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Creatures

Aufsätze zu Homosexualität und Literatur

AutorLinck Dirck
VerlagMännerschwarm Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl236 Seiten
ISBN9783863002268
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Seit vielen Jahren folgt Dirck Linck den literarischen Spuren kreativer Außenseiter: von Alexander von Ungern-Sternbergs 'Physiologie der Gesellschaft' über Hans Henny Jahnns Fehlentwicklungsroman 'Perrudja' bis zum Erscheinen des Popkörpers in den Sechzigerjahren und künstlerischen Reaktionen auf die Aidskrise - Hubert Fichte und Josef Winkler nicht zu vergessen. Immer wieder geht es darum, dem Zwang zur Vereindeutigung die Freiheit von Vermischung und Verwandlung entgegenzusetzen, sei es im Umgang mit Geschichte und gesellschaftlichen Verhältnissen, sei es auf Reisen in fremde Kulturen, sei es als Auflehnung gegen die Gewalt von Familie und Norm. Lincks Aufsätze blasen frischen Wind durchs Gehirn und bringen vielleicht sogar saturierte Nordeuropäer wieder ein bisschen in Schwung.

Dirck Linck, Dr. phil. Nach einem Studium der Germanistik und der Geschichte an den Universitäten Hamburg und Hannover wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt 'Homosexualität und Literatur' der Universität-GH Siegen sowie anschließend am Sonderforschungsbereich 'Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste' der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 1996-2007 Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift 'FORUM Homosexualität und Literatur'. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zu queerer Kunst, Ästhetik, Pop-Literatur und Literaturgeschichte. Lebt in Berlin.

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Leseprobe

«Welches Vergessen erinnere ich?»


Zum Umgang der aufklärerischen Ästhetik mit einem Tabu


Für Peter Sonntag

Geschichtsschreibung sieht sich angewiesen auf das Produktionsvermögen Erinnerung. Wir beziehen uns, die Gegenstände der Historiographik legen dies nahe, auf das, was wir erinnern, nicht auf das, was wir vergessen haben. Der Geschichtsschreiber kann aber im Auge behalten, dass er vergisst. Dass er womöglich das Wichtigste vergessen hat. Wir wurden statt dessen daran gewöhnt, uns das Gedächtnis nach dem Modell eines Speichers vorzustellen, in dem Wichtiges aufbewahrt wird. Was nicht aufbewahrt wurde, kann nicht wichtig gewesen sein. Das konnte man vergessen. Mittels dieses Speichermodells gelingt es, aus uns Ähnlichem und uns Unähnlichem einen historischen Raum der Notwendigkeiten und Kausalitäten zu konstruieren, in dem der Punkt unserer jeweiligen Gegenwart immer sinnvoll mit lokalisierbaren Punkten der Vergangenheit verbunden ist. Diese sinnstiftende Form des Erinnerns (Hubert Fichte spricht vom Ich, das im «Drehstuhl» sitzt und «eine überwundene Zeit»1 überschaut) bestimmt sowohl den Umgang einzelner als auch den Umgang von Gemeinschaften mit ihrer Vergangenheit. Elegische Zeitreflexion versenkt sich in den Schmerz, den das immer neue Abschiednehmen vom glücklichen Moment der Gegenwart bedeutet. Vergangenes Leid mildert sich im Rückblick aus einem glücklichen Jetzt. Vor allem aber: Sich als allzeit avanciert begreifende Modernität versichert sich rückblickend ihrer Erfolge bei dem Versuch, Unzeitgemäßes abzustoßen. Der Erinnernde im «Drehstuhl» führt sich auf diese Weise selbst gedanklich zurück auf die Straße des Erfolgs, die ihn so herrlich weit gebracht hat. Fichte hielt nicht viel von der «Sprache unserer Siegeranalysen und Siegersynthesen»;2 sie teile die Welt in Entwickelte und Unterentwickelte. Die Unterentwickelten müssen Entwicklung nachholen. Keiner hat den Konformismus solcher Geschichtsschreibung schärfer und verzweifelter kritisiert als Walter Benjamin in seinen – gegen die Sozialdemokratie formulierten – Geschichtsphilosophische[n] Thesen, in denen er den «Engel der Geschichte» auf «eine einzige Katastrophe» zurückblicken lässt. Benjamin warnt vor der Einfühlung in den historischen Sieger:

Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. […] Der Konformismus, der von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch gewesen ist […], ist eine Ursache des späteren Zusammenbruchs. Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom.3

Und es gibt nichts, was die Schwulenbewegung, was ‹uns› in dem Grade zu korrumpieren vermag wie diese Meinung. Eine Geschichtsschreibung der Sieger scheidet den integrierten und auf Integration bedachten (europäisch-amerikanischen) Schwulen der Gegenwart vom unterdrückten Homosexuellen der Vergangenheit und zugleich von der mitlebenden Klemmschwester, der exzentrischen Tunte, dem aufgeputzten Ledermann, den Homosexualitäten der großen Rest-Welt. Der auf Gleichheit und ‹Normalität› pochende Schwule liefert den Maßstab, an dem Tunte und Klemmschwester und überhaupt alle sich gefälligst orientieren sollen.4

Siegergeschichte aber erschwert Selbst- und Zeitreflexion: Ausgeblendet bleibt hier nämlich, in welchem Ausmaß die Erinnerung ein Prozess ist, der das keineswegs überwundene Vergangene ständig verändert und herstellt. Fritz Mauthner nannte die Anstrengung der Erinnerungskraft «journalistisch im höchsten Sinne».5 Ihr Interesse sei immer das des Tages, also der Gegenwart.6 Noch dort, wo Erinnerung sich unwillentlich einstellt, passt sie die Gelegenheit des aktuellen Augenblicks ab, um mit Vergangenem gegen die Idee vom Fluss der Zeit zu intervenieren. Die Vorstellung vom Gedächtnis als Speicher lässt nicht zu Bewusstsein kommen, dass Vergangenes im Heute nicht nur aufgehoben, sondern auch wirkend präsent ist, als Ungleichzeitigkeit nämlich. Adorno hat in Minima Moralia deshalb Jean Pauls Satz von den Erinnerungen, die uns niemand nehmen könne, ausdrücklich nicht zugestimmt. Adorno gibt zu bedenken, dass auch «die seligste Erinnerung» widerrufen werden könne «durch spätere Erfahrung».7 Weil Erinnerungen zerstörbar sind und sich wandeln, warnt Adorno davor, ein «Archiv seiner selbst» anzulegen; dabei nämlich beschlagnahme

das Subjekt den eigenen Erfahrungsbestand als Eigentum und macht ihn damit wieder zu einem dem Subjekt ganz Äußerlichen. […] Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht unaufhörlich das Vergangene sich mit dem Gegenwärtigen. […] Gerade wo sie beherrschbar und gegenständlich werden […], verschießen die Erinnerungen wie zarte Tapeten unterm grellen Sonnenlicht.8

Homosexuelle haben zwei Geschichten: eine, in der sie sich nicht wiederfinden, und eine, die sie nicht finden. Nicht wiederfinden können und wollen sie sich in der Geschichte des wollüstigen Sodomiten, des kranken Päderasten, der unglücklichen Tante mit starker Mutterbindung. Nicht finden können Homosexuelle in den Archiven eine eigene Geschichte mit eigenen Bildern, Überlieferungen, Wörtern. Ihre Geschichte ist zusammengesetzt aus Wörtern und Bildern, die nicht von ihnen gemacht wurden, mit denen sie aber gleichwohl gelebt und gearbeitet haben. Darüber lässt sich reden. Das Eigene liegt dann in der Art und Weise des Umgangs mit dem Fremden. Alternativ hat sich die Vorstellung herausgebildet, es ließe sich der Geschichte absagen, es ließe sich eine Gegengeschichte schreiben, die zu zeigen vermag, wie ‹wir› wirklich sind, und die in der Selbstdarstellung ohne die fremden Wörter und Bilder auskommen könne. Homosexuelle, die beginnen, sich ihre vorenthaltene Geschichte zu erarbeiten, laufen wie die Angehörigen anderer gesellschaftlich marginalisierter Gruppen Gefahr, dabei fundamentalistisch zu werden. Emanzipationsgeschichte wird so in doppelter Weise zu einer Siegergeschichte des Vergessens: Sie vergisst aktualisierbare historische Alternativen, die sich bislang nicht durchsetzen konnten, und sie vergisst, dass jene Formen der Homosexualität und des Redens über Homosexualität, die sich als ‹emanzipativ› durchgesetzt haben, tief geprägt sind von den Verhältnissen, in denen sie sich durchsetzen konnten.

Ich habe, als ich mich auf die Mitherausgabe einer lesbisch-schwulen Literaturgeschichte vorbereitete und erneut die Texte einer öffentlich werdenden Rede der Homosexuellen las, die Schriften von Karl Heinrich Ulrichs zum Beispiel und die von Magnus Hirschfeld, ich habe mich, als ich das alles las, an Kafkas Rotpeter erinnert. Diese Texte und jene literarischen Werke, die in ihrem Kontext entstanden, sind beinahe allesamt Berichte für eine Akademie. – Nur dass der zivilisierte Affe Rotpeter beim Berichten bedenkt, was ihm passiert ist.

Rotpeter lehnt höflich das Ansinnen der Akademie ab, er möge doch vom «äffischen Vorleben»9 berichten. Nicht, dass er etwas zu verschweigen hätte. Rotpeter hat die «Erinnerungen der Jugend» vergessen, und er weiß, dass seine erfolgreiche Entwicklung, die ihn erst berechtigt, in einer Akademie zu sprechen, «unmöglich gewesen [wäre], wenn ich eigensinnig an meinem Ursprung hätte festhalten»10 wollen. Er hat sich auf die Höhe einer fortgeschrittenen Kultur gebracht, indem er sich mit ihr synchronisierte. Rotpeter erinnert sich genau an ein Vergessen. Entwicklung ist, gibt er der Akademie zu verstehen, nur durch den «Verzicht auf jeden Eigensinn»11 zu haben. Und Rotpeter weiß, dass er sich nicht freiwillig synchron schaltete. Er redet von Machtverhältnissen. Ehemals «freier Affe» von der Goldküste, war er eingefangen worden und hatte seine Entscheidung, wie es weitergehen sollte, in einem Käfig zu treffen. Der stand im Bauch eines Schiffs, das ihn in die Kultur brachte, nach Europa. Der Entscheidung Rotpeters blieb also «immer vorausgesetzt, daß die Freiheit nicht zu wählen war».12 Rotpeter redet über «Auswege». Einer wäre das freie Meer gewesen. Auf dem hätte er ein Weilchen geschaukelt und wäre dann ersoffen. Die beiden anderen Auswege sind: «Zoologischer Garten oder Varieté».13 Der Zoo steht für erneutes Käfigleben. Rotpeter geht zum Varieté und lernt. Er lernt, Menschen nachzuahmen. Er lernt, was in einem Varieté zu lernen ist: Dinge zu tun, die niemand freien Willens tun würde. Manchmal verbrennen die Menschen ihm das Fell, damit er schneller lerne. Im Wesentlichen aber lernt er, um aus dem Käfig herauszukommen. Er lernt «rücksichtslos», weil er muss, das Spucken zuerst, dann das Schnapstrinken, vorzüglich aber den Handschlag, denn der «bezeugt Offenheit».14 Wer in menschlicher Gesellschaft leben will, begreift Rotpeter, muss stilisierte Kommunikationsweisen beherrschen, die Distanz überbrücken. Er muss, will er gegen ihn gerichtete Aggressionen abwehren, sein verhülltes Inneres auf entwaffnende Weise in eine äußerlich erkennbare Erscheinungsform des Verhaltens bringen, den Handschlag. Um die Menschen davon zu überzeugen, dass er kein unberechenbarer Affe mehr ist, muss er Menschenverhalten glaubhaft nachahmen können. Das – sich durchschaubar zu machen und sich als Jedermann zu inszenieren – müssen schwule Rotpeter, die Integration wollen, im gesellschaftlichen Zirkus auch lernen. Sehr erwünscht ist, dass sie in ihrer Rolle aufgehen. Mit seiner Kunst, dank seiner Kunststücke macht Rotpeter jene Karriere, die ihn geradewegs in die Akademie führt. Er wiederholt aber eigensinnig: «Es...

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