabei spielen schematische Wissensstrukturen eine wichtige Rolle: So werden neue Informationen anhand dieser Schemata interpretiert, selegiert, abstrahiert und integriert, bevor sie als Gedächtnisspur abgelegt werden. Beim späteren Abruf werden vergessene Teile durch Rekonstruktionen ersetzt (Kap. 1.6). Zum Abschluss des Kapitels werden die Ursachen für „normales“ Vergessen dargestellt (Kap. 1.7).

1.1 Gedächtnissysteme


In der griechischen Mythologie war Mnemosyne (gr. Gedächtnis), eine Tochter des Himmelstitans Uranus und der Erdgöttin Gaia, die Göttin der Erinnerung. In neun Nächten zeugte sie mit Zeus die neun Musen, die das allumfassende Wissen ihrer Mutter unter sich aufteilten. Damit gilt Mnemosyne als die Mutter allen Wissens und Denkens und aller Künste. Diese Sichtweise spiegelt die kaum zu überschätzende Bedeutung des Gedächtnisses wider, wie ich sie oben bereits geschildert habe. Was aber ist denn nun das Gedächtnis? Dazu wurden im Laufe der Zeit vor allem zwei Metaphern berühmt, die der Wachstafel und – über 2000 Jahre später – die des Computers.

Die älteste bekannte Metapher vom Gedächtnis stammt vom griechischen Philosophen Platon (427–347 v. Chr.), einem Schüler des Sokrates. Er verglich das Gedächtnis mit einer Wachstafel, in die mehr oder minder dauerhafte Erinnerungen eingedrückt werden (zit. nach Fleckner, 1995, S. 24):

Nimm also zum Zweck unserer Untersuchung an, in unserer Seele befinde sich eine wächserne Tafel, bei dem einen größer, bei dem anderen kleiner, bei dem einen aus reinerem Wachs, bei dem anderen aus schmutzigerem, hier aus härterem, bei anderen wieder aus weicherem, bei einigen auch aus regelrecht passendem.

Diese Tafel soll nun ein Geschenk der Mutter der Musen, der Mnemosyne, heißen; auf diese Tafel, so nehmen wir an, drücken wir ab, was wir im Gedächtnis behalten wollen [...]. Und was sich da abgeprägt hat, dessen erinnern wir uns und das wissen wir, so lange das Abbild davon sich auf der Tafel erhält. Wenn es aber verwischt wird, oder überhaupt nicht die Kraft gehabt hat, sich abzuprägen, so haben wir es vergessen und wissen es nicht.

Interessanterweise erlaubt diese Metapher auch Erklärungen für individuelle Unterschiede in der Güte des Gedächtnisses und für die beiden wesentlichen Ursachen des Vergessens, mangelhafte Speicherung und spätere Löschung. Die Vorstellung, dass eine Erinnerung auf irgendeiner Art von „Spur“ beruht, hat sich bis heute erhalten. Irgendwie müssen Dinge ja so gespeichert werden, dass sie später wieder gefunden werden können. Auch Aristoteles (394–322 v. Chr.) verwendete diese Metapher und schilderte individuelle Unterschiede (zit. nach Fleckner, 1995, S. 37):

Denn die Bewegung, die das Objekt in dem Sinne hervorruft, zeichnet gleichsam einen Abdruck der stattgefundenen Wahrnehmung ein, wie man beim Siegeln mit dem Ringe tut. Deshalb gibt es auch bei Personen, die aus Leidenschaft oder wegen ihres Alters in starker Bewegung sind, kein Gedächtnis, wie wenn die Bewegung und das Siegel auf fließendes Wasser trifft, während wieder bei anderen sich der Abdruck deshalb nicht bildet, weil sie wie alte Wände zerschlissen und zermürbt sind, oder auch wegen der Härte des der Einwirkung offen stehenden Organs. Ebendeshalb haben sehr junge und sehr alte Leute kein Gedächtnis. [...] Desgleichen sieht man, daß weder Personen sehr lebhaften, noch solche sehr schwerfälligen Geistes ein gutes Gedächtnis haben. Bei den einen herrscht das Feuchte, bei den anderen das Harte ungebührlich vor [...].

Die Idee einer „Spur“ aufgreifend prägte der deutsche Zoologe Richard Semon (1859–1918) am Anfang des letzten Jahrhunderts den Begriff des „Engramms“ (Semon, 1904; zit. nach Fleckner, 1995, S. 206):

In sehr vielen Fällen läßt sich nachweisen, daß die reizbare Substanz des Organismus [...] nach Einwirkung und Wiederaufhören eines Reizes und nach Wiedereintritt in den sekundären Indifferenzzustand dauernd verändert ist. Ich bezeichne diese Wirkung der Reize als ihre engraphische Wirkung, weil sie sich sozusagen in die organische Substanz eingräbt oder einschreibt. Die so bewirkte Veränderung der organischen Substanz bezeichne ich als das Engramm des betreffenden Reizes, und die Summe der Engramme, die ein Organismus besitzt, als seinen Engrammschatz [...].

Das Engramm, und damit auch die alte Idee der Wachstafel, galten lange Zeit nur als Metaphern, da die wirkliche Form der Speicherung im Gedächtnis nicht bekannt war. Gleichwohl gewann der Begriff des Engramms, vor allem durch den Beitrag von Lashley (1950), an Popularität in der Psychologie und auch außerhalb. Erst in den letzten Jahrzehnten haben die Neurowissenschaften das Geheimnis der Speicherung nach und nach entschlüsselt (s....

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