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Chatwins Patagonien. Zur literarischen Konstruktion und Präsentation der Region in Chatwins Werk

AutorNicole Heubach
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl64 Seiten
ISBN9783656920472
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Bachelorarbeit aus dem Jahr 2012 im Fachbereich Kulturwissenschaften - Sonstiges, FernUniversität Hagen (Literaturwissenschaften), Sprache: Deutsch, Abstract: Patagonien war und ist ein von Europäern viel bereistes Land, um das sich zahlreiche Mythen und Legenden ranken. Magellan, Darwin, Forster, Hudson: Sie alle und noch viele andere reisten in dieses - von Europa aus betrachtet - Land am Ende der Welt auf der Suche nach neuen Entdeckungen und Abenteuern, nach Geschichten und Eindrücken. Jeder von Ihnen brachte neue Bilder und Berichte aus dieser Gegend mit nach Hause und prägte damit die europäische Sichtweise der Region. Im letzten Jahrhundert trug ein Autor besonders zur Popularität Patagoniens bei. 1977 veröffentlichte der damals 37-jährige Bruce Chatwin sein erstes Buch In Patagonia, ein Reisebericht mit einer 'mixture of fact, fantasy and folklore', wie es Susannah Clapp in ihrer biografischen Arbeit über Chatwin nennt. Auf den ersten Blick verrät uns der Autor nicht viel über das von ihm bereiste Land. Reiserouten fehlen, Landschaften sind wenn überhaupt nur spärlich beschrieben und es mangelt an Details über geografische Gegebenheiten sowie über die politische und gesellschaftliche Situation. Dafür wimmelt es in diesem Buch nur so von Geschichten: Geschichten von Menschen und ihren Schicksalen, von Abenteurern, Gesetzlosen und Expeditionen, von fabelhaften Tieren und Mythen oder, wie Clapp es beschreibt: 'Basically it's a collage - like a collection of impressions - , memories, histories and stories about Patagonia, loosely bound together by an intermittent first-person narrative, but mostly functioning more or less autonomously.' Die Aufgabe dieser Arbeit wird es sein all diese lose aneinander gefügten Geschichten auf ihre Aussage über Patagonien hin zu analysieren und sie zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenzufassen. Dabei geht meine Arbeit davon aus, dass diese Geschichten keineswegs zufällig auf diese Weise aneinandergereiht wurden, sondern dass der Autor vielmehr ein ganz bestimmtes Bild von dieser Region entwerfen will und alle zusammengefügten Fragmente dazu benutzt, den Leser die Dinge mit seinen Augen sehen zu lassen.

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Leseprobe

4. Chatwins “Patagonia of a mind”


 

Patagonien muss, um als Raum oder Räumlichkeit gedacht und erlebt werden zu können, zunächst erfahren werden. Dazu benötigt man Bewegungsabläufe und Körper in einem Raum sowie damit verbundene Raum- und Bewegungskonzepte. Nur ein erfahrener Raum, der mit Mühe und Arbeit überwunden wurde, kann geschildert werden. Eine Reise ist demnach immer mit der ihr inne wohnenden Aktion der Bewegung verbunden.[55]  

 

Ein erster Blick auf In Patagonia lässt recht schnell erkennen, dass es sich hier nicht um einen konventionellen Reisebericht handelt, der uns das bereiste Land über eine Beschreibung von Landschaften, Landestrachten und vielleicht naturwissenschaftlichen Beobachtungen sowie persönlichen Einschätzungen zur politischen und gesellschaftlichen Lage schildert. Im Gegenteil, all das fehlt. Paul Theroux nennt In Patagonia ein “Buch voller Lücken”, da uns Chatwin Informationen über seinen Reiseverlauf und die Umstände meist vorenthält.[56] Wie aber schildert nun Chatwin den Raum Patagonien, wenn die Reise als solche kaum zur Sprache kommt?

 

Er konstruiert Patagonien aus vielen kleinen Geschichten, aus Begegnungen mit Menschen und gegenwärtigen sowie historischen Ereignissen. Dabei erscheint diese Reise mehr wie eine Bewegung durch die Zeit als innerhalb eines Raumes. Die Geschichte beginnt in der Frühzeit Patagoniens und der Kindheit des Erzählers und zieht sich fort bis in die Gegenwart.[57] Allerdings verläuft die Erzählung keineswegs chronologisch, sondern Vergangenheit und Gegenwart durchmischen sich, Spuren historischer Ereignisse und Personen ragen hinein in das Heute und bieten dem Ich-Erzähler immer wieder neue Fährten. Dabei entstanden sind viele kleine Versatzstücke einer Geschichte, die man als nicht zusammen hängend ansehen kann. Verbunden sind sie auf literarischer Ebene durch die Verwendung zweier struktureller Verfahren. “Das erste, die Verkettung, ist für den Reisebericht in seiner linearen Aneinanderreihung von Erlebnissen und Ereignissen das nahe liegendste Verfahren: Reisender wie Lesender bewegen sich von einem Ort zum nächsten…”[58]

 

Dies ist ein Verfahren, dass wir keineswegs nur bei Chatwin vorfinden. Das besondere bei Chatwin ist allerdings, dass er von einer Begegnung zur nächsten springt, er schaut auf seinem Weg nicht nach links und rechts, sondern führt uns immer mitten hinein.

 

Das zweite von Chatwin angewendete Verfahren ist die Einbettung der Geschichte in  neue Geschichten, die auf vielfältige Weise miteinander verstrickt sind und den Autor immer wieder weiter führen.[59] Es wird der Eindruck erweckt, dass der rote Faden endgültig verloren wurde, viele neue kleine Fäden werden gesponnen und doch führen uns alle diese Fäden am Ende wieder zurück, spiegeln sich ineinander und bedingen sich gegenseitig. Inhaltlich sind sie alle dadurch verbunden, dass Patagonien der Schauplatz ist.

 

Patagoniens Geschichte, das können wir an dieser Stelle bereits erkennen, ist also keine einfache, keine geradlinige Geschichte, sondern eine in sich verschachtelte. Das Gewebe, das Chatwin hier spinnt, ist seine Vorstellung von Patagonien, ein “labyrinthisches Spiegelkabinett”[60], in dem sich der Leser ebenso leicht verlieren kann, wie die von ihm beschriebenen Figuren. Dabei beginnt die Gestaltung Patagoniens schon vor dem eigentlichen Text mit einem Zitat  Blaise Cendrars, der Patagonien eine ihm immanente Traurigkeit zuschreibt. Die Geschichte Patagoniens scheint also keine Geschichte der Freude und des Erfolges zu sein, sondern viel mehr eine Geschichte der Trauer, des Betrauerns und des Misslingens, zumindest ist dies ein Eindruck der uns zu Beginn suggeriert wird.

 

4.1 Wo alles begann: Charley Milward und das Mylodon


 

“Jeder Bericht - sei es einer realen oder fiktionalen Reise hat in dem Maße, in dem er sich nicht einfach einer chronologischen Aneinanderreihung kontingenter Ereignisse begnügt, einen plot, der der Bewegung im Raum eine Perspektive und dem Nacheinander einen Sinn zu geben versucht.” [61]

 

Da gerade eine solche chronologische Aneinanderreihung in In Patagonia fehlt, muss diese Erzählung zwangsläufig eine sinnstiftende Rahmenhandlung aufweisen, die den Lauf der Geschichte  weiterführt. Diese besteht hier in einer Suche, deren Wurzeln sich in der Kindheit des Erzählers befinden. Das erste, was wir über ihn erfahren, ist seine Faszination für ein Stück Haut mit Resten eines rötlichen Fells daran, dass die Großmutter in ihrem Wohnzimmerschrank aufbewahrte.

 

Er beschreibt es als ein “small piece only, but thick and leathery, with strands of coarse, reddish hair. It was stuck to a card with a rusty pin. On the card was some writing in faded black ink, but I was too young then to read.” ( IP, S.5) Dieses Stück Haut stammt aus Patagonien und wurde gefunden von Charley Milward, dem Cousin der Großmutter. Der ersten Berührung des Erzählers mit dem fremden Land liegen also zwei Quellen zugrunde, die miteinander verknüpft sind. Da ist zum einen das Stück Haut, das die Mutter als Stück eines Brontosaurus bezeichnet. Das Kind kann die beigefügte Karte noch nicht lesen und muss demnach glauben, was die Mutter ihm erzählt, bzw. sich eigene Vorstellungen entwerfen.

 

 Zum anderen wird eine enge Verbindung geknüpft zu Patagonien über die Verwandtschaft mit Charley Milward, der Patagonien nicht nur bereiste, sondern sich dort niederließ. “This particular brontosaurus had lived in Patagonia, a country in South America, at the far end of the world. Thousands of years before it had fallen into a glacier, travelled down a mountain in a prison of blue ice [… ]. Here my grandmother’s cousin, Charley Milward the sailor, found it.”(Ebd.)

 

Patagonien erfährt also eine erste Erwähnung als unwirtliches, wildes Land am Ende der Welt voller Gletscher, das dem “Ungeheuer” aus der Frühgeschichte der Erde zum tödlichen Gefängnis wird. Dies erscheint in gleichen Teilen fantastisch und abenteuerlich aber auch bedrohlich. Patagonien wird zu  einer Region, in der sogar ein solch großes Tier nicht überleben kann und am Ende bezwungen wird von der Landschaft, in der es lebt. Laut Daniela Magill gibt es zwei Möglichkeiten, die Begegnung mit dem Fremden erzählerisch zu verarbeiten, indem man sie entweder verniedlicht und verkleinert, um so ein Idyll zu schaffen oder aber sie barbarisiert, das Rohe und Wilde als Gegenentwurf darstellt zur eigenen Zivilisiertheit.[62] Patagonien präsentiert sich uns auf dieser ersten Seite des Buches eher als zweite Variante, als rohe lebensbedrohliche Wildnis. Der Charley Milward in der kindlichen Vorstellung des Erzählers ist demnach auch ein unerschrockener Abenteurer und echter Seebär.[63]

 

Allerdings entspringen alle diese Vorstellungen nur der Fantasie eines Jungen, der Geschichten in seinem Kopf spinnt. Maximilian Ragaller, der sich vor allem mit der Mythenbildung in Chatwins Werk befasst hat, schreibt hierzu: “Dieses kleine Stück Haut setzt die Imagination des Erzählers (erinnertes Ich) in Bewegung. […] Die Welt der Kindheit des Reisenden stellt sich also als imaginierter Kosmos dar, die aus Geschichten besteht, die sich der Erzähler als Kind selbst ausgedacht hat.”[64] So begegnen wir gleich auf den ersten Seiten verschiedenen Geschichten, die sich um Patagonien ranken -  der Geschichte Charley Milwards und natürlich auch der Geschichte des Ich-Erzählers selbst, der uns in seine Kindheit mitnimmt - und wir können an dieser Stelle schon erahnen, wie Chatwin uns Patagonien näher bringen wird, denn, so bemerkt Manfred Pfister, “In Patagonien handelt mindestens ebenso sehr von Phantasien über Patagonien wie über Patagonien selbst.” [65]

 

Zu Beginn allerdings sind alle diese Geschichten dem Geist eines Kindes entsprungen, dass sich seinen eigenen Mythos Patagonien geschaffen hat in Ermangelung  eines realen Bildes. Das ist der Grund, warum hier Patagonien als irreales, phantastisches Gebilde erscheint, in dem man fast jede Geschichte anzusiedeln vermag. Chatwins Patagonien manifestiert sich in diesem Stück Haut, ausgestellt in der Vitrine der Großmutter gleich einem Museumsstück. Auch dem Motiv des Sammelns, Konservierens und Ausstellens werden wir im Buch immer wieder begegnen ( s. Kap. 4.3.2).

 

Die Vorstellungen des Jungen werden in der Gegenwart jedoch nicht erfüllt. Der Brontosaurus entpuppt sich als Mylodon - ein ausgestorbenes südamerikanisches Riesenfaultier - , die Haut wird nach dem Tod der Großmutter weggeschmissen, da man ihr keine Wichtigkeit zumisst und auch Charley Milward wird später das Bild des unerschrockenen Abenteurers nicht erfüllen können.

 

Patagonien indessen hatte sich als Idee im Kopf des Jungen verankert . Im Angesicht des Kalten Krieges und der Entwicklung der Atombombe wird er Mitglied eines...

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