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E-Book

Benjamins Wahlverwandtschaften

Zur Kritik einer programmatischen Interpretation

VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl430 Seiten
ISBN9783518740484
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR


<![CDATA[<p>Uwe Steiner ist Professor f&uuml;r Germanistik an der Rice University in Houston/Texas.</p>]]>

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Leseprobe

Uwe Steiner
Exemplarische Kritik
Anmerkungen zu Benjamins Kritik der Wahlverwandtschaften


I.


Wie Goethes Roman stellt auch Benjamins den Wahlverwandtschaften gewidmeter Essay den Leser vor erhebliche Verständnisschwierigkeiten. Ob absichtlich herbeigeführt oder dem Überlieferungsprozess geschuldet – angesichts fehlender Zeugnisse zur Entstehungsgeschichte sieht er sich damals wie heute ausschließlich auf den jeweiligen Text verwiesen.[1] Daran ändert auch der dennoch bemerkenswerte Umstand nichts, dass sich im Nachlass Goethes eine schematische Gliederung des ersten Teiles des Romans erhalten hat, der im Nachlass Benjamins eine Disposition entspricht, die den Aufbau seiner Abhandlung stichwortartig vergegenwärtigt. Die Leseanweisungen, mit denen Goethe in Gestalt der Selbstanzeige sowie in zahllosen Briefen und Gesprächen die Rezeption seines Romans zu steuern versuchte,[2] weisen keinen Weg aus dem Dilemma; sie sind vielmehr dessen reinster Ausdruck. Im Verlust der Autorität des Autors über sein Werk kündigt sich die Zuständigkeit des Kritikers an. Dessen Autorität bedarf weder der Sanktion durch den Autor, noch beruht sie auf Initiation. Ihre Legitimität leitet die Kritik nicht aus dem ab, was der Autor über sein Werk zu sagen hat, sondern aus dem Umstand, dass er sich zu seinem Werk äußert. »Das Verständnis der Wahlverwandtschaften aus des Dichters eigenen Worten darüber erschließen zu wollen«, so Benjamin, »ist vergebene Mühe« (I.1, 145). Aus der Sicht des Kritikers stellt sich das Werk nicht als ›Eigentum‹ des Autors dar, der frei nach dem Vico-Axiom verum et factum convertuntur aus seiner Autorschaft die alleinige Deutungskompetenz herleitet; vielmehr legt das Werk umgekehrt »Zeugnis« von seinem Autor ab, von dem es sich entfernt hat, um Teil der Geschichte zu werden. Als Zeugnisse betrachtet der Kritiker die Werke aus der Perspektive ihres »Fortlebens«. In Benjamins ›Lehre vom Leben und Fortleben der Werke‹, von der in seinen Schriften um 1920 wiederholt die Rede ist, geht es nicht etwa um die Grundlegung einer Theorie der Rezeptionsgeschichte, sondern um die eigentümliche Form der Geschichtlichkeit von Kunstwerken.[3] Auch diesem theoretischen Desiderat trägt Benjamin mit seiner Bemerkung Rechnung, die zugleich für seine Auffassung der Kritik von grundlegender Bedeutung ist, dass nämlich »überall, wo sich die Einsicht auf Gehalt und Wesen richtet, das Werk durchaus im Vordergrunde stehn« muss (I.1, 155). Es mag sein, dass Benjamins Abhandlung in ihrer »gedanklichen Komplexität und sprachlichen Schönheit« gleichrangig neben Goethes Roman steht;[4] doch bleibt die Frage, ob das für oder gegen die Abhandlung spricht, die Benjamin ausdrücklich als eine Kritik bezeichnet hat. Dass es kaum einen Leser geben wird, dem der sentenzenhafte Schlusssatz des Essays »leicht wieder aus dem Sinn kommt«,[5] kann sowohl auf Verständnis als auch auf Unverständnis des Diktums beruhen und stellt dem Essay ein eher bedenkliches Zeugnis aus. Dass der Schriftsteller, wie Benjamin an anderer Stelle notiert, »an der Sprache […] den Prüfstein seiner Denkkraft« besitzt,[6] bietet keine Gewähr dafür, dass er sich verständlich ausdrückt. Hier wie in der polemischen Auseinandersetzung mit Gundolf[7] geht es Benjamin nicht um die rhetorisch-stilistische Qualität von Texten. Der Vorwurf, Gundolfs Buch sei »ein veritables Falsifikat von Erkenntnis«, moniert nicht mangelndes Ausdrucksvermögen, sondern unklare Begrifflichkeit.[8]

Benjamin selbst hat auf »gewisse Dunkelheiten« in seinem Essay über die Wahlverwandtschaften aufmerksam gemacht, die die »Forcierung von Einsichten« zur Ursache hätten, also auf Unklarheit beruhten, was ihn jedoch nicht davon abgehalten hat, seine Einsichten in einer ihren Grenzen Rechnung tragenden Weise darzulegen.[9] Bereits Friedrich Schlegel hat sich in seiner paradoxen Rechtfertigung der Unverständlichkeit dagegen gewandt, »den Grund des Unverständlichen […] im Unverstand« zu suchen. Bedenkenswert schien ihm, »dass die Worte sich selbst oft besser verstehen, als diejenigen von denen sie gebraucht werden. […] Dass man die reinste und gediegenste Unverständlichkeit gerade aus der Wissenschaft und aus der Kunst erhält, die ganz eigentlich aufs Verständigen und Verständlichmachen ausgehen, aus der Philosophie und Philologie.«[10] Damals wie heute steht nicht zu befürchten, »dass die ganze Welt […] einmal im ernst durchaus verständlich würde«.[11] Da Unverständlichkeit offenbar unvermeidbar ist, kann es nur darum gehen, ihre Unvermeidbarkeit zu verstehen.

II.


Der Text, den Benjamin ursprünglich zur Veröffentlichung in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Angelus Novus vorgesehen hatte, hat zu Lebzeiten kaum über den erweiterten Freundeskreis hinausgehende Beachtung gefunden, innerhalb desselben aber seinem Autor größten Respekt und höchste Anerkennung eingebracht. Nach dem Scheitern des Zeitschriftenprojekts erschien der umfangreiche Essay schließlich 1924/25 in zwei Teilen in den von Hugo von Hofmannsthal herausgegebenen Neuen Deutschen Beiträgen. Die Verbindung zu Hofmannsthal hatte Florens Christian Rang hergestellt, dessen Interpretation von Goethes Gedicht »Selige Sehnsucht« aus dem West-Östlichen Divan zwei Jahre zuvor ebenfalls in den Neuen Deutschen Beiträgen erschienen war.[12]

Die hohe Wertschätzung, die Hofmannsthal dem Essay zuteilwerden ließ, ist umso bemerkenswerter, als es sich um die Arbeit eines ihm unbekannten Autors handelte. In seinem Schreiben an Rang, das er offenbar noch ganz im Bann der Lektüre verfasst hatte, hebt Hofmannsthal an dem »schlechthin unvergleichlichen Aufsatz […] die hohe Schönheit der Darstellung bei einem so beispiellosen Eindringen ins Geheimnis« hervor. In dieser Schönheit, die »aus einem völlig sicheren und reinen Denken« entspringe, zeigt sich Hofmannsthal zugleich »der Zusammenhang tiefster Art« mit der Gedankenwelt Rangs.[13] In einem späteren Schreiben führt er diese Gemeinsamkeit auf eine Auffassung von Philologie zurück, die »mit tiefstem, entscheidenden Ernst: als eine wahre Geisteswissenschaft, und religios« betrieben werde, »d. h. von dem Glauben beseelt, daß Wahrheit sei«.[14]

Tatsächlich stand Benjamin der Geistesart Rangs ebenso reserviert gegenüber wie der Gedankenwelt Hofmannsthals, der es sich in den Beiträgen zum Ziel gesetzt hatte, dem »ungeheuren Zusammensturz einer geistigen Welt«, wie er ihn sich in der Gegenwart vollziehen sah, den »Blick auf jenes Feste, Unerschütterliche geistiger Ordnung« entgegenzuhalten.[15] Den Gedanken einer Überwindung der Zerrissenheit der Gegenwart im Namen nicht der Freiheit, sondern der Bindung an die geistige Tradition hat Hofmannsthal 1927 in das Zentrum seiner Münchner Rede gestellt.[16] Deren Titel Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation ist programmatisch zu verstehen. Die Besinnung auf die Tradition, für die es in der Gegenwart deutliche Zeichen gebe, ziele zwar auf »eine neue deutsche Wirklichkeit«, sprenge aber in Umfang und Bedeutung selbst europäische Maßstäbe. Der Begriff der »konservativen Revolution«, in dem Hofmannsthal seine Überlegungen resümierte, sollte bald eine weit über den Entstehungskontext hinausgehende Bedeutung erlangen.[17]

Was Rang anbelangt, so war Benjamin in seiner Beurteilung von dessen Aufsatz über die »Selige Sehnsucht« zu einem dem Hofmannsthals diametral entgegengesetzten Ergebnis gelangt; dem Abdruck der Abhandlung in den Neuen Deutschen Beiträgen war Benjamins Ablehnung vorausgegangen, ihn in seinem Angelus Novus zu veröffentlichen. In einem Brief an Gershom Scholem hat er die Gründe seiner Ablehnung erläutert: Demnach galten seine Bedenken vor allem der als »unerträglich« empfundenen Sprache des Aufsatzes, der gnostizistischen Metaphysik, auf der sein Gehalt beruhe, sowie dem Umstand, dass Rang dem »eigentlich Dichterischen« an diesem Gedicht »nicht voll gerecht« werde und in Verkennung der Aufgabe eines echten Kommentars, »was er über das Gedicht sagt […] vielfach auf Kosten des Gedichts« sage. Diesen Einwänden zum Trotz bescheinigt er der Arbeit, »sowohl über das Gedicht wie insbesondere über die Bedeutung des Divan als Gesamtwerk außerordentlich tiefe, sehr wesentliche und bisher meines Wissens niemals geahnte Einsichten« zu enthalten.[18]

Scholem hat in seinem Erinnerungsbuch darauf hingewiesen, dass in der Zeit der Niederschrift des Essays Benjamins Ehe eine krisenhafte, schließlich zum Scheitern führende Wende nahm, die in Ursache und Verlauf Parallelen zur Romanhandlung aufwies. Obwohl der biographische Kontext allenfalls ein mögliches Motiv für die Niederschrift, nichts jedoch zum Verständnis der Abhandlung beiträgt, hat die frühe Rezeption sich durch Scholems biographischen Hinweis in ihrer Auffassung bestätigt gesehen, dass Benjamins Kritikauffassung durch persönliche Idiosynkrasien und ein hohes Maß an subjektiver Willkür geprägt sei.[19] Seine Bemerkung, dass der Wahlverwandtschaften-Aufsatz eine »Wendung in Benjamins geistigem Leben« eingeleitet habe, nämlich diejenige »vom systematisch ausgerichteten Denken zum kommentierenden«, beruft sich auf die »Bedeutung des Kommentars im jüdischen Schrifttum«, die tief in Benjamin angelegt gewesen sei.[20] Scholems Beobachtung wird durch das Eingeständnis nicht eben plausibler, dass er damals wenig von Goethe gelesen hatte und »ästhetische Theorie« ihn nicht...

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