QUELLE
1. Wünsche
An die Westküste der USA bin ich schon hundertmal gereist. San Francisco! Ich liebe San Francisco! Ich komme aus dem Terminal, nehme einen tiefen Atemzug. Der klare Wind vom Pazifik packt mich wieder. Bamm! – wie beim ersten Mal. Ich fühle mich hier so zu Hause wie nirgendwo anders auf der Welt. Und jahrelang war es dann sofort wieder da: Ich muss hier leben! Ich will hier leben! Jedes Mal! Und jedes Mal war ich dann wieder total gefrustet. Denn auch diesmal war ich nur zu Besuch da.
Alle Ihre Wünsche gehen in Erfüllung, wenn Sie nur richtig daran glauben. Das hören Sie heute an jeder Ecke: Stellen Sie sich den Wunschzustand nur gut genug vor, und machen Sie Ihre Affirmationen, dann werden sich Ihre innigsten Träume manifestieren. Formulieren Sie: Ich wünsche mir, dass ich heute 1 000 000 Euro verdiene! Zack! Ich wünsche mir, heute in mir zu ruhen! Simsalabim. Ich wünsche mir, dass der Mann meiner Träume mir heute über den Weg läuft. Abrakadabra! Die herrschende Meinung ist, dass formulierte Wünsche oder Zukunftsvorstellungen wie ein Zauberspruch wirken, die den Wunsch mühelos in Realität verwandeln. Manche Ansätze begründen das energetisch, andere mit der selektiven Wahrnehmung, und wieder andere mit dem Gesetz der Resonanz. Ich sage nur: Glauben Sie diesen Unsinn nicht.
Wünschen können Sie sich alles, aber …
… um es zu bekommen, müssen Sie in der Regel auch etwas tun. Klar, die Vorstellung, wir müssen nur ein wenig tagträumen und schon bekommen wir alles, was wir wollen, ist angenehm. Darum glauben wir gern daran, selbst wenn die Erfahrung etwas ganz anderes zeigt. Allerdings ist die Schönheit der Vorstellung nicht der einzige Grund, warum wir so anfällig sind für dieses Versprechen. Der tiefere Grund ist folgender: In diesem Wunsch-Ansatz steckt ein uralter kindlicher Glaube.
Sie kennen sicher die Szene aus dem Supermarkt, wenn Sie an der Kasse hinter jungen Eltern stehen. Was macht das kleine Kind? Es greift nach allem, was nicht niet- und nagelfest ist. Und es will. Mama, ich will Schokolade! Papa, ich will Kaugummi! Mama, ich will Spielzeug! Will ich! Will ich! Will ich! Und Mama und Papa versuchen mit vollem Einsatz und viel Liebesmüh, den Kleinen davon abzuhalten, die Regale leer zu räumen.
So kommen wir nicht auf die Welt. Geboren wird der Mensch ohne das »Ich will!«. Als Säugling kommen Sie aus einem symbiotischen Zustand. Sie sind noch fest an den Mutterleib gebunden und bleiben das gewissermaßen auch die ersten zehn Monate, nachdem Sie das Licht der Welt erblickt haben. Der Säugling hat kein Ich. Säuglinge sind einfach. Und genau das rührt uns an Babys so an. In dieser Zeit wollen Sie nicht. Sie liegen da und sind meist zufrieden, egal, was um sie herum passiert. Warum das so ist? Weil ihr Ego noch nicht herausgebildet ist.
Für Babys gilt nicht: ich bin. Sondern: sein. Innocent soul. Die Entwicklung Ihres Ichs setzt erst zwischen dem 12. und 24. Monat ein. Aber dann legt das kleine Ego mächtig los, das Kind-Ich kommt raus und sagt: »Ich will!« Und wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, fangen sie an, wie ein Mini-Berserker zu schreien. Normalerweise wachsen Sie irgendwann aus diesem instinktiven Verhalten heraus wie aus Ihren Kinderklamotten. Schaffen aber nicht alle.
Adulte Kinder sehen Sie immer dort, wo Menschen ihr Lebensglück an die Erfüllung ihrer Wünsche ketten. Ich will eine Apple Watch. Und wenn ich die nicht sofort bekomme, dann schreie ich meine Frau an, warum wir ausgerechnet jetzt in den teuren Urlaub fahren müssen. Oder Sie rennen ins Büro Ihres Chefs und fragen ihn, warum er in den letzten zwei Jahren Ihr Gehalt nicht mehr erhöht hat! Wie ein kleines Kind. Ich! Ich! Ich! Will! Will! Will! Im Alter von zwei Jahren können Sie das machen, ja. Aber nicht mehr mit 36. Tun Sie es doch, ist es nichts anderes als Attachment! Eine Überidentifikation mit dem Wunsch. Sie denken, Ihnen wird etwas von Ihrer Persönlichkeit genommen, wenn Sie nicht bekommen, was Sie sich wünschen.
Und wenn Sie nach allen Protesten merken, dass Sie es tatsächlich nicht bekommen, dann hören Sie früher oder später auf, zu wünschen. Nach dem Motto: Wer nichts erwartet, kann nicht enttäuscht werden. Das ist pure Schmerzvermeidung, eine logische Folge aus der immer wiederkehrenden Erfahrung: Ich kann mir wünschen, was ich will, ich bekomme es eh nicht!
Ist es aber wirklich besser, nichts mehr zu wünschen?
Helmut Schmidt hat einen prägnanten Aphorismus über das Wünschen geprägt: »Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen!« Wer heute diesen Schmidt-Klassiker zitiert, meint so viel wie: nicht zu hoch fliegen. Immer schön auf dem Boden bleiben. Die Wünsche dieser Menschen wurden einmal zu oft enttäuscht. Und mit der Anzahl der Enttäuschungen fallen entsprechend die eigenen Erwartungen.
Jetzt setzt die Enttäuschungsprophylaxe ein. Bedeutet: von vornherein aufgeben. Fragen Sie mal einen beliebigen Bürger auf der Straße nach seinen Wünschen. Was kommt da? Der guckt Sie vermutlich an wie ein Auto. Das Gros der Menschen hat aufgehört, sich etwas zu wünschen. Und wenn Sie sich etwas wünschen, dann nur ganz kleinlaut: »Ich wünsche mir, dass heute nichts schiefgeht.« »Ich wünsche mir, dass ich gesund bleibe.« Limitierender geht es nicht. Sie können es Menschen ansehen, die sich nichts mehr wünschen, außer ein Feierabendbier und: »Hoffentlich läuft was Gutes in der Glotze heute Abend.« Sie sind grau. Sie sind innerlich leergespült.
Nur nichts erwarten – das ist praktisch gelebter Nihilismus. Im Nihilismus ist alles gleichgültig-grau. Wer reif ist, so lautet die Vorstellung, wünscht sich nichts mehr. Der zieht weder das eine vor, noch lehnt er das andere ab. Hinfallen ist genauso erstrebenswert wie Aufstehen. Staub ist ebenbürtig zu einem guten Steak. Alles ist gleich. Alles ist eins.
Dazu sage ich nur: Das ist falsch verstandene buddhistische Equanimity. Wenn Sie sich so auf die Welt einstellen, dann ist Ihr Herz kalt. Dann sind Sie zu einem Stein geworden. Außerdem erreichen Sie gar nichts mehr, denn Sie schaffen sich ein Labyrinth ohne Ausgang. Wie wollen Sie Ihre Ziele erreichen, wenn Sie nicht mehr priorisieren können, weil Ihnen alles gleich viel wert ist? Apfel oder Birne, Fisch oder Fleisch – Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie wollen. Und das geht nicht, wenn Ihnen alles gleich viel wert ist.
Wie wichtig das Wünschen ist, das habe ich vor ein paar Jahren während eines Retreats gelernt. Ich war damals schon seit Längerem unglücklich in eine Frau verliebt. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass wir ein Paar werden. Und gleichzeitig war mir eigentlich klar, dass es wohl nie klappen wird. Da saß ich nun mit meinen unerfüllten Wünschen. Und mit viel Schmerz. Blödes Wünschen! Dann doch lieber buddhistische Equanimity! Und da sprach mein großer Lehrer A. H. Almaas zu uns über das Wünschen: »The heart is longing! The heart is desiring! It’s so juicy! What a delight! This longing is an expression of the aliveness of the heart.« Du darfst dir was wünschen. Es ist gut, wenn du dir was wünschst. Dein Herz ist lebendig, wenn du dir was wünschst. Das Wünschen ist ein Ausdruck deiner Lebendigkeit. Herzlichen Glückwunsch, dass Sie wünschen können!
Für mich war das damals eine große Erleichterung, als ich diese Worte gehört habe! Trotz all meines Liebeskummers habe ich begriffen:
Wünschen hält lebendig!
Der Think-big-Glaube der US-Amerikaner gilt hierzulande als ziemlich durchgeknallt. Wo ein Deutscher sagen würde: Wir bauen die Brücke nach Maßgabe aller Normen und berücksichtigen alle Interessen, sagt der US-Amerikaner schlicht, wir bauen die beste, größte und höchste Brücke der Welt. Von dieser Art positiver Vision können wir uns eine Scheibe abschneiden. Denn Visionen sind ganz normal! Das ist wissenschaftlich erwiesen. Eine Vision bedeutet nichts anderes, als sich ein bestimmtes Bild von der Zukunft zu machen. Und unser Gehirn produziert permanent Bilder der Zukunft. Und was machen die meisten Menschen aus dieser Chance? Sie machen sich Sorgen! Sie verbringen den Tag damit, an das zu denken, was nicht alles Schlechtes passieren kann. Why? What’s the point?
Machen Sie es besser! Stellen Sie sich Ihre Zukunft so vor, wie Sie sich die Zukunft wünschen. Zeichnen Sie sich ein eigenes, positives Wunschbild, einen Polarstern zum Ausrichten Ihres Lebens. Das gibt Ihnen eine andere Orientierung, als zu sagen: Hoffentlich fällt mir kein Kühlschrank auf den Kopf. Wünschen Sie wie ein Kind drauflos! Das erhält Ihre Lebensfreude.
Aber identifizieren Sie sich nicht mit Ihrem Wunsch. Ketten Sie sich nicht daran, dass Ihre Wünsche erfüllt werden. Denn auf die Erfüllung haben Sie nur begrenzt Einfluss. Es gibt nur einen Weg: die Realität anerkennen, inklusive der Enttäuschung, wenn sich die Wünsche mal nicht erfüllen. Aber lassen Sie sich davon nicht kleinkriegen: Halten Sie Ihr Wünschen aufrecht. Halten Sie Ihr Herz lebendig. Denn wenn Sie sich nichts mehr wünschen, dann sind Sie tot.
Morgengrauen in München. Ich stehe vom Schreibtisch auf und gehe zum Fenster. Die Heizung läuft. Die Sonne schafft es nicht, die Wolken zu vertreiben. Es hängt Raureif auf den Bäumen. Wie klasse wäre jetzt San Francisco? 20 Grad Celsius, Sonnenschein, blauer Pazifik, die Männer in T-Shirts, die Frauen in Tops. Ich wäre gerne dort. Ich spüre, wie mein Herz zu hüpfen beginnt bei der Vorstellung. The juiciness of the heart. Und jetzt bin ich hier. Und genieße meinen heißen Tee....